Wer ist verantwortlich für das dysfunktionale Einwanderungssystem und fortwährende Massenmigration? In Großbritannien schieben sich die politischen Kontrahenten jeweils gegenseitig die Verantwortung für das Versagen in dieser Angelegenheit zu, und reklamieren Erfolge dementsprechend für sich:
Tatsächlich meldete das Nationale Amt für Statistik (Office for National Statistics, ONS), dass die „net migration“, also Einwanderung, die bereits mit Auswanderung gegengerechnet wurde, mit 906,000 Zuwanderern im Zeitraum von Juni 2022 bis Juni 2023 einen vorläufigen Höhepunkt erreicht habe – und korrigierte seine Zahlen damit nach oben. Dieser rasante Anstieg nach der Covid-Krise geht unter anderem auf Politik unter der konservativen Regierung Boris Johnsons zurück, unter der Einreisebestimmungen gelockert und der Erwerb von Arbeitsvisa erleichtert worden war; aber auch die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge spielt eine signifikante Rolle.
Ein Erfolg, den Premierminister Keir Starmer natürlich seiner Politik zuschreibt, während er den Tories vorwirft, Großbritannien zum Schauplatz eines Bevölkerungsexperiments gemacht zu haben, ein „one-nation“-Experiment mit offenen Grenzen.
Insofern zeigt sich die neue Vorsitzende der Konservativen, Kemi Bandenoch, strategisch deutlich klüger. Ihre Reaktion auf die neuen Zahlen leitete sie bereits im Vorhinein mit einem unumwundenen Schuldbekenntnis ein, und nimmt Kritikern den Wind aus den Segeln. Innerhalb der letzten dreißig Jahre seien von allen Parteien und Regierungen in diesem Bereich Fehler gemacht worden – und ja, auch die Konservativen hätten an dieser Stelle falsch gehandelt, so Badenoch. Vergleicht man diese Aussagen mit der trotzigen Sturheit, mit der sich etwa Angela Merkel weigert, Fehler in Sachen Migrationspolitik einzugestehen, wirkt die britische Oppositionsführerin geradezu vorbildhaft ehrlich und glaubwürdig.
Vor allem aber gesteht sie das ein, was ohnehin alle wissen und denken. Es kostet sie also nichts, sich in eine komfortable Ausgangsposition zu bringen, um die Labour-Regierung in Sachen Migration vor sich her zu treiben.
In einer Rede, die sie in Ausschnitten auch als Social-Media-Clip produziert und veröffentlicht hat, stellte Badenoch der britischen Öffentlichkeit einen Plan in Aussicht, den die Konservativen vorlegen wollen. Grundlage müsse die Einsicht sein, dass „das System kaputt“ sei. Laut Badenoch könne nur die Einsicht, dass sich grundsätzlich etwas ändern müsse, Abhilfe schaffen, sie fordert verbesserte Datenerhebung und -auswertung, und die gründliche Evaluation aller Regeln und Gesetze, die Migration betreffen.
Auch durch Migration verursachte kulturelle, wirtschaftliche und soziale Probleme spricht sie an. Allein: Während man der Feststellung, dass zu viel und zu schnelle Zuwanderung den inneren Zusammenhalt einer Gesellschaft schwächt und Integration unmöglich macht, nur zustimmen kann, nimmt das Thema illegale Immigration insgesamt überraschend wenig Raum ein. Wenig überraschend sind die Kosten für das britische Asylsystem mit 5 Billionen Pfund ebenso auf einem historischen Höchststand wie die Einwanderung an sich, die Ausweisung illegaler Einwanderer gelingt oft nicht.
Das ist in gewisser Weise symptomatisch: Immigration wird per se als Bedrohung empfunden, in der Praxis wird es aber jenen schwergemacht, die für die Gesellschaft einen Mehrwert bedeuten. So zeigen die Zahlen, dass insbesondere die Zuwanderung von internationalen Studenten – die horrenden Gebühren zahlen müssen, um in Großbritannien studieren zu können – zurückgegangen ist, sowie Zuwanderung über Arbeitsvisa, da die Gehaltsgrenze, die zum Erwerb eines solchen notwendig ist, signifikant erhöht wurde. Allerdings wurden auch die Zuwanderungsbestimmungen für Angehörige dieser beiden Gruppen stark verschärft, so dass etwa der Zuzug von Angehörigen von Studenten um ganze 41% sank.
Großbritannien macht sich teuer, unzugänglich und unattraktiv für jene, die dem Land gar nicht schaden. So lässt etwa die kämpferische Ansage Badenochs aufhorchen, dass Großbritannien Heimat sei, „kein Schlafsaal oder Hotel.“ Das stimmt zwar, lässt aber den Elefanten im Raum außer Acht.
Ebenfalls bleibt unerwähnt, dass gerade die kulturelle Komponente eine ist, die die Briten weithin selbst in der Hand haben: Es war nicht die Einwanderung, die Großbritannien in ein extrem säkularisiertes, von großen sozialen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten geprägtes Land verwandelt hat. Wenn Kemi Badenoch indirekt – und auf Social-Media auch durch die Bildauswahl, die ihre Ansprache unterlegt – auf ein good old England verweist, dessen Erbe aber fast nur noch nostalgisch tradiert, kaum noch aktiv gelebt wird, dann macht sie letztlich Zuwanderer zu Sündenböcken dafür, dass ein signifikanter Teil der Briten die eigene nationale Identität nicht ausreichend wertgeschätzt und gepflegt hat, während insbesondere politmediale Eliten sie aktiv zerstört haben. Diesem Problemkomplex wird auch geringere Einwanderung nicht beikommen, dazu bedürfte es auch einer konstruktiven Sozial- und Gesellschaftspolitik, und natürlich zuerst einer Abkehr von der woken Ideologie.
In all dem ist die Begrenzung von Migration also zwar notwendig, aber nur ein Teil der Lösung. Badenoch ist zumindest bewusst, dass die jetzt vorgelegten Zahlen, schaut man sie im Einzelnen an, trotz der in 2024 angedeuteten Entspannung keine Linderung der eigentlichen Probleme verheißen. Ob es den Konservativen mit ihr an der Spitze noch einmal gelingen wird, das Vertrauen der Briten zu gewinnen, und ob sie ihre Ankündigungen wird einlösen können, muss sich zeigen.