Tichys Einblick
Ungarns Kinderschutz-Gesetz vor dem EuGH

Ungarn vor dem EuGH: Der Prozess, der die EU verändern kann

Ein außergewöhnliches Verfahren des EU-Gerichtshofs gegen Ungarn macht deutlich: Über die Zukunft der EU werden am Ende nicht die Wähler entscheiden, sondern Richter.

picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Petr David Josek

Vor dem Gerichtshof der EU hat ein Prozess begonnen wie kein anderer jemals zuvor. In der Rechtssache C-769/22 EU-Kommission gegen Ungarn treten 16 Mitgliedsländer und das EU-Parlament als Nebenkläger auf. Zudem erachtete das Gericht den Fall als so zentral, dass alle 27 Richter des Gerichtshofes (jedes Land ist mit einem Richter vertreten) dazu verpflichtet wurden, an der Urteilsfindung teilzunehmen.

Die Kommission fand in der ersten Anhörung am Dienstag denn auch bombastische Worte: Es gehe um nicht weniger als einen „frontalen Angriff gegen die europäische Gesellschaft“ durch die ungarische Regierung.

Ein wahrhaftiger Schicksalsprozess muss das sein, denkt man unwillkürlich. Womit droht Ungarn wohl die „europäische Gesellschaft“ zu zertrümmern? Mit seinem Kinderschutzgesetz. Vulgo: Anti-LGBTQ-Gesetz, so nennen es westliche Medien und viele EU-Politiker und Kommentatoren.

Die Fakten: 2021 verabschiedete Ungarn eine Novelle seines Kinderschutzgesetzes von 1997, dessen Essenz darin bestand, die sexuelle Erziehung von Minderjährigen ihren Eltern zu überlassen. Niemand sonst – Schulen, NGOs, Medien – sollte da ungefragt mitmischen.

Kritik erntete das Gesetz unter anderem deswegen, weil es „Homosexualität“ und „vom biologischen Geschlecht abweichende Formen sexueller Identität“ in einem Atemzug mit „Kinderschutz“ nannte. Kritiker verurteilten das als Diffamierung von Homosexuellen und sonstigen LGBTQ-Personen als potenziell pädophil.

Ungarns Regierung argumentiert, dass der Gesetzestext die Rechte von LGBTQ-Personen nicht einschränke, vielmehr gehe es darum, Minderjährige vor jeglichem, Sexualität thematisierenden Inhalt außerhalb der Familie zu schützen. Tichys Einblick hat den Gesetzestext damals dokumentiert:

Das also ist der Text, der eine Bedrohung der Grundfesten der EU bedeutet. Bei der ersten Anhörung der Parteien (Ungarn als Angeklagter und die Kommission als Kläger, sowie das EU-Parlament und 16 Mitgliedsländer als Nebenkläger) konnte man zuweilen um die Zukunft der gemarterten EU bangen. Luxemburg nannte das Kinderschutzgesetz einen „direkten Angriff gegen die EU“, und Belgien sprach von „militanter Demokratie“, die nötig sei, um sich solcher Angriffe zu erwehren. John Morijn, ein holländischer Rechtsgelehrter, der früher Strategien vorlegte, wie man Ungarn seiner turnusmäßigen EU-Ratspräsidentschaft berauben könnte, kommentierte das Geschehen aus dem Gerichtssaal live auf „bluesky“.

Treffend hob er hervor, worum es im Kern ging: um eine Neuinterpretation von Artikel 2 des Europa-Vertrages. Der lautet wie folgt: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“

In ihren Vorwürfen gegen Ungarn zog die EU-Kommission die Regeln des Binnenmarktes heran, um zu argumentieren, das Gesetz verstoße beispielsweise gegen den freien Warenverkehr und digitalen Handel. Das waren Argumente alter Schule, die Revolution liegt darin, dass die Kommission auch eine Verletzung von Artikel 2 des Europavertrages anführte, und zwar separat.

Dieser Artikel war, für sich genommen, bislang nie als Grundlage für Gerichtsverfahren aufgefasst worden. Wie Thierry Chopin und Emmanuel in einer Studie zum laufenden Verfahren 2023 darlegten, war es „lange allgemein akzeptiert, dass die in Art. 2 TEU aufgezählten Werte keinen unabhängigen rechtlichen Effekt“ haben. Sie seien als Richtwerte gedacht, um konkretere Regeln zu bewerten, könnten also nicht freistehend zur Grundlage eines Strafverfahrens gegen einen Mitgliedstaat werden. Denn sie seien so allgemein formuliert, dass es schwer sei, etwaige Verstöße dagegen zu konkretisieren.

Zudem schützt die EU theoretisch nicht nur die „Gemeinsamkeit“ der Grundwerte, sondern auch die „Diversität“ europäischer Kulturen. Dieser Aspekt dürfte im Falle einer Verurteilung Ungarns auf der Grundlage von Artikel 2 erheblich eingeschränkt werden: Konservative europäische Gesellschaften, die sich in demokratischen Wahlen für Parteien entscheiden, die „LGBTQ-Propaganda“ einschränken wollen, hätten kein Recht mehr auf eine entsprechende Politik und entsprechende Gesetze.

Morijn sieht es richtig: In diesem Verfahren wird „Rechtsgeschichte“ geschrieben, mit erheblichen politischen Konsequenzen. Eine Verurteilung Ungarns dürfte eine Zentralisierung und Föderalisierung der EU deutlich vorantreiben.

Die EU-Kommission selbst freilich bremste in der Anhörung: Obwohl sie es war, die als unabhängigen Anklagepunkt Artikel 2 ins Spiel brachte, argumentierte ihr Vertreter, Artikel 2 könne nicht „alleinstehend“ als justiziabel interpretiert werden. Ganz anders Deutschland.

„Jetzt Deutschland“, postete Morijn überwältigt in seinem Live-Blog auf bluesky aus dem Verhandlungsraum. „Das Gründungsmitglied der EU, und mit einigem Abstand sein mächtigster Staat, ergreift das Wort – im Raum wird es extra still. Der deutsche Vertreter spricht, bedeutenderweise, über das wichtigste Thema: Art. 2 TEU. Er ist justiziabel, er kann freistehend herangezogen werden. Sehr bedeutungsvoll!“

Das Urteil wird für Juli 2025 erwartet. An einem Schuldspruch gegen Ungarn kann kaum gezweifelt werden. Die Frage ist, ob die Richter den nebulösen Artikel 2 TEU als freistehenden Klagegrund gegen Mitgliedsländer aufwerten. Wenn ja, dann kann künftig alles mögliche als „Verstoß gegen die Grundwerte der EU“ interpretiert werden.


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