Für den deutschen TV-Journalismus war es ein besonderer Moment der Fremdscham: Da steht ein Außenreporter der Tagesthemen neben dem Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, der gerade in ein paar andere Fernsehkameras spricht. Und was macht Reporter Hagen Tober? Getreu dem Motto „Hoppla, jetzt komm ich“ steht er nicht nur laut redend direkt neben Rainer Haseloff, so dass er die Aufnahmen seiner Kollegen zerschießt. Mehr noch: Plötzlich entschließt er sich – „Das geht nicht anders“ – dem Landesvater einfach mitten im Satz sein Handy hinüberzureichen. „Wir sind grad live auf Tagesschau“, sagt Tober. „Ingo Zamperoni würde Ihnen gern Fragen stellen.“ Haseloff ist sichtlich irritiert, man spürt seinen Widerwillen, doch als er verinnerlicht, dass da ganz Deutschland oder was man eben so dafür hält, in diesem Moment zuschaut, ist der Wille gebrochen. Der Ministerpräsident lässt alle übrigen Kameras stehen und wendet sich der ARD zu. „Hier ist die Kamera“, sagt Tober. „Ja, ist ok … Haseloff, grüß Sie.“ Zamperoni übernimmt, die anderen müssen in die Röhre schauen.
Magdeburg und die mediale Misere
Die Berichterstattung zum Attentat auf den Weihnachtsmarkt von Magdeburg wirft Fragen auf. Vor allem die öffentlich-rechtlichen Sender üben sich abwechselnd in Pauschalisierung und Dramatisierung – je nachdem, was gerade besser passt. Und wenn Ingo Zamperoni anruft, müssen alle stillstehen. Von Michael Plog.
MDR-Reporter Hagen Tober ist eigenen Angaben zufolge seit mehr als 30 Jahren im Geschäft. Es dürfte wohl kaum eine besondere Aufregung gewesen sein, die ihn zu dieser ebenso stillosen, unkollegialen wie unhöflichen Vorgehensweise getrieben hat. Schon vorher hat er so laut gesprochen, dass die Kollegen der übrigen Sender zwangsweise alles mitaufnehmen mussten, was Tober gerade mit Zamperoni im Studio besprach. Als er ihnen jetzt mit dem Verweis auf die eigene Live-Schalte ihre Interviews zerstört, sind die Kollegen entsprechend aufgebracht. „Wir sind alle live“, ruft einer fassungslos.
Bei MDR-Reporter Tober gehört das Burschikose offenbar zum Berufsbild. Wenn er den Fernsehzuschauern den Ablauf des Attentats beschreibt, dann muss der Täter „da reingekachelt sein“ und habe Fußgänger „übern Haufen gefahren“.
Der Täter ist im Staatsfunk derweil erstaunlich schnell schubladisiert. Obwohl das gar nicht so einfach ist. Denn Taleb Al Abdulmohsen bezeichnete sich auf seinem bis heute sichtbaren X-Profil zwar als politisch Linker. Für das ZDF spielt dies aber offenbar keine Rolle. Es wird nicht einmal erwähnt. In den „heute“-Nachrichten vom 21. Dezember braucht Moderatorin Jana Pareigis stattdessen nur wenige Sekunden, um den Attentäter gleich im ersten Nebensatz mit der AfD in Verbindung zu bringen. „Es handelt sich um einen Mann aus Saudi-Arabien, der sich vom Islam abgewandt hatte und mit der AfD sympathisierte“, sagt Pareigis. Beide Behauptungen sind bis heute nicht eindeutig belegbar. Und waren es schon gar nicht am Tag nach dem Anschlag. Einerseits hat Abdulmohsen zwar Beiträge der AfD geteilt, andererseits sagte er in einem Videobeitrag selbst: „Ich bin nicht rechts, ich bin ein Linker“. Mal sprach er sich gegen den Islam aus, dann wieder gab er an, ihn zu verteidigen. Seine politische und religiöse Ausrichtung ist offenbar selbst den Ermittlern nach den polizeilichen Verhören weiterhin unklar.
Die vielen Informationen über den Täter sind zum Teil widersprüchlich und passen nicht zusammen. Dennoch will uns Innenministerin Nancy Faeser als „gesichert“ erklären, dass der Mann der AfD nahe stand und kein Islamist sei. Internationale Medien von Großbritannien bis Indien haben den Plot vom rechtsextremen Ex-Muslim zwischenzeitlich bereits korrigiert, doch die deutschen Medien halten weiter daran fest. Selbst die Tatsache, dass der Attentäter Beiträge des US-Milliardärs Elon Musk geteilt hat, wird bei ARD und ZDF gern und oft erwähnt. Für den ÖRR und einige LeiDmedien macht es den Mann sogar zum „Fan von Elon Musk“.
Wenn es darum geht, ob Abdulmohsen überhaupt der Täter ist, da wird der ÖRR überraschenderweise sehr vorsichtig. Obwohl der Mann auf frischer Tat gestellt und verhaftet wurde, spricht die Tagesschau von einem „Verdächtigen“ einer „tödlichen Fahrt über den Weihnachtsmarkt“. Das mag juristisch alles korrekt sein, klingt in manchen Ohren allerdings befremdend verharmlosend. Zumal in vielen Überschriften ja ohnehin immer das Auto der Täter zu sein scheint, und nicht der Mann am Steuer.
Derweil hebt NTV besonders hervor, dass sich unter den Verletzten auch eine Ukrainerin befinde. Warum dies so betont wird, bleibt unklar, zumal es unter den mehr als 200 Verletzten sicher diverse weitere Nationalitäten geben dürfte.
Als Haseloff und Bundeskanzler Olaf Scholz ihre Betroffenheits-Statements in die Kameras sprechen, wird die Öffentlichkeit weggesperrt. Scholz, der kaum dazu in der Lage ist, auch nur einmal jemandem klar in die Augen zu schauen, muss später unter massivem Polizeischutz zu seiner Wagenkolonne geführt werden. Zuschauer pöbeln und beschimpfen ihn. Es gibt Pfiffe und „Hau ab“-Rufe. Diese Bilder sind nur auf X zu sehen, nicht im Fernsehen.
Dort gibt schon wieder neue, wichtige Themen. Die Tagesschau etwa erklärt uns, wie wir „nachhaltig feiern: Welches Festessen verbraucht am wenigsten CO2?“
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