Vor einer Woche bin ich von einer weiteren Israel-Reise zurückgekehrt. Es war mein dritter Besuch seit Kriegsbeginn am 7. Oktober 2023 – in einem Land, das mir mit jedem weiteren Mal ein Stück mehr isoliert vorkommt. Besonders eindrücklich dieses Mal: die Lage am Flughafen Ben-Gurion. Innerhalb von etwa zwanzig Minuten hatte ich mein Gepäck abgegeben, die obligatorische Sicherheitsbefragung durchlaufen, die normale Sicherheitskontrolle überwunden und die Passkontrolle passiert. In einem im Vergleich zu meinen letzten Besuchen (auch schon in Kriegszeiten) fast leeren Flughafen, der von keiner großen internationalen Fluggesellschaft noch angeflogen wird.
Für Letzteres sind Sicherheitsgründe verantwortlich. Viele Staaten, darunter Deutschland, haben Reisewarnungen verhängt. Wenn sie mich fragen: völlig übertrieben. Aber so ist es nun einmal, und es trägt zur praktischen Isolierung des Landes bei.
Wohl noch schlimmer ist die politische und rechtliche Isolierung, die dieser kleine Staat und sein Volk nun seit über einem Jahr erleben. Sie hat am Donnerstag einen neuen Höhepunkt erreicht: Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag ist dem Antrag des (muslimischen) Chefanklägers Karim Khan gefolgt, Haftbefehl gegen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu und den kürzlich von ihm geschassten Verteidigungsminister Joav Gallant zu erteilen.
Die Haftbefehle sind als geheim eingestuft. In einer Pressemitteilung teilte das Gericht jedoch mit, die zuständige Kammer sehe „hinreichende Gründe“ zu der Annahme, Netanjahu und Gallant seien Mittäter des Kriegsverbrechens, „Hunger als Methode der Kriegsführung“ einzusetzen, sowie von „Mord, Verfolgung und anderen inhumanen Akten“. Außerdem gebe es „hinreichende Gründe“ zu der Annahme, Netanjahu und Gallant trügen Verantwortung für eine „gezielte Attacke gegen die zivile Bevölkerung“.
Während in Israel weiter die Raketen fliegen, insbesondere von der Hisbollah aus dem Libanon, ist diese Entscheidung nicht weniger als eine juristische Bombe. In Israel wird sie zu Recht als Teil der Kriegsführung gegen den jüdischen Staat wahrgenommen, auch bekannt als „lawfare“. Erstmals überhaupt hat der IStGH Haftbefehle gegen politische Führer eines westlich-demokratischen Staates ausgestellt: Netanjahu und Gallant finden sich nun in einer Reihe mit Politikern wie Wladimir Putin, Muammar al-Gaddafi und Umar al-Baschir wieder.
Und das, obwohl Israel das Römische Statut, das den IStGH 1998 begründete, nicht einmal unterzeichnet hat. Entsprechend ist der Haftbefehl schon formal und theoretisch eine unsägliche Anmaßung: Ein internationales Gericht entscheidet darüber, Anführer einer politisch souveränen Nation festzusetzen. Einer Nation, die als Rechtsstaat für sich in Anspruch nehmen kann, Kriegsverbrechen selbst gerichtlich zu verfolgen, so sie denn tatsächlich geschehen sind. Über die inhaltliche Absurdität der Vorwürfe haben wir da noch gar nicht gesprochen.
Fest steht: Israel muss nun extreme Auswirkungen befürchten: Rechtlich sind alle 124 Vertragsstaaten des Römischen Statuts dazu verpflichtet, Netanjahu und Gallant festzunehmen. Das betrifft etwa sämtliche EU-Mitgliedsstaaten und bedeutet am konkreten Beispiel: Würde Netanjahu einen Staatsbesuch in Deutschland unternehmen, müsste die deutsche Polizei ihn festsetzen und an den IStGH ausliefern.
So werden Besuche Netanjahus in Europa künftig entweder grundsätzlich unmöglich oder jedenfalls politisch heikel. Die Folgen liegen auf der Hand: Israel wird ganz praktisch weiter in die Isolation gedrängt. Davon abgesehen ist ihm nun ein weiteres internationales Kainsmal aufgedrückt: Zahlreiche, auch westliche Regierungschefs dürften sich jetzt zwei Mal überlegen, ob sie Netanjahu in Israel besuchen und sich mit dem angeblichen Kriegsverbrecher ablichten lassen.
Angesichts dieser verheerenden Entwicklung stellt sich zunehmend und mit steigender Dringlichkeit die Frage, wo das alles noch hinführen soll. Was macht eine derartige, oben bereits beschriebene Isolierung auf Dauer mit einem Land, mit einem Volk? Ein Ende ist ja nicht in Sicht. Wie verändert eine solche Ausgrenzung eine Gesellschaft, die bereits von einem Terrormassaker unvorstellbaren Ausmaßes schwer traumatisiert und verwundet ist?
Die Bundesrepublik Deutschland bezeichnet sich bekanntlich als Freund Israels. Trotzdem ist ausgerechnet von unserem Land keine echte Solidarität zu erwarten. Denn die Bundesregierung hat sich selbst in eine unauflösbar widersprüchliche Lage manövriert: Auf der einen Seite beschwört gerade Deutschland immer wieder großmäulig die Sicherheit Israels als Teil der deutschen Staatsräson. Eine rhetorische Übung, die in erster Linie dazu dient, sich selbst gut zu fühlen.
Auf der anderen Seite hängen deutsche Regierungen grundsätzlich, aber diese Regierung mit ihrer Außenministerin Annalena Baerbock im Besonderen einer Art politischen Religion an, die „das Völkerrecht“ für einen Wert an sich hält, gleichsam zum höchsten Ausdruck der Moralität hochstilisiert. Dass gerade dieses internationale Recht immer wieder politisch instrumentalisiert und als Waffe eingesetzt wird, insbesondere gegen Israel, verdrängt sie dabei geflissentlich.
Die Bundesregierung hat jetzt ein Problem: Als große Anhängerin des IStGH müsste sie eigentlich bekennen, Netanjahu in Haft zu nehmen, sollte er deutschen Boden betreten. Dies aber würde in concreto bedeuten, dass deutsche Polizisten an einem deutschen Flughafen den gewählten Regierungschef des einzigen jüdischen Staates festsetzen müssten. Wie das aussähe, muss man nicht weiter erklären.
Was also tut die Bundesregierung? Während sich zahlreiche Staaten bereits am Donnerstag zu Wort meldeten, herrschte in Berlin zunächst konsequentes Schweigen. Am Freitag dann teilte Regierungssprecher Steffen Hebestreit mit, „innerstaatliche Schritte“ in Konsequenz des Haftbefehls werde man „gewissenhaft prüfen“. Und: „Weiteres stünde erst dann an, wenn ein Aufenthalt von Premierminister Benjamin Netanjahu und dem ehemaligen Verteidigungsminister Joaw Galant in Deutschland absehbar ist.“
Derweil beteuerte Außenministerin Annalena Baerbock im ARD-Morgenmagazin, es gelte die „Unabhängigkeit der Justiz“, auch international: Man halte sich „an Recht und Gesetz“. Und SPD-Außenpolitiker Nils Schmid, bekannt für seinen israelkritischen Einschlag, sekundierte im Deutschlandfunk, Netanjahu müsse mit einer Festnahme rechnen, sollte er nach Deutschland kommen.
Die Bundesregierung selbst wird vermutlich auch in den kommenden Tagen nicht so konkret werden, sondern es bei allgemeinen Plattitüden und Bekenntnissen zum IStGH auf der einen und Israel auf der anderen Seite belassen. Gleichzeitig wird sie hinter den Kulissen auf die israelische Regierung einwirken, um Netanjahu im Fall der Fälle davon abzuhalten, nach Deutschland zu reisen und die Probe aufs Exempel zu machen. So könnte Deutschland mal wieder alle Seiten befriedigen. Es wäre das typische, lauwarme, verlogene Durchlavieren.
Derweil machen andere Länder vor, wie es besser geht. Der libertäre argentinische Präsident Javier Milei erklärte noch am Donnerstag, es handle sich um eine Entscheidung, die Israels legitimes Verteidigungsrecht kriminalisiere: „Argentinien drückt seine Solidarität mit Israel aus.“ Tschechiens Premierminister Petr Fiala sprach von einer „bedauernswerten Entscheidung“, die die Autorität des IStGH untergrabe.
Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg sagte, die Entscheidung sei „völlig unverständlich“ und untergrabe die Glaubwürdigkeit des Gerichts. Die beste Reaktion kam derweil aus Ungarn: Dessen Premierminister Viktor Orbán, ein guter Freund Netanjahus und langzeitiger Unterstützer Israels, erklärte, er werde dafür sorgen, dass die Anweisung des Gerichts nicht befolgt werde. Gleichzeitig kündigte er an, Netanjahu nach Ungarn einzuladen. Das ist echte Solidarität, zu der Deutschland nicht in der Lage ist.