Während das katholische Oberhaupt Franz I. lustvoll mit kommunistischen Parolen (kleiner Scherz!) die Medienwelt und die eigene Kirche aufmischt, haben die konfessionellen Konkurrenzorganisationen eine große Parallelaktion nach dem Muster von Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ gestartet. Da wird derzeit ganzjährig ein karnevalistisch buntes „Lutherjahr“ gefeiert – das 500jährige Reformationsjubiläum.
Die Schlingel der Evangelischen Jugend des Rheinlandes missverstanden die recycelte Frohbotschaft als Aufforderung zu Schabernack und erlaubten sich einen Gag mit Luthers berühmtester Sentenz: „Hier stehe ich und kann nicht anders.“ Der Satz wurde auf tausende Kondomverpackungen gedruckt. Die Kirchenleitung, nicht so richtig locker drauf, erschrak und untersagte die Verteilung.
„Gott eine Frau, die auch tanzt“
Es muss seriös sein, dachten sich die Erwachsenen in der Kirche des Rheinlands. Sie sind wegen ihrer kühnen Modernität bekannt und prämierten aktuell die Nachwuchskünstlerin Kristina Stoyanova im Rahmen des Kunstprojekts „reFORMation – transFORMation“ für das Bild „Gott eine Frau, die auch tanzt“ – installiert unter der Orgel der Düsseldorfer Johanneskirche, gegenüber dem Altarraum mit Kruzifix, eine, wie die Laudatio ausweist, „Konfrontation der Gottesbilder“. Tiefsinn pur! Kann man noch einige Wochen bewundern. Wenn das nicht Beuys gefallen hätte …So richtig bekannt wurde die Ausstellung bisher nicht.
Deshalb: Ganz wichtig für Medienaufmerksamkeit sind Promis, das wissen wir alle – auch die Redakteure des forsch progressiven Christenmagazins Chrismon. Sie setzen auf populäre Quotes-Werbung unter der Überschrift: „Promis feiern Reformation!“ Was die Berühmten von Luther halten, wird auch das Fußvolk begeistern – oder?
Die zum Niederknien reizende Schauspielerin Anke Sevenich „findet den Spruch total klasse, dass aus einem verzagten Arsch kein fröhlicher Furz kommt. Das ist derb, saftig und so wenig vorsichtig. Das ist echt und eine Seite an ihm, die ich aus heutiger Sicht außergewöhnlich finde.“
Mein Lieblingstrainer Jürgen Klopp meint: „Ich mag Luther, weil er für die Unterprivilegierten und Ausgeschlossenen gekämpft hat.“ (Kleine Anmerkung: Mit Ausnahme der Bauern, gegen die Luther in seiner Schrift „Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern“ wütete: „Man soll sie zerschmeißen, würgen, stechen, heimlich und öffentlich wie einen tollen Hund erschlagen.“ Mit Ausnahme der Juden, die er für die „Synagoge Satans“ hielt und für die „Grundsuppe aller losen, bösen Buben, aus aller Welt zusammengeflossen“, die sich „wie Tataren und Zigeuner“ zusammengerottet haben, um die christlichen Länder auszukundschaften und zu verraten, Wasser zu vergiften, Kinder zu stehlen und hinterhältig allerlei Schaden anzurichten. Sie begängen wie die Assassinen Meuchelmorde an christlichen Regenten, um sich deren Gebiete anzueignen. Mit Ausnahme der Hexen, die „getötet werden sollen, weil sie Diebe sind, Ehebrecher, Räuber, Mörder … Sie schaden mannigfaltig. Also sollen sie getötet werden, nicht allein weil sie schaden, sondern auch, weil sie Umgang mit dem Satan haben.“ Mit Ausnahme von behindert geborenen Kindern, die er für „Wechselbälger“ und „Teufelsgeburten“ ohne Seele hielt. NS-Ärzte beriefen sich bei ihren Euthanasie-Tötungen auf Luther. Aber ich weiß natürlich: Für den unterprivilegierten „christlichen Adel deutscher Nation“ ist er schon tapfer in die Bütt gestiegen!)
Mein Lieblingskabarettist Eckhard von Hirschhausen sagt: „Er inspiriert mich in meiner Arbeit. Luther war ein großer Entertainer. Seine Rhetorik war brillant, er hatte Humor … Ich bedaure, dass Luther nicht bei YouTube irgendwo live zu finden ist. Damals gab es leider noch kein Bewegtbild. Heute wäre es ein viraler Hit.“ Also man kann nicht sicher sein, ob nicht Luther doch die Kondomaktion der Jungevangelen knacklustig gefunden hätte …
Gelassenheitsübungen für Temperamentvolle
Solche Celebrities putzen natürlich ganz prächtig. Aber im Tagein-tagaus, da braucht es – bildlich gesprochen – die Hirten, die Lotsen, die Bergführer. Die Durchblicker, und die sich dafür halten, geben also nicht lange Ruh, sondern überschwemmen die ausgedünnten Reihen ihrer Klientel mit einer Fülle an Erkenntnissen, die zwar auch schon von Opa und Oma stammen könnten, aber in einem heute verständlichen Therapie- und Workshopdeutsch korrekt und politisch up2date formuliert werden. Die stolze Schar der medienbeauftragten Pfarrer*Innen (hm – richtig geschrieben?) sind besonders verschwenderisch mit „gutem Rat“ (vermutlich für sie ziemlich dasselbe wie „Evangelium“) auf allen geöffneten Kanälen, Printstrecken und Onlineforen. Da empfiehlt etwa die Regionalbischöfin und gelegentliche „Wort-am-Sonntag“-Spenderin Susanne Breit-Keßler in ihren „Gelassenheitsübungen für Temperamentvolle: 7 Wochen ohne Wutausbrüche: Beim Einatmen bis vier zählen … Luft anhalten, auf ‚acht‘ ausatmen – und dann erst explodieren!“
Das passt auch genau in das Thema der Fastenaktion der evangelischen Kirche 2017 vor Ostern „Augenblick mal! Sieben Wochen ohne Sofort – Innehalten, Nachdenken, mehr in der Gegenwart leben!“ Breit-Keßler dazu: „Achtsamkeit, Besinnung und stellenweise Zurückhaltung sind geradezu typisch für das, was in der Bibel von Jesus berichtet wird. Bevor er agiert, zwischendurch und nach seinen Predigten und Taten verzichtet er auf ein besinnungsloses Sofort – und setzt dem ein geistliches, kluges ‚Augenblick mal‘ entgegen. Das ist unsere ureigene Botschaft.“ (Interessant wäre es zu wissen, wie lange Jesus dabei die Luft angehalten hat …) Das hat vermutlich der Apostel Petrus auch so gesehen – im berühmten verschollenen Brief an die Gemeinde im Luftkurbad Petra (heute in Jordanien): “Immer erstmal die Luft anhalten!“ (Als man ihm nicht folgte, sondern andauernd weiterzeterte, emigrierte er nach Rom.)
„Worauf wollen Sie in der Fastenzeit 2017 verzichten?“ fragt auch das Evangelische Sonntagsblatt aus Bayern. „Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, CO2 zu sparen? Die fünfköpfige Familie Wollschläger aus Würzburg hat das im letzten Jahr mal sieben Wochen lang durchgezogen.“ Versteht sich mit begeisterndem Ergebnis.
Aktion „Auto fasten“, eine tolle Idee, findet dort auch ein gewisser Christopher Markutzik. Er musste gezwungenermaßen daran teilnehmen, denn er fuhr einmal zu viel etwas zu schnell.
Chrismon-Chefredakteur Arnd Brummer hat folgenden Vorschlag: „Ich habe mir vorgenommen, während der Fastenzeit nicht auf die Stauumfahrungsempfehlungen des Computers zu hören, nur um fünf Minuten früher anzukommen. Stattdessen möchte ich versuchen, gemütlich im Stau zu stehen, mir vielleicht ein schönes Hörbuch oder nette Musik mitzunehmen und zu sagen: Soviel Zeit muss jetzt sein.“
Pastorale Animateure
Wenn man derlei gutgemeinte Trivialitäten nicht als arbeitsplatzsichernde Leistungsnachweise für kirchensteuererhaltende Volkstümlichkeit anerkennen will, dann zeigt sich bei genauem Hinsehn etwas Anderes: die tiefe Verachtung der zu hütenden Schäfchen. Sind die eigentlich total verblödet, dass man ihnen solche geistliche Nahrung zu schlucken vorsetzt? Oder schmeichelt es vor allem dem Selbstgefühl der sich mit geringem intellektuellem Aufwand als Wissende inszenierenden Medienkleriker? Ratschläge dieser „Qualität“ werden in hunderten Radioweckersendungen, Frauenzeitschriften, Ratgeberbroschüren, von Tante Frieda und Onkel Fliege landauf landab im Gratis- oder Billigangebot verbreitet. Das stört die pastoralen Animateure gar nicht, denn sie betrachten die Gläubigen aus der hohen Warte des progressiven Pädagogen, der seine unmündigen Zöglinge lebenslang zu erziehen hat. Die geistliche Entsprechung zum Mutti-Staat. Diese Haltung motiviert dann die besonders Beweglichen, den Aufstieg in die nächsthöhere Etage der Klerikerhierarchie anzugehn: Auge in Auge mit den politisch Mächtigen.
Denn neben dem pädagogischen Allerlei aus der zweiten Reihe für jede und jeden gibt es auch noch die selbsterhöhende Berufung zu idealer Politik. Kant – ewiger Friede! Gandhi – Pazifismus pur! Häuptling Seattle – „Die Erde ist unsere Mutter!“ Das sind die wahren Heiligen dieses „Glaubens“. In ihrer reinsten Gestalt verkörpert dieses Schwärmereisyndrom die Charismatikerin, die Prophetin, die Fastkandidatin für die Bundespräsidentschaft: Bischöfin a.D. und Dr. h.c. Margot Käßmann. Sie tourt als „Botschafterin des Rates der EKD für das Reformationsjubiläum 2017“ durch Kontinente und deutsche Lande, diskutiert mit Gregor Gysi über Weltveränderung (hat ja auch einiges an Veränderung mitgemacht, der Schelm), mit zahllosen Frauen über Frauen, mit ausländischen Gästen über interkulturellen Dialog, und immer wieder über ihr spektakuläres – wenngleich noch seiner praktischen Umsetzung harrendes – Friedenskonzept: „Wir sollten versuchen, den Terroristen mit Beten und Liebe zu begegnen.“ (März 2016)
Ein aufrechter Streiter für modern-theologisch fundierte Politik ist auch der Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Martin Hein aus Kassel. Unerschrocken kämpft er im Geiste Luthers gegen den Klimawandel, für Fair Trade und erneuerbare Energien, gegen Gentechnik, gegen Rüstungsexporte, für eine verbesserte „Flüchtlingspolitik“, für den notwendigen Dialog zwischen den Religionen. „Reformatorisch handeln, heißt gemäß dem 21. Jahrhundert auch, die Vielfältigkeit des Menschseins anzunehmen und gegen Intoleranz, Hass und Fundamentalismus aufzubegehren. Und diese Akzeptanz der Verschiedenheit von Sprachen, Umwelt und kulturellen Kontexten gilt es auch weiterhin im Sinne reformatorischer Handlungsabsichten auszubilden.“ Kritik, Mahnung und Ermutigung zu klarem Handeln seien die Kennzeichen einer Kirche, die „Kirche für die Gesellschaft“ sei.
Vom depressiven Karfreitagschristentum zum säkularen Schuldbewußtsein
Die Transformation von Religion in Moral hat ja im Protestantismus eine lange Geschichte. Schon Calvin und die englischen Puritaner rückten die Kontrolle von Sitte und Moral ins Zentrum des Gemeindelebens. Wenn es sein musste, dann auch mit Galgen, Schafott und Scheiterhaufen. Mit Kants Gleichsetzung von Moral und Religion entdeckten die Protestanten die ihnen auf den Leib geschneiderte Philosophie und wandten sich von da an der Menschen- und Weltverbesserung zu. Es nützte wenig, dass Schleiermacher im 19., Rudolf Otto und Karl Barth im 20. Jahrhundert auf dem fundamentalen Unterschied von Moral und Religion beharrten. Was bei den Katholiken der Kirchturm in der Ortsmitte, wurde bei den Protestanten das Schulhaus. Das verschaffte lange dem evangelischen Teil der deutschen Bevölkerung einen signifikanten Bildungsvorteil. Allerdings auch eine höhere Anfälligkeit an weltanschauliche Moden und größere Anpassungsfähigkeit an die Mächtigen. Im 19. Jahrhundert applaudierte man Bismarck bei seiner Katholiken- und Sozialistenverfolgung, im Dritten Reich erfand man gehorsam ein Deutsches Christentum, für das Jesus ein Arier war und das Alte Testament etwas vom anderen, jüdischen Ufer, in der DDR traten die meisten aus der Kirche aus und schickten ihre Kinder in die Jugendweihe. Zur Ehre der aufrechten Minderheit sei angemerkt, dass sie gerade wegen der Anpassung der Vielen ausnehmend viel Mut beweisen mussten und im Widerstand gegen das SED-Regime auch bewiesen.
Das überkommene Sündenbewußtsein des depressiven Karfreitagschristentums wurde ersetzt durch ein säkulares Schuldbewußtsein mit ähnlichem Effekt. Bei jeder Katastrophe, bei jeder Störung des Alltagslebens wird der Anfangsverdacht formuliert, dass sie „menschengemacht“ sei. Und irgendeine Kausalkette, und sei sie noch so dünn, lässt sich immer bis zum nur scheinbar harmlosen Verhalten des Einzelnen verfolgen. In dieser „Wirklichkeit“ trägt auch die kleinste Glühbirne dazu bei, ein Stück Polkappe abzuschmelzen. Das Steak in der Pfanne und das günstige Sweatshirt am Leib haben Regenwaldabholzung, „Klima“ und Kinderausbeutung zu verantworten. Mangelnde Fitness und Übergewicht belasten die Versicherungskosten der Allgemeinheit. Über das Tragen von Pelzen ist jedes Wort überflüssig (nun ich sag es: „Pfui Deibi!“). Der Preis für diese Verdünnung der Schuld ins unendlich Kleine ist ihre Allgegenwart. So bleibt ein ungeheures Themenfeld für die warnenden, mahnenden, alarmierenden, Betroffenheit markierenden geistlichen Hypermoralisten, ein ständig anschwellender Klagegesang. So manche Weihnachtspredigten über den Sozialstaat, die Gentechnik, die Öko-Krise, die Banker und das Asylrecht „gleichen Regierungserklärungen eines allzuständigen Klerikalgouvernements, das eine Kompetenz für globales Krisenmanagement in Anspruch nimmt“ – so der skeptische Theologe Friedrich Wilhelm Graf.
Der Staat nimmt die permanente Einmischung auch nicht wirklich übel, sondern nutzt das Lamento für die Rechtfertigung mannigfacher Erhöhungen von Steuern und Abgaben.
Was hier im evangelischen Beritt Usus geworden ist, hat unleugbar inzwischen auch Nachahmung in der katholischen Parallelinstitution gefunden. Der Applaus aus dem progressistischen Protestantenmilieu für Papst Franziskus kommt nicht von ungefähr. Und wenn der EKD-Obere (und SPD-Mitglied) Bedford-Strohm gemeinsam mit dem Vorsitzenden der katholischen Bischofskonferenz Kardinal Marx bei hohen Muslimen zu Besuch ist, legen beide „aus Respekt gegenüber dem muslimischen Gastgeber“ das Kreuz ab. Auch eine Art Ökumene.
Zu dieser empathischen Geste hat implizit wiederum Kassels Bischof Hein einen gewichtigen Beitrag geliefert. Im November 2016 verkündete er vor der Landessynode in Hofgeismar, „dass Christen, Juden und Muslime zu demselben Gott beten“. In Saudi-Arabien würde er dafür möglicherweise öffentlich ausgepeitscht, in der IS Hauptstadt Raqqa geköpft, und auch einige namhafte evangelikale Prediger attackierten diese Auffassung vehement, wenngleich ohne Gewaltandrohung. Aber Kurhessens Bischof Hein steht wie Luther und kann nicht anders. Er bekräftigte im Februar 2017 seine Position erneut gegenüber dem kirchlich eher konservativen Magazin IDEA.
Ein weiser Papst hat es vor einigen Jahren abgelehnt, die Schwestern und Brüder aus der Konkurrenzkonfession „Kirchen“ zu nennen. Offensichtlich mit einigem Grund. Wir feiern vielleicht demnächst seinen bevorstehenden 90. Geburtstag in den Katakomben.
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