Tichys Einblick
CLEMENS MEYER: „DIE PROJEKTOREN“

Laudatio auf einen kommenden Klassiker

Der Roman „Die Projektoren“ ist das Gegenteil unserer öffentlich-rechtlich eingehegten Kulturausübung, die eher Diplomatie und Verwaltungsakten gleicht. Clemens Meyers Reise ins Herz der Finsternis zeigt, was einem Menschen in seiner Sterbenshaut möglich ist, und leistet einen Beitrag zur Weltliteratur. Von Uwe Tellkamp

Am 28. August 2024 erschien mit Clemens Meyers Romanepos „Die Projektoren“ ein deutscher Beitrag zur Weltliteratur. Der Roman steht bei Peter Nádas’ „Parallelgeschichten“, Mircea Cărtărescus „Orbitor“-Trilogie, Karl Ove Knausgårds Zyklus, William T. Vollmanns „Europe Central“, David Foster Wallace’ „Unendlicher Spaß“, Jonathan Littells „Die Wohlgesinnten“. In der deutschsprachigen Literatur ist Meyers Buch neben Günter Grass’ „Blechtrommel“, Thomas Bernhards Hauptwerken, Uwe Johnsons „Jahrestage“ einzuordnen.

Für die ostdeutsche Tradition, die Meyer auf faszinierende Weise zugleich bewahrt und fortsetzt, wären Wolfgang Hilbigs Werk, mit Abstrichen Christa Wolfs „Kindheitsmuster“, Brigitte Reimanns „Franziska Linkerhand“ und Werner Bräunigs „Rummelplatz“ zu nennen. Um die Höhe von Meyers Arbeit noch etwas deutlicher zu markieren: Keiner der mir bekannten Romane etwa von Martin Walser erreicht die „Projektoren“, keiner von Peter Handke, Siegfried Lenz, von Grass nach der „Blechtrommel“ und der Novelle „Katz und Maus“. „Die Projektoren“ grüßen den „Zauberberg“, den „Mann ohne Eigenschaften“, Heimito von Doderers „Dämonen“.

Das Buch hat 15 Kapitel, wenn man die ersten drei als eines zählt. Manche sind so lang wie Binnenromane. „Ich bin Hakawati, ein Märchenerzähler“, heißt es zu Beginn. Eine Hauptachse verläuft im Velebit-Gebirge. Dort wurden in den Sechzigern die Winnetou-Western gedreht, dort begannen Anfang der Neunziger die jugoslawischen Zerfallskriege.

Wir erfahren von einer Figur namens Cowboy, der als Junge in Novi Sad unter deutscher Besatzung seine Mutter verlor, zu den Partisanen ging, nach dem Krieg im Velebit-Gebirge lebt. Bei den Winnetou-Western spielt er als Komparse mit, im Ruhrgebiet der Siebziger schreibt er für eine Geschichtenfabrik Abenteuerhefte. Am Ende des Romans ist er Wanderkinobetreiber im Orient. Es gibt eine Liebesgeschichte (Cowboy-Negosava); das, scheint mir, ist noch nicht Meyers Stärke, aber in welchem Western wären die Frauenfiguren mehr als Beiwerk?

Die zweite Achse liegt in der „Irren-Hilfs-Heil- und Pflegeanstalt des Doktor Güntz“ zu Leipzig-Thonberg, wo die Aufzeichnungen des „Fragmentaristen“ untersucht werden und ein Dr. May Patient gewesen sein soll. Diese Kapitel sind spielerischer, weite Strecken bestehen aus Dialogen, die für einen Autor, der auch Drehbücher schreibt, manch- mal überraschend schwach sind.

Stark ist Meyer im Evozieren (show, don’t tell), etwa im Kapitel „Nacht im Bioskop“, einem Kino in Novi Sad unter deutscher Besatzung, wo ein Film die Zuschauer vor dem realen Grauen draußen bewahrt; in Kapiteln wie „Fremde Pfade“, „Die Leichenwässer“, wo es um eine Gruppe junger Rechtsradikaler aus Dortmund und Leipzig geht, um Aufwachsen in den Wendewirren, Vaterlosigkeit, Sinnsuche, Manipulation. Franko Nemo, der Gedichte schreibt und vom Faschismus schwärmt, der sensible Georg, der in der zerstörten Bibliothek von Osijek Zwiesprache mit Tonka, Cowboys Nichte, halten wird, beide „Am Jenseits“. Meyers Buch ist – unter anderem – ein Kriegsroman, und deswegen auch ein Roman über Frieden und Liebe.

Beim Lesen wußte ich nicht immer, was ich mehr bewundern soll, die Suggestionskraft von Meyers Schilderungen oder allein schon den Mut, als 1977 in Halle geborener, in Leipzig aufgewach­sener Mann Jugoslawien zu behandeln, mit dem Cowboy einen einheimischen Protagonisten zu erschaffen, sich in Spezialgebiete (jugoslawisches Eisenbahn­wesen, Minentypen, Titos Biographie, Filme) einzuwühlen, all das in einen Sprachblock einzuschmelzen ohne Kolportage, ohne Klischees und ohne vor Riesen wie Ivo Andrić, Aleksandar Tišma (der in Novi Sad aufwuchs), Miros­ lav Krleža (hier vor allem „Die Fahnen“), Bora Ćosić (auf dessen „Tutoren“ Meyers Buchtitel Bezug nimmt) einzuknicken.

Krieg arbeitet unter allem, durch­dringt alles, ein finsterer Schöpfer. Wie stellt Meyer ihn dar im Vergleich etwa zu Tolstoi, Céline, Malaparte, Jünger, Simon, Hemingway, Renn, Remarque, die in seinem Buch zitiert werden? Er hält nicht die bloße Schilderung von Grausamkeiten für ein Wesensbild von Krieg. Solche Schilderungen können leicht in Landserkitsch und Horrorpor­nographie abgleiten (wovor Tarantino nicht gefeit ist). In den „Projektoren“ ist Krieg Echo, das im Verhalten der Figu­ren nachzittert, Projektion, aus der die brutale Tatsächlichkeit vorstößt wie der „Stille Hahn“ mit seinen Mordtrup­pen. In Szenen wie dem Tod von Cow­boys Mutter am Tag ihres Geburtstags, der unter dem Eis treibenden Negosa­va brennt sich die Realität des Krieges durch die Leinwand.

Unvergeßlich auch die Figur des Schachmeisters Gligorić, der in einer Stadt ohne Hoffnung Schach spielt, tap­fer, sichtbar, beinahe lächerlich, einer, der aushält.

Meyers Kunst liegt in die­sem „beinahe“ – Gligorić (eine reale, in der Schachwelt bekannte Persönlich­keit) erscheint mitten im Krieg als ein Mensch, der das Humanum gegen die Vernichtung hält. Meyer urteilt nicht, selbst dort nicht, wo es billigen Beifall gäbe. Auch Rechtsradikale schildert er nicht als Popanze und schwarzweiße Pappkameraden, sondern als Menschen mit Stärken, Schwächen, Brüchen. Krieg wird bei Meyer zu einer Bildfolge, auch dies eine Anspielung auf die titel­gebenden Projektoren, die menschliche Lichtlenker ebenso meinen wie Kinoapparaturen.

Der Junge, der seiner Mutter zum Geburtstag einen Quirl schnitzte, trägt nach der Explosion eine weiße Maske, ein Mann steht im Fluß und kann nicht heraus, weil sich der Phosphor auf sei­ner Haut an der Luft entzündet. Unter der Stadt, in den Leichenwässern, hal­len die Stimmen, die Erinnerungen, durchziehen den Roman wie Erzgänge den Berg. Der Krieg, seit der „Ilias“ das epische Geschehen schlechthin, bün­delt Meyers Hauptmotive Irrenanstalt und Kinotraumwelt.

Humanum gegen Vernichtung

Immer wieder erscheinen fern die Um­risse einer Märchenstadt: Damagda­rut. Von dort könnten sie gekommen sein, Winnetou, Old Shatterhand, der Hadschi, Kara Ben Nemsi, und natür­lich er, der Weltenschöpfer Dr. May aus Sachsen, der im Gesamtlichtspiel des Romans an den Projektoren sitzt. Lex Barker alias LEX (von Meyer immer so geschrieben) und Pierre Brice tauchen auf, LEX trifft Tito, den Filmenthu­siasten, der im Wien des Jahres 1912 in einen Vortrag des greisen Dr. May geht und mit dem Postkartenmaler, Obdach­losenheimbewohner und auch Filmenthusiasten A. H. zusammenstößt.

Ein Panorama des 20. Jahrhunderts öffnet sich, ragt bis ins Jahr 2015, als die Orientreise des Dr. May und des Cowboys auf der Balkanroute die der Flüchtlinge streift. Die Figuren begeg­nen einander, treiben voneinander weg, werden wieder angezogen, das Buch wird Welt, wird Schöpfung, ein Sonnen­system, indem die enorme Schwerkraft des Erzählens die Kapitel-­Planeten ge­bannt hält. „Die Projektoren“ sind auch ein Roman darüber, was Erzählen, im besonderen episches Erzählen, heute bedeutet, was das ist und sein kann: Literatur. Hier entsteht sie aus dem An­spruch, mit einem Kunstwerk das Gro­ße Ganze zu erfassen, bergsteigerisch gesagt, auf einen Achttausender zu ge­hen (und wiederzukommen).

Es ist nicht das Gefällige, das auf den Durchschnittstouristen zielende Aus­flugs­ als Vernunftprogramm mit Lift, Baude und Kinderbespaßung; es ist „all in“, in seinem Pathos, seiner Anma­ßung das Gegenteil unserer öffentlich­ rechtlich eingehegten Kulturausübung, die eher Diplomatie und Verwaltungs­akten gleicht als Meyers Reise ins Herz der Finsternis, die Grenzen nicht aner­kennt und zeigt, was einem Menschen in seiner Sterbenshaut möglich ist.

Dieser Anspruch aufs Außergewöhn­liche, Geniale, der natürlich auch Spott, Abwehr, sogar Haß hervorruft, ist unserer Gesellschaft fremd; mißtrau­isch, feindselig beobachtet man einen Künstler wie Meyer, der sich nicht fügt, der nicht nur die Freiheit besitzt, zu wissen, was er kann, sondern es auch sagt, und auf Maßstäben besteht. Es gibt Demokratie im Kunstwerk, aber keine demokratische Kunst; jene, über die das behauptet wird, hat ihre Feu­er­ und Wasserproben noch vor sich. Clemens Meyers Buch wird sie mühe­los überstehen. Es ist nicht überall gut. Aber es ist überall groß.

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