An der roten Ampel. Drei Autos warten bereits. Ein viertes drängelt sich über den Bürgersteig und stellt sich vor die anderen. Ein fünftes macht über die Gegenspur das Gleiche. Bevor die Ampel auf Grün springt, bilden sich mehrere Zweier- und Dreierreihen. Der Start erinnert nicht an die Formel Eins – sondern an ein Crash-Car-Rennen. Eine unvorstellbare Situation? Für Autofahrer schon. Im Radverkehr passiert einem das in Großstädten tagsüber an fast jeder Ampel.
Das Internet ist voll mit Blogs, in denen Radfahraktivisten anklagen. Der Finger zeigt auf alle: auf Hunde, die ihnen boshaft in den Weg springen. Auf Fußgänger, die noch boshafter nicht bereit sind, aus eben diesem Weg zu gehen. Und am schlimmsten von allen – das personifizierte Böse – der Autofahrer, der überholt, ohne genug Abstand zu halten. 1,50 Meter sollten es mindestens sein. Nur auf Radfahrer selbst zeigt der Zeigefinger der Aktivisten eigentlich nie.
Dabei haben sich viele Radfahrer alle drei Finger verdient, die bei einem ausgestreckten Zeigefinger in der Regel auf einen selbst zurück zeigen. Sie fahren auf den Gehwegen mit 20 Stundenkilometern oder mehr und sehen es dort als die Aufgabe der Hunde und Fußgänger an, dass es zu keinem Zusammenstoß kommt. Rote Ampeln sind für sie bestenfalls eine unverbindliche Empfehlung, und wenn der Autofahrer dann bei eigenem Grün trotzdem in die Kreuzung fährt und der Rot-Ignorierer in Gefahr gerät, zeigt das doch nur, welch bedauerliches Opfer der Radfahrer ist.
Tatsächlich ist der Radfahrer ein Opfer. Aber meist von sich selbst. Nicht nur, weil er sich dem anderen Radfahrer vor der Ampel in den Weg stellt. Oder weil er beim Überholen einen Abstand von einem Nanometer für sicher genug hält. Oder weil er bereits einfädelt, obwohl er noch keine ganze Fahrzeuglänge vorbei ist. Und den Schulterblick müsste man dem überholenden Radfahrer erklären. Den halten die meisten für einen medizinischen Test oder eine Übung im Yoga.
Doch der Radfahrer ist nicht nur ein Problem für den anderen Radfahrer. Er ist auch sich selbst der größte Feind. Das belegt nun eine Studie der „Unfallforschung der Versicherer“ (UdV). Demnach hat es 2023 insgesamt 5112 schwerverletzte Radfahrer nach Unfällen mit Autos gegeben. Jeder für sich einer zu viel. Aber in 27.400 Unfällen mit einem Radfahrer als einzigem Beteiligten kam es zu 6400 Schwerverletzten. Der Natur der Sache gemäß ist die Dunkelziffer höher als bei Unfällen mit Autos. Bei denen kommt in der Regel die Polizei oder wird eine Versicherung benachrichtigt. Wer einen Unfall ohne weiteren Beteiligten erleidet, meldet den nicht zwangsläufig.
Es ist die Fahrweise, die zu diesen Unfällen führt. Manche fahren zu schnell, andere bremsen abrupt oder sind insgesamt unaufmerksam. Auch Alkohol ist oft im Spiel. Das sind übrigens keine Klischees gegenüber Radfahrern. Das sagt die Polizei in der UdV-Studie – und zwei Drittel der befragten Unfallopfer bestätigen dieses Fehlverhalten als Ursache für Unfälle. Jeder dritte getötete Radfahrer geht mittlerweile auf Unfälle ohne weitere Beteiligung zurück. Bei den Schwerverletzten ist es fast die Hälfte.
Noch kommt es zu mehr tödlichen Unfällen mit Autos. In solchen starben 2023 insgesamt 178 Radfahrer. 147 Tote gab es nach Unfällen ohne weiteren Beteiligten. Auch hier liegt das in der Natur der Sache. Und zwar der Physik. Höheres Tempo und mehr Masse lassen jeden einzelnen Unfall für sich selbst gefährlicher werden. Genau darin verbirgt sich ein Trend und eine Gefahr, nämlich dass sich Radfahrer künftig selbst noch mehr Schaden antun. Das Stichwort dazu heißt Pedelec.
Die motorisierten Fahrräder sind schwerer, beschleunigen stärker und sind weniger leicht zu handhaben als klassische Räder, sagen die Unfallforscher. Entsprechend liegt die Zahl der schwerverletzten Pedelecfahrer deutlich höher als bei den klassischen Radfahrern. Das hält Pedelec-Nutzer aber nicht davon ab, ebenfalls den Fußweg zu nutzen. Die motorisierten Räder boomen in den letzten Jahren. Das erklärt auch die steigende Rate an Unfällen, an denen niemand außer einem Radfahrer beteiligt war: „Rad-Alleinunfälle haben sich in den letzten 15 Jahren mehr als verdoppelt“, teilt die UdV mit.