Tichys Einblick
Vorgezogene Wahlen

Olaf Scholz verliert am Montag das Vertrauen – und nicht nur er

Olaf Scholz hat die Vertrauensfrage eingereicht. Am Montag entzieht es ihm das Parlament voraussichtlich. Doch nicht nur der Kanzler wird dann ohne Vertrauen dastehen – dem ganzen Berliner Politbetrieb trauen immer weniger Bürger etwas zu.

picture alliance / Chris Emil Janßen

Olaf Scholz tritt am Montag an, um zu verlieren. Wenn das Parlament dem Kanzler sagt, dass es kein Vertrauen mehr in ihn hat, dann hat er gewonnen. Mit einem besseren Bild lässt sich der Berliner Politbetrieb nicht beschreiben: eine Gesellschaft, die nach Regeln spielt, die in ihrer Welt gelten – und die außerhalb immer stärker auf Unverständnis stoßen. Die Inszenierung des Rücktritts und der Einleitung von Neuwahlen steht für mehr als nur das Scheitern eines Kanzlers, einer Koalition und einer Regierung.

Formell muss der Bundespräsident diesen Misstrauensverlust akzeptieren und daraus ableitend Neuwahlen prüfen. Doch Frank-Walter Steinmeier hat bereits den Termin für die Wahlen bekannt gegeben. Wer vertraut dem Sozialdemokraten da noch, dass er den Vorgang so neutral prüfen wird, dass am Ende dieser Prüfung etwas anderes als Neuwahlen stehen könnte? Kein anderes Staatsoberhaupt der Bundesrepublik hat so viel über die Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung geredet – und ebenfalls hat kein anderes Staatsoberhaupt dieses Amt so für Parteipolitik missbraucht wie Steinmeier. Der Parteikarrierist hat damit nicht nur selbst massiv zur Spaltung beigetragen – sondern auch zum Vertrauensverlust.

Der „beliebteste“ Politiker ist in den aktuellen Umfragen Verteidigungsminister Boris Pistorius. Deshalb haben einige Hinterbänkler der SPD offen darüber spekuliert, ihn zum Kanzlerkandidaten der Partei zu machen. Gewarnt hat davor Martin Schulz. Zu gut erinnert er sich noch an seine eigene Kandidatur. 2017 war er auch megabeliebt. Die Hauptstadtjournalisten berichteten sich ob seiner Werte in einen Rausch, seine Partei ließ im Internet den „Schulzzug“ über Konkurrenten hinwegfahren. Doch was die meisten übersehen hatten: Kaum einer kannte den EU-Politiker. Je bekannter er wurde, desto mehr litt seine Beliebtheit. Am Ende stand das historisch schlechteste Ergebnis für die SPD. Ein ähnliches Schicksal würde dem heute noch „beliebten“ Pistorius ebenfalls drohen, wenn er drei Monate im gleißenden Licht einer Kanzlerkandidatur stehen würde.

Scholz verliert am Montag das Vertrauen in ihn. Offiziell. Doch nicht nur er wird es am Montag verloren haben. Wenn die Institute fragen, welchem Politiker sie am ehesten zutrauen, Probleme zu lösen, gewinnt „Keiner von denen“. Auch wünschen sich die meisten Befragten diesen „Keiner von ihnen“ als nächsten Kanzler. Aber die Vertrauenskrise reicht weit über das politische Personal hinaus. Im Sommer hat der Deutsche Beamtenbund eine Forsa-Umfrage vorgestellt. Nach der halten 70 Prozent der Befragten den Staat für überfordert. Vor allem in der Asylfrage kamen sie zu diesem Urteil. Noch vor vier Jahren waren es „nur“ 40 Prozent, die dem Staat misstrauten.

Die Institutionen haben viel zu diesem Verlust an Vertrauen beigetragen: Polizisten, die während der Pandemie Kinder mit dem Auto gehetzt oder vom Rodelschlitten gezogen und Frauen mit aller Härte zu Boden gerungen haben – während sie sich in manchen Vierteln nicht mehr durchzugreifen trauen. Gerichte, die Vergewaltiger ohne Haftstrafen davonkommen lassen, aber dann Bürgerinnen verurteilen, weil die sich im Internet nicht respektvoll genug über diese Vergewaltiger geäußert haben. Kirchenvertreter, die aus Respekt vor dem Islam ihr Kreuz verstecken und die unbegrenzter Einwanderung das Wort reden – während ihre eigenen Sozialverbände mit Migrationskursen Vermögen verdienen. Ein Ethikrat, der den Vorwurf als Hass und Hetze abgetan hat, seine Empfehlungen zur Pandemie seien von der Regierung bestellt gewesen – und der mittlerweile dabei ertappt wurde, dass die Moral-Fachfrauen sich bei eben dieser Regierung erkundigt haben, welche Empfehlungen sie abzugeben haben.

Ein Innenministerium, das missliebige Medien über das Vereinsrecht verbietet. Dessen politische Gegner für neun Monate in Haft sitzen wegen des Vorwurfs des Betrugs, der danach in sich implodiert. Eine Ministerin Nancy Faeser (SPD), die Razzien gegen politische Gegner feiert, zu denen neben den Polizisten der Sondereinsatzkommandos auch immer regierungsfreundliche Journalisten erscheinen. Die wollen von den Einsätzen nicht durch Polizei oder Ministerium erfahren haben, sondern weil sie recherchiert hätten. Der Vertrauensverlust wird in Deutschland immer greifbarer – die Gründe für diesen ebenso.

Die gleiche Innenministerin kündigt an, dass sie ihren Geheimdienst die Geldströme der Opposition untersuchen lässt. Dann tauchen Daten dieser Geldströme in regierungsfreundlichen Medien auf. Die Journalisten wollen diese Daten nicht vom Geheimdienst erhalten haben. Natürlich nicht. Sie wollen mit eigenen Recherchen an die gesetzlich geschützten Angaben gekommen sein. Logisch. Glaubt ihnen jeder.

Dazu passt, dass sich Mitarbeiter des Inland-Geheimdienstes an öffentlich-rechtliche Journalisten wenden, um über Missstände im Geheimdienst zu berichten. Diese Journalisten verweigern sich den Hinweisgebern, melden diese deren Vorgesetzten und geben sie somit der Verfolgung durch ihren Arbeitgeber preis. Die Vierte Gewalt schützt in Deutschland nicht den Rechtsstaat und die Demokratie – sie steht an der Seite der Regierung und übt Gewalt gegen jeden Bürger aus, der diese Regierung kritisiert.

Dabei sprechen sich ARD und ZDF das Vertrauen regelmäßig selbst aus. In selbst beauftragten Studien kommen sie auf Zustimmungswerte von über 80 Prozent. Nun. Die SED ließ sich einst mit 99 Prozent bestätigen – ein halbes Jahr später brach ihr Staat zusammen. Selbst erhobene Studien glänzen wie frisch getünchte weiße Wände – doch sie halten ein Haus nur auf eine überschaubare Dauer zusammen. Das Vertrauen in ARD und ZDF ist derart erschüttert, dass selbst die politisch befreundeten Länderchefs der nächsten Erhöhung der Zwangsgebühren nicht zustimmen wollen – und diesen Job dem Bundesverfassungsgericht überlassen.

Dieses Gericht führt Stephan Harbarth (CDU). Ein treuer Parteisoldat, den Angela Merkel (CDU) zum Präsidenten machen ließ. Als solcher soll er neutral über die verantwortlichen Politiker urteilen. Vor wichtigen Urteilen sitzt er mit ihnen in Dinner-Runden zusammen. Wenn es dann zu politgenehmen Urteilen kommt, ist der Politbetrieb zufrieden – doch das Vertrauen in die Institutionen weiter erschüttert.

Die Politik der Ampel war verheerend. Es reicht ein Blick auf die aktuellen Schlagzeilen: eine Energiepolitik, die Strom in Deutschland unbezahlbar gemacht hat und Unternehmen zur Stilllegung der Produktion zwingt. Die so verheerend ist, dass sie den gesamten Strommarkt und Wohlstand eines ganzen Kontinents nach unten zieht. Eine Wirtschaft, die laut Industrie- und Handelskammer nur „mangelnd wettbewerbsfähig ist“ und entsprechend im Exportwachstum stagniert. Bestenfalls. Eine Politik, die 6.000 syrische Ärzte zum Vorwand nimmt, um hunderttausende syrische Empfänger von staatlicher Stütze im Land halten zu können.

In einer funktionierenden Politlandschaft wäre das kein Problem: Die CDU war nach 20 Regierungsjahren Ende der 60er erschöpft? Willy Brandt übernahm das Ruder und wagte mehr Demokratie. Dessen SPD war 13 Jahre später ausgelaugt? Helmut Kohl (CDU) war da und führte das Land erst in den wirtschaftlichen Aufschwung und dann in die Deutsche Einheit. Gerd Schröder (SPD) und Merkel bezwangen ebenfalls ihre abgewirtschafteten Vorgänger.

Doch jetzt hat die Bestenauslese Friedrich Merz als Kandidaten der Union hervorgebracht. Ein 69-Jähriger, der 17 Jahre seines Lebens damit verbracht hat, abzuwarten, bis die ihm machtpolitisch turmhoch überlegene Merkel weg war. Ein Mann, der auf den leisesten Widerstand reagiert und seine Positionen schneller aufgibt, als Lucky Luke seinen Revolver zieht. Er soll das Vertrauen erben, das Olaf Scholz sich am Montag entziehen lässt?

Das klingt, als könne das kaum gelingen. Tatsächlich gelingt es ja auch nicht. Trotz des verheerenden Bildes, das die Ampel durchgängig abgegeben hat, ist die Union in Umfragen kaum über 30 Prozent hinausgekommen. Und das war noch in der Zeit, in der keine Scheinwerfer des Wahlkampfs auf Merz gerichtet waren. Mit der näher rückenden Wahl muss er den Schatten verlassen – und das Licht tut ihm nicht gut. Je näher die Wahl rückt, desto stärker gehen die Werte der Union und ihres Kandidaten zurück.

Dass eine Regierung das Vertrauen verliert, passiert in einer Demokratie. Sie abwählen zu können, hebt diese Regierungsform über alle anderen empor. Doch wenn auch die Opposition kein Vertrauen genießt, dann gerät die Demokratie in eine Krise. Genauer gesagt erlebt der demokratisch regierte Staat diese Krise. Das Volk verliert das Vertrauen, die Verantwortlichen reagieren mit Entzug der Rechte. Entzug der Bürgerrechte wie in der Pandemie. Oder des Wahlrechts, wie in Rumänien, wo die „Falschen“, die Rechten die Wahlen nicht gewinnen durften.

In Deutschland ist die AfD „die Falschen“. Solange sie bei 20 Prozent steht, erleben wir keine Annulierung der Wahl. Wer weiß heute, was bei 40 Prozent passiert? Der AfD geht es wie dem Bündnis Sahra Wagenknecht. Die Alternativen sind umso erfolgreicher, je weniger sie in den Medien vorkommen. Wenn der Verlust an Vertrauen in Union, SPD, Grüne, Linke und FDP die AfD in Machtnähe bringt, wird es spannend zu sehen, wie die bisher Mächtigen „ihre Demokratie“ verteidigen. Denn wenn sie vom Erhalt „unserer Demokratie“ sprechen, meinen sie ihren Machterhalt. Wie sie nach den Wahlen im Osten davon gesprochen haben, die AfD auch mit undemokratischen Mitteln aufhalten zu wollen, zeigt doch nur, dass CDU, SPD, Grüne, FDP und Linke das Vertrauen in sich verloren haben, das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen zu können – und stattdessen auf Strategien der Machtausübung setzen.

Scholz verzichtet am Montag freiwillig auf das Vertrauen. CDU, SPD und Grüne vertrauen darauf, dass einer von ihnen sich jeden Vertrauensverlust leisten kann, weil die Bürger nicht zu anderen Parteien wechseln. Eine Strategie, die zu immer größeren Spagat-Übungen führt. So wie im Osten, wo die Partei Konrad Adenauers nun mit russlandnahen Ex-Kommunisten koaliert – und selbst dafür nicht mal über richtige Mehrheiten verfügt.

Über Jahrzehnte verfügten Union und SPD in der Bundesrepublik über 80 Prozent der Wählerstimmen. Selbst mit den Stimmen der Grünen sind es gerade noch etwas über 60 Prozent. Eine Regierung – ebenso wie eine regierende Klasse – kann sich in einer Demokratie nicht halten, wenn ihr die Bürger das Vertrauen entziehen. Dann müssen die Mächtigen die Macht abgeben oder die Demokratie aushebeln und faktisch abschaffen. Man möchte ihnen vertrauen, dass sie Letzteres nicht tun. Aber wer vertraut ihnen noch?

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