Ein Freund bat mich vor einigen Tagen um einen Artikel über Aufstiegssignale in Afrika. Das ist, angesichts der gegenwärtigen Hungersnot , die allein in drei afrikanischen Ländern – Südsudan, Somalia und Nigeria – rund 15 Millionen Menschen betrifft, eine Steilvorlage, um das Narrativ des Lobgesangs über Afrikas Fortschritte während der letzten 20 Jahre einmal genauer zu betrachten.
Das angeblich beispiellose Wirtschaftswachstum des Kontinents in diesen Jahren gründete sich hauptsächlich auf hohe Rohstoffpreise, die jüngst aber dramatisch gefallen sind. Das demographische Wachstum von 2,7% lässt die durchschnittlichen Wachstumsraten von 4,5% jedoch weitaus weniger beeindruckend erscheinen. Insgesamt gründet sich afrikanisches Wirtschaftswachstum hauptsächlich auf die Extraktion von Rohstoffen – dies oft unter haarsträubenden Bedingungen -, einen Infrastruktur- und Bauboom, der die Verschuldung anheizt, und Handel, seit eh und je die allerorts bevorzugte Aktivität. Industrie und verarbeitendes Gewerbe hinken hinterher, und die Landwirtschaft leidet immer noch unter enormen Modernisierungsdefiziten.
Dafür gibt es handfeste Gründe. Die armen Massen – eben die Landbevölkerung und die in den Städten die Mehrzahl bildenden Slumbewohner – sind den politischen und den mit ihnen identischen oder verbandelten reichen Eliten völlig egal. Arme und unwissende Menschen sind einfach leichter manipulierbar und können bei Wahlen kontrolliert werden. Diese “voter blocks” werden mit kleinen, als Entwicklung herausposaunten Geschenken – ein Sträßchen hier, eine Krankenstation dort – bei Laune gehalten.
Die Eliten kassieren ab
Die Eliten wissen sehr genau, dass Investitionen in Industrie und Gewerbe auf Grund ihrer Langfristigkeit und bei instabilen Rahmenbedingungen riskant sind. Deswegen konzentriert man die Anlagen von oft gestohlenem Geld auf Rohstoffe, Landaneignung und Immobilien sowie Handel inklusive Shopping Malls. Dort lockt die schnelle Geldvermehrung. Arbeitsplätze entstehen dort kaum.
Zwar hat sich die Armut der Menschen, die von weniger als 2 US$ pro Tag leben, von knapp 60 Prozent im Jahre 1990 bis 2013 auf rund 40 Prozent verringert, aber die absolute Anzahl der in Armut lebenden Menschen hat sich auf Grund des Bevölkerungswachstums von 280 auf 330 Millionen erhöht. Armut wird also auch in Zukunft vorrangig ein afrikanisches Problem bleiben.
Gemäß Untersuchungen des Brooking Institutes zerstört besonders die extreme Einkommensungleichheit die Armutsreduktion durch Wachstum. Zwar gibt es gewisse Fortschritte im Rahmen des Human Development Index (HDI), hier bleiben jedoch der Bildungs- und Ausbildungsbereich und der Gender Gap die größten Herausforderungen. Eines der Mädchen in meinem Haushalt, sehr intelligent und stets die Nummer eins ihrer Klasse in einer der Privatschulen, die kenianische Eltern, wenn sie nur können, den überfüllten, unterfinanzierten und einfach nur schlechten öffentlichen Schulen vorziehen, hat den Eignungstest für ein Stipendium der Deutschen Schule nicht bestanden, obwohl sie an sechs Tagen die Woche täglich 12 Stunden mit Wissen vollgestopft wird. Wie frustrierend!
Laut HDI sind alle afrikanischen Länder heute ungleicher als vor sieben Jahren. Hier folgt Afrika einem globalen Trend. Der kollossale Reichtum der Eliten und der neuen urbanen Mittelklassen ist also wesentlich schneller gewachsen, als die Wachstumsresultate für die Armen.
Wo sind also die “Aufstiegssignale”? Gut, es gibt immer mehr Modernitätsinseln wie zum Beispiel durch den rasanten Bau riesiger und schicker Shopping Malls in Kenia und anderen afrikanischen Ländern – Land, Immobilien und Handel eben. Wer einen Porsche, Porzellan von Villeroy and Boch, Schmuck von Swarowski – oder eine Rundum-Schönheitsbehandlung möchte, kann das alles und noch viel mehr haben. Auch die urbanen Unterschichten pilgern sonntags herausgeputzt zu diesen Tempeln der Glückseligkeit, um den Fortschritt bei einer Coca Cola und einem Teller Fritten zu bewundern. Auch gibt es große Infrastrukturinvestitionen, Häfen, Straßen und Eisenbahnen, die von China finanziert und realisiert werden. Aber die Modernitätsinseln und die großen Infrastrukturvorhaben, von denen einige eine desaströse Kosten-Nutzenanalyse aufweisen, verbessern nicht die Lebensqualität der armen Massen.
Erfolgsgeschichte von M-Pesa und M-Kopa
Vielleicht gibt es zumindest zwei “Aufstiegssignale”, die man im Rahmen der Mobilfunkrevolution in Kenia, wo 82 Prozent der Menschen ein Handy besitzen, etwas ernster nehmen kann: Zum einen ist da die inzwischen zehnjährige Erfolgsgeschichte von M-Pesa (“Mobilgeld”) des Mobilfunkanbieters Safaricom. Dieser Dienst, mit dem man innerhalb von Sekunden per Handy Geld an die Familie auf dem Land schicken, Einkäufe und Dienstleistungen bezahlen oder Schulgeühren und Steuern entrichten kann, hat 18 Millionen oder fast 70 Prozent der erwachsenen Kenianer – die nur zu 31% Bankkonten besitzen – , als Nutzer mit knapp einer Milliarde US$ Umsatz pro Monat, 290.000 Agenten im Land, leistet einen Beitrag von 1,8% zum BIP und umfasst ein Drittel aller finanziellen Transaktionen des Landes. Der Erfolg von Safaricom, bis heute unter internationalen Managern, ist so groß, dass kenianische Politiker jüngst die Zerschlagung des Konzerns gefordert haben. Erfolg ist ungern gesehen und fordert regelmäßig Angriffe heraus.
M-Kopa (“Geld leihen”) ist ein Unternehmen, dessen Kunden zu 80 Prozent von weniger als 2 US$ pro Tag leben, die meisten als Kleinfarmer oder im informellen Sektor. Denen verkauft M-Kopa eine Solarbatterie, zwei LED-Glühbirnen, eine LED-Taschenlampe, ein aufladbares Radio und einen Adapter zum Laden des Handys. Die Kunden machen eine Anzahlung von 35 US$ und zahlen dann ein Jahr lang täglich per Mobiltelefon 45 Cent, bis das Set im Wert von US$ 200 ihnen gehört. Wer nicht zahlt, dessen Batterie wird über die SIM-Karte abgestellt. Weswegen sich M-Kopa als Finanzierungsunternehmen versteht, das den Menschen einen Jahreskredit von 165$ zu in der Region üblichen 20% Zinsen gewährt und auf diese Weise Energie erschwinglich macht. Das Unternehmen, 2011 gegründet, avisiert für 2017 eine Million verkaufter Solarsets. Hierbei werden die Gründer reich und die Kunden sparen netto ca. 200 $ pro Jahr an herkömmlicher Energie – Kerosin, Holzkohle usw.
M-Pesa und M-Kopa sind beide ein Segen für die Bevölkerung. Das Pikante an diesen “kenianischen” Erfindungen ist, dass hinter der Firma Safaricom Vodafone steht, und M-Pesa/M-Kopa nicht von Kenianern, sondern von jungen Ausländern ausgedacht und umgesetzt wurden.
Die eigentliche Misere des Kontinents
Laut Wahlkommission gibt es für die insgesamt 1.450 Sitze in den 47 kenianischen County-Parlamenten 40.000 Kandidaten oder 28 Anwärter pro Sitz, die bei den Wahlen im August dieses Jahres kandidieren. Ein “Member of County Assembly” (MCA) verdient mit Gehalt und Vergünstigungen 5.000 US$ im Monat, also ungefähr das 25-fache eines Durchschnittsverdieners. 34 der 67 Senatoren der zweiten Kammer des Parlaments, die immerhin 7.400 US$ verdienen, haben sich bereits entschieden, für andere Positionen – Abgeordnete, MCAs und County-Gouverneure – zu kandidieren, weil sie nur dort öffentliche Gelder kontrollieren können.
Kenias Wähler sind überrepräsentiert mit 2.526 MCAs, 349 Abgeordneten, 67 Senatoren, sowie je 47 Gouverneuren und ihren Stellvertretern. Laut eines vor Kurzem erschienenen Audits des Rechnungshofes sind die Gehälter für den öffentlichen Dienst 2012 und 2013 um gute 15% oder knapp 17% gestiegen, also um ein Vielfaches mehr, als die Wirtschaft mit rund 5% wuchs. Die diesbezügliche Situation im Nachbarland Uganda ist noch krasser.
Da 84% der 15 Millionen arbeitenden Kenianer informell beschäftigt sind, oft in Jobs mit geringer Produktivität und Wertschöpfung, und von den 16%, die formal angestellt sind, nur 3% über 1.000 US$ pro Monat verdienen, liegt die große Attraktion politischer Posten auf der Hand. Selbst für Mittelklassefamilien können Lebensrisiken schnell zum Ruin führen, es braucht nur eine schwere Krankheit. Diese Bürger zahlen stets “doppelt” Steuern, nämlich die Steuern, die anfallen und “geklaut” werden, und die Beträge, die daher für die private Finanzierung nicht existenter , schlechter oder unzureichender staatlicher Leistungen anfallen.
Der im amerikanischen Exil lebende Kommentator Makau Mutua (How tribalism drives graft and impedes real progress S. 15, Sunday Standard, 12. März 2017) bringt die Misere auf den Punkt, wenn er schreibt:
“In the early 1960s, South Korea was as underdeveloped — and backward — as Kenya, or Ghana. But in three decades, South Korea became a top-15 global economy … South Koreans over 50 years of age have a faint memory of unheated huts, earthen floors, and muddy roads. Life expectancy, literacy, per capita income, and other indexes of development are among the highest in the world. In Kenya and Ghana, we still labour with jiggers, cholera, a high infant mortality, malnutrition, and other Ebola-like pestilences. Nairobi, our nerve centre, has open sewers and no subway system. At peak hour, it takes hours to get to JKIA (Flughafen) from downtown. Contrast Kenya’s transportation infrastructure, which doesn’t exist, and South Korea. In Seoul, gleaming subway trains arrive exactly on the second. In Kenya, meanwhile, matatus – a euphemism for primitive public transport – careen our highways and byways leaving in their wake human carnage and putrid pollution. Our towns have no pedestrian walkways or bike paths. When our leaders get ill – even when a teargas canister from the police state hits them – they run to South Africa to get an eye patch. Some of our best brains were either exiled, or left the country out of frustration. As a people, we should collectively sit in our toilets and sorrowfully cry for our beloved country. We pay MPs forty times what we pay teachers …
In Kenya … the elite have agreed that they will loot 90 per cent, and only reinvest 10 per cent in the public economy. If Kenya were a human body, it would be in rigour mortis. As a political society, our soul is dead – no heartbeat. The people who sit atop the state are known looters and plunderers. Their public immoralities are legion. To them, the state is only useful as an instrumentality for looting and safeguarding the loot. That’s why the filthy rich are in politics – to protect their ill-gotten loot. You can count on the one hand the politicians who are in power to serve the public. Yet the overwhelming majority of Kenyans will give their lives for their thieving tribal barons. Democracy has failed to deliver us from our demons.”
Dieses unvermeidbare Zitat belegt, dass einheimische Beobachter die Lage Afrikas oft realistischer analysieren, als die internationale Entwicklungsindustrie. Es ist schon ein Fortschritt, dass die gegenwärtige Hungersnot in Europa und bei den Vereinten Nationen als menschengemacht bezeichnet wird. Nur hat auch dies keine Konsequenzen für die schuldigen afrikanischen Eliten. Es wird nur fleißig Geld gesammelt. Der neue “Marshallplan” des BMZ für Afrika konstatiert auf Seite 21:
“Jedes Jahr fließen über 50 Milliarden US-Dollar an illegalen Finanzströmen aus Afrika und entziehen den Volkswirtschaften wichtiges Kapital. Das entspricht der Summe der gesamten staatlichen Entwicklungsgelder. Das Vertrauen in staatliche Institutionen in Afrika ist im weltweiten Vergleich am geringsten.”
Angesichts dieser Erkenntnis sind die im Marshallplan enthaltenen Vorhaben einfach nur naiv. Die afrikanischen Eliten haben es noch immer geschafft, die Entwicklungspartner zu überlisten, während sich die Gebernationen an diplomatische Etikette halten. Fluchtursachen bekommt man so nicht in den Griff.
Dr. Dorothee von Brentano lebt in Nairobi.