Tichys Einblick
„Taurus“ für die Ukraine

Friedrich Merz schubst die AfD in ein Dilemma

Durch seine Haltung zur Ukraine und durch die „Brandmauer“ fesselt der CDU-Chef nicht nur sich selbst. Auch die AfD gerät in Erklärungsnot: Plötzlich ist nicht mehr alles schlecht an Olaf Scholz. Und die AfD muss einen Wahlkampf allein für die Opposition machen – schon wieder.

picture alliance/dpa | Michael Kappeler

Es sieht so einfach aus: Bundeskanzler Olaf Scholz stellt im Bundestag die Vertrauensfrage und verliert, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ruft Neuwahlen aus. Kurzer Wahlkampf, Neuwahlen, aus die Maus.

Doch seitdem die Ampel nicht nur inhaltlich, sondern auch arithmetisch gescheitert ist, befinden wir uns natürlich schon längst im Wahlkampf. Entgegen landläufiger Meinung kommt es da sehr oft ganz besonders auf die Zwischentöne an. Und prompt ist gar nichts mehr einfach.

Die taktisch problematische Ecke, in die sich Friedrich Merz selbst durch sein aggressives Beharren auf der „Brandmauer“ zur Alternative für Deutschland manövriert hat, haben wir hier bei TE schon mehrfach ausgeleuchtet. Doch die Merz-Taktik bringt nicht nur ihn und seine Union in Schwierigkeiten.

Friedrich Merz schubst auch die AfD in ein Dilemma.

Diese Zwickmühle offenbart sich, wenn wir uns mal kurz eine Frage stellen, die im Moment niemanden in Deutschland zu interessieren scheint: Was passiert eigentlich, wenn Olaf Scholz im Bundestag die Vertrauensfrage stellt – und eine Mehrheit der Abgeordneten spricht ihm das Vertrauen aus?

Da gibt es zum einen die formale Seite: Das Grundgesetz legt fest, dass „der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen 21 Tagen den Bundestag auflösen“ kann, wenn „ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages“ findet (Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG).

In der Bundesrepublik Deutschland wurde die Vertrauensfrage bislang fünf Mal gestellt. Drei Mal verfolgten die jeweiligen Bundeskanzler damit ausdrücklich das Ziel, die Abstimmung zu verlieren und Neuwahlen herbeizuführen: Willy Brandt 1972, Helmut Kohl 1982, Gerhard Schröder 2005.

Zumindest bei Kohl und Schröder war das verfassungsrechtlich hoch umstritten, weil deren Regierungskoalitionen im Parlament in Wahrheit über sichere Mehrheiten verfügten. In beiden Fällen versprach man sich aber von Neuwahlen noch größere Mehrheiten. Doch das Grundgesetz sieht – nach den Erfahrungen der Weimarer Republik – die Selbstauflösung des Bundestages ausdrücklich nicht vor. Das Parlament soll gefälligst entsprechend dem Volkswillen Politik machen – und nicht das Volk so oft wählen lassen, bis den Politikern die Ergebnisse passen. Diese Hürde umsegelten beide, Kohl und Schröder, durch die „unecht“ verlorene Vertrauensfrage.

Verliert ein Kanzler das Vertrauen des Parlaments, dann (siehe oben) KANN der Bundespräsident Neuwahlen ausrufen (übrigens muss er das nicht tun). Spricht der Bundestag dem Kanzler hingegen das Vertrauen aus, dann DARF der Bundespräsident gar nichts tun. Dann geht das parlamentarische Leben halt weiter wie vorher. In unserem Fall bliebe Olaf Scholz also Bundeskanzler einer Minderheitsregierung. Für seine Politik müsste er sich wechselnde Mehrheiten im Bundestag suchen. Hier soll nicht bewertet werden, ob so etwas im immer noch viertgrößten Industriestaat der Welt sinnvoll ist oder gutgehen kann. Hier geht es nur darum, dass es so kommen würde, wenn Olaf Scholz die Vertrauensfrage nicht verlöre.

Das Ganze hätte natürlich auch eine inhaltliche Seite. Und da beginnt das Dilemma der AfD.

Denn so wenig echte Überzeugungen man dem amtierenden Kanzler auch zubilligen mag: In einer ganz bestimmten Sache hat er bisher nicht gewackelt. Scholz ändert einen einmal eingeschlagenen Weg bekanntlich ohnehin nicht gerne. Und diese eine Position hat er sich so nachdrücklich zu eigen gemacht, dass man sich ausgerechnet an diesem Punkt bei ihm erst recht keinen Meinungsumschwung vorstellen kann:

Olaf Scholz will keine deutschen Taurus-Marschflugkörper in die Ukraine schicken.

Das ist vielleicht der einzige politische Inhalt, wo der SPD-Mann mit der AfD übereinstimmt. Und es ist einer der Punkte, wo Friedrich Merz keinen Zweifel daran lässt, dass er als Bundeskanzler das genaue Gegenteil tun würde: Der CDU-Chef will möglichst sofort Taurus-Raketen an Kiew liefern.

Eine andere Politik gegenüber Russland und der Ukraine ist nun aber nicht nur für Sahra Wagenknecht wichtig (deren Bündnis es nach den jüngsten Umfragen gar nicht in den Bundestag schaffen würde). Eine drastische Änderung der deutschen Haltung im Ukraine-Konflikt ist auch für die AfD elementar: nicht nur für die blauen Parlamentarier, sondern gerade auch für die Parteibasis und die Anhänger.

Jeder, der in jüngerer Zeit mal eine AfD-Versammlung besucht hat, konnte hautnah miterleben, wie massiv und emotional dort die Ukraine-Politik der Ampel abgelehnt wird. Das ist eine Frage, die das Herz der Partei bewegt.

Die Zwickmühle besteht nun darin, dass eine Stimme gegen Olaf Scholz bei dessen Vertrauensfrage im Bundestag – über den Umweg der dann folgenden Neuwahlen – absehbar und ziemlich unausweichlich Friedrich Merz zum Bundeskanzler macht. Ja, Scholz ist für das AfD-Lager eine Hassfigur – aber er liefert keine Taurus-Raketen nach Kiew. Merz ist kein bisschen weniger verhasst (darauf kommen wir gleich noch) – und er wird Taurus-Raketen nach Kiew liefern.

Aus Sicht der AfD ist das die Wahl zwischen Pest und Cholera. Ein Dilemma eben, und kein kleines.

Offenbar wollen mehrere AfD-Bundestagsabgeordnete bei der Vertrauensfrage am 16. Dezember für Scholz – und damit gegen Merz – stimmen. Der Abgeordnete Jürgen Pohl hat nach einem Bericht von „Politico“ in einer internen Telegram-Gruppe wissen lassen:

„Klar und offiziell möchte ich mitteilen, dass ich Herrn Merz unter keinen Umständen in verantwortungsvoller Position sehen möchte. (…) Ich muss und ich werde somit in der Vertrauensabstimmung für oder gegen Scholz, für Scholz, als das kleinere Übel stimmen.“

Auch andere Bundestagsabgeordnete der Blauen aus Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen erwägen wohl denselben Schritt. „Politico“ nennt namentlich Christina Baum und sogar den Co-Parteivorsitzenden Tino Chrupalla.

An der Parteibasis dürfte das mindestens teilweise auf Zustimmung stoßen. Friedrich Merz gilt dort schon lange nur noch als „Blackrock-Merz“ – der Begriff hat sich praktisch als stehende Wendung für den CDU-Chef durchgesetzt. Er gilt als hässliches Gesicht des US-Finanzkapitalismus, der in der AfD nicht mehr Freunde haben dürfte als bei den Wagenknechten. Und mit seinen zuletzt immer schrilleren Attacken gegen die AfD hat der Oppositionsführer schon beinahe demonstrativ das Tischtuch zu den Blauen zerschnitten – auf unabsehbare Zeit, denn da sind tiefe Wunden entstanden.

Auf dem offiziellen AfD-Kanal bei X-früher-Twitter ist die Distanz gerade auch beim Thema Ukraine, mit Händen zu greifen:

„Während die Wahl von Donald Trump vorsichtige Hoffnung auf Frieden macht, legen Merz und die CDU die Lunte an den Frieden. Die AfD hat sich dieser Eskalationspolitik, die nicht im deutschen Interesse liegt, immer verweigert und wird es auch weiterhin tun: Wir brauchen eine diplomatische Lösung des Konflikts, anstatt weiterhin ein hochriskantes Drehen an der Eskalationsspirale zu betreiben. Friedrich Merz darf deshalb niemals Bundeskanzler werden!“

Mit Verlaub: Das sind schöne Worte, aber nicht mehr. Denn ein AfD-Nein zu Olaf Scholz im Bundestag macht Friedrich Merz, wie gesehen, quasi automatisch zum Bundeskanzler.

Rein parteiegoistisch muss die AfD auf Neuwahlen setzen. Beim letzten Urnengang 2021 erhielt sie 10,3 Prozent. Bei Neuwahlen sagen ihr die Umfragen jetzt 18 Prozent voraus – mindestens. Je nachdem, wer in den nächsten Bundestag einzieht und wer nicht, könnte die blaue Fraktion dann mehr als doppelt so groß sein wie bisher.

Entsprechend lässt Kanzlerkandidatin Alice Weidel ausrichten:

„Die Fraktionsspitze fordert seit Monaten Neuwahlen und wird auch entsprechend empfehlen, dem Bundeskanzler das Vertrauen nicht auszusprechen.“

Allerdings vermeiden es Weidel & Co. peinlich genau, eine andere große strategische Schwäche auch nur anzudeuten: Der Partei fehlt schlicht eine Machtperspektive – und auch daran ist letztlich Friedrich Merz schuld.

Denn die „Brandmauer“ sperrt nicht nur den CDU-Chef in einem Koalitions-Ghetto mit SPD und Grünen ein (die FDP wird absehbar und mit einiger Berechtigung aus dem Parlament fliegen). Der Ausschluss jeglicher Zusammenarbeit versperrt umgekehrt auch der AfD einstweilen jede Aussicht auf eine Regierungsbeteiligung.

Das ist nicht nebensächlich, denn nach aller Erfahrung will der deutsche Wähler vor seiner Entscheidung den Stichwert seiner Stimme kennen. Welche Regierung mache ich mit meinem Wahlzettel möglich? Deshalb gibt es Koalitionsaussagen im Wahlkampf. Deshalb haben die fürchterlichen Merkel-Jahre die Demokratiemüdigkeit bei uns so gefördert: Weil man 16 Jahre lang wählen konnte, was auch immer man wollte – man bekam trotzdem immer wieder und immer nur Merkel.

Was ist der Stichwert einer Stimme für die AfD?

Auf Bundesebene wählt man damit eine sichere Oppositionspartei – jedenfalls so lange, wie keine eigene parlamentarische Mehrheit der Blauen in Sicht ist. Oder solange die „Brandmauer“ nicht fällt. Die eigene Mehrheit wird es nach der Wahl im Februar 2025 nicht geben – ob es sie jemals gibt, darüber kann man spekulieren. Und die „Brandmauer“ baut Friedrich Merz gerade nicht ab, sondern er macht sie fleißig höher.

AfD-Bundesminister sind auf absehbare Zeit also nicht zu erwarten. Formal kann man mit einer Stimme für die Blauen deshalb „nur“ seinen Protest gegen die etablierten Parteien ausdrücken. Inhaltlich ist die AfD (mittlerweile zusammen mit dem BSW) die einzige Kraft, die eine andere Migrationspolitik und eine andere Haltung zur Ukraine und zu Russland vertritt.

Insgesamt wird die AfD bei nüchterner Betrachtung weiter ein großer Stachel im Fleisch der anderen sein. Das ist nicht wenig. Aber ist es genug, um Bürger zur Wahl zu bringen?

In den Umfragen fällt im Moment einerseits auf, dass die meisten Parteien höchstens an Zustimmung verlieren – aber keine Partei wirklich dazugewinnt. Mal ein Prozentpunkt mehr oder weniger hier oder da: Das sind keine relevanten Veränderungen (und auch das nur im Bereich der statistischen Fehlertoleranz). Weiterhin fällt auf, dass die „Sonstigen Parteien“ zusammengenommen schon die viertstärkste Kraft im Bundestag wären.

Da fragt man sich doch, ob nicht auch ein wichtiger Teil der von den etablierten Parteien frustrierten Wählerschaft einfach zuhause bleiben will. Leider unterlassen es alle großen Demoskopie-Institute, in die traditionelle Sonntagsfrage auch die Nicht-Wähler einzubinden. Die Auskunft, wie viele Wähler planen, nicht zur Wahl zu gehen, wäre enorm erhellend.

Das gilt vor allem für die Wahlkampfstrategie der AfD.

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