Nicht erst mit der Möglichkeit, dass bei Bundeswahlen eine Partei – gedacht war dabei bisher ausschließlich an die Unionsschwestern – die überwiegende Mehrzahl der Direktwahlkreise erobern und damit einen erheblichen Überhang an Ausgleichsmandaten veranlassen könnte, ist die Diskussion um das deutsche Wahlsystem einmal mehr in den Vordergrund gerückt.
Die eigentliche Problematik dessen, was am 8. Juli 1953 als Wahlgesetz der jungen Bundesrepublik beschlossen wurde, liegt jedoch deutlich tiefer und war in seiner Konsequenz seinerzeit kaum absehbar. Mit dem Blick auf nunmehr sechzig Jahre Anwendung ist man geneigt festzustellen: Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht.
Warum das so ist?
1953 wollten die gewählten Abgeordneten der verfassten bundesdeutschen Demokratie ein Wahlrecht schaffen, das ein Höchstmaß an gefühlter Gerechtigkeit bei gleichzeitiger Verhinderung der Zersplitterung des Parlaments gewährleistete. Hintergrund war die geglaubte Erfahrung, dass die Zersplitterung der Fraktionen im Reichstag des Deutschen Bundesstaats 1932/33 in die Katastrophe der Machtübernahme der nationalistischen Sozialisten geführt hatte.
Alles auf einmal
Also beschlossen die Abgeordneten des junge Deutschen Bundestages als Parlament der Rumpfrepublik Deutschland ein Wahlgesetz, das mehrere Prämissen festschrieb:
1. Der Deutsche Bundestag wurde nach einem geteilten System besetzt. Die Hälfte der damals vorgesehenen 484 Abgeordneten wurde über Direktwahlkreise besetzt. Bei der anderen Hälfte erfolgte die Besetzung über Landeslisten, die von den Parteien aufgestellt wurden. Die Anzahl der Abgeordneten, die aus einem Bundesland insgesamt entsandt wurden, war auf Grundlage der Bevölkerungszahl festgeschrieben (§ 6 Bundeswahlgesetz von 1953 – BWG53).
2. Der Wähler erhielt zur Besetzung des Parlaments zwei Stimmen. Mit der Erststimme wählte er den Direktkandidaten des Wahlkreises, mit der Zweitstimme die Landesliste (§ 7 BWG53).
3. Im Wahlkreis galt derjenige Bewerber als gewählt, der die relativ meisten Stimmen auf sich vereinen konnte. Für den äußerst unwahrscheinlichen Fall, dass zwei Bewerber die genau gleiche Stimmenanzahl bekommen sollten, entschiede das Los (§ 8 BWG53).
4. Über die Anzahl der Abgeordneten, die eine Landespartei unter der Maßgabe der in Punkt 1. dargelegten Abgeordnetenzahl in den Bundestag schicken konnte, entschied ausschließlich die Zweitstimme nach dem dHondt-Verfahren. Sollten über die Wahlkreise parteilose Abgeordnete in den Bundestag gewählt worden sein, so wurden die Zweitstimmen deren Wähler hierbei nicht berücksichtigt (§ 9.1 BWG53).
5. Sobald die Zuweisung der in einem Bundesland über die Zweitstimme errungenen Sitze erfolgt war, wurde von dieser Zahl die Anzahl der durch die Partei direkt gewonnenen Wahlkreise abgezogen. Die durch Direktmandate nicht vergebenen Mandate wurden durch die Parteiliste besetzt. Für den Fall, dass die Partei zu wenig Listenkandidaten aufgestellt hatte, verfielen die nicht besetzbaren Mandate (§ 9.2 BWG53).
6. Da ein gewählter Abgeordneter nicht für ungewählt erklärt werden konnte, war nicht auszuschließen, dass über die Wahlkreise mehr Bewerber in das Parlament einzogen, als deren Partei nach den Zweistimmen zugestanden hätte. Für diesen Fall erhöhte sich die Anzahl der dem jeweiligen Bundesland zustehenden Abgeordneten um die „Unterschiedszahl“ – also die Differenz der zwischen den gewählten und den zustehenden Abgeordneten derjenige Parteien, auf die eine solche Differenz zutraf (§ 9.3 BWG53).
7. In das Bundesparlament einziehen durften Listenkandidaten nur, wenn auf ihre Partei bundesweit mindestens fünf Prozent der abgegebenen, gültigen Zweitstimmen entfallen waren oder diese Partei mindestens ein Direktmandat über die Erststimme gewonnen hatte (§ 9.4 BWG53). Ausnahmen von der Fünf-Prozent-Regelung konnten für „nationale Minderheiten“ gelten (§ 9.5 BWG53).
Nachgeschobene Modifiktionen
Diese Regelungen, die im wesentlichen auch heute noch gelten, wurden zwischenzeitlich insbesondere in folgenden Punkten modifiziert:
zu 1. Die Anzahl der über die Landeslisten zu besetzenden Abgeordnetenmandate ist nicht mehr festgeschrieben, sondern berechnet sich jeweils aktuell nach Bevölkerungsanzahl und auf die Parteien entfallenden Zweitstimmen (§ 6.2 BWG 2016). Es kann an dieser Stelle darauf verzichtet werden, die Details dieses Berechnungsverfahrens zu erläutern.
zu 6. Da die Zweitstimme als absolutes Verteilungskriterium gesehen wird, sind sogenannte Überhangmandate – also Direktmandate, die den Anteil an der Zweitstimmenzuweisung übersteigen – solange auszugleichen, bis die mathematisch korrekte Verteilung nach Verhältniswahlrecht gewährleistet ist. Es ist diese Regelung, die die Gefahr eines bildlich aus allen Nähte platzenden Bundesparlaments heraufbeschwört.
zu 7. Die Ausnahmeregelung von der Fünf-Prozent-Klausel ist dahingehend verändert, dass von einer unter diese fallenden Partei mindestens drei Direktmandate direkt errungen werden müssen.
Eingebaute Irrungen
Diese Kernelemente des bundesdeutschen Wahlrechts bezeichnete ich bereits als „gut gemeint“, aber nicht zwangsläufig gut gemacht. Denn sie bergen einige offensichtliche, aber auch einige weniger deutlich erkennbare Probleme.
Das erste dieser offensichtlichen Probleme wurde bereitsangedeutet. Erhält eine Partei mehr Direktmandate als ihr nach Zweitstimmen zustehen, so wird das Parlament in seiner Abgeordnetenanzahl so lange erhöht, bis es mathematisch wieder stimmt. Die unmittelbare Folge davon ist ein deutlicher erhöhter finanzieller Aufwand, den die Steuerzahler für ihre politische Vertretung hinblättern müssen. Damit könnte man im Sinne von Demokratie und Chancengleichheit vielleicht noch leben, würden diese Abgeordneten ihrer Pflichten gegenüber dem Wähler gerecht.
Das deutlich größere Problem jedoch ist die Entwertung des Direktwahlmandats. Ging die ursprüngliche Intention des Wahlrechts noch davon aus, dass sich die unmittelbaren Bürgervertreter den Parteienvertretern gleichrangig gegenüber standen, so verschiebt die Praxis der Ausgleichmandate das Gewicht einseitig zugunsten der Parteienkandidaten. Tatsächlich allerdings legten bereits die Abgeordneten von 1953 den Samen für eine Fehlentwicklung, die kurz als „Parteienprimat“ bezeichnet werden soll. Nicht zuletzt die Regelung des § 9.1, wonach die Zweitstimmen von Wählern, die erfolgreich einen parteilosen Kandidaten unterstützt haben, wegfallen, stellt die Parteipräferenz über den Wählerentscheid.
Vor allem bei Parteien, die keine oder nur wenige Direktmandate besetzen – hierunter fallen nicht nur die kleinen Parteien, sondern landesabhängig sogar bundesweit große Parteien wie beispielsweise die Union in Hamburg oder Bremen – ist dadurch der in das Parlament entsandte Abgeordnete nicht mehr das, was er eigentlich sein sollte: Ein Bürgervertreter. Vielmehr mutiert er zum Parteienvertreter, denn ausschließlich die Partei entscheidet darüber, ob ein Bewerber parlamentarische Karriere macht oder nicht.
Die Parteien, ursprünglich als Interessenvertretungen der Bürger gegründet, werden zu Klientelparteien. Wer in den Parteien die Macht hat, bestimmt darüber, welche Politik in den Parlamenten gemacht wird – Bürgerinteressen werden nebenrangig, so sie sich nicht zufällig mit den Interessen der Parteiführungen oder der Mehrheit der Parteimitglieder decken. Die Abgeordneten sind nicht mehr dem Gemeinwohl, sondern dem Parteienwohl verpflichtet.
Dieser Klientelismus ist extrem ausgeprägt in eben jenen Kleinparteien wie „Die Grünen“, „FDP“ und „Partei die Linke“, welche ihre Abgeordneten fast ausschließlich über Landeslisten entsenden. Aber auch in den selbst ernannten „Volksparteien“ prägt das Primat des Klientelismus das Geschehen. Aus gutem Grunde.
Das Primat der Landesliste führt zur Politikerverdrossenheit
Die Regelung des Primats der Landesliste hat zur Folge, dass den Parteiführungen ein machtvolles Instrument der Mitgliederdisziplinierung in die Hand gegeben wurde. Da die Landesliste unabhängig von den Wahlkreisen besetzt wird, haben sich die jeweiligen Landesvorstände in aller Regel Instrumentarien geschaffen, maßgeblich in die Listenaufstellung hinein zu wirken, diese vielleicht sogar absolut zu dominieren. Die Folge: Wer sich für den Bürger politisch engagieren möchte, muss in allererster Linie der Parteiführung genehm sein. Dadurch entstehen Kaderhierarchien, Karriereseilschaften und Hinterzimmerklüngel, die sich an allem orientieren – nur nicht am Bürgerinteresse. Wie sich dieses bereits vor Jahrzehnten in der Hamburgischen Union ausgewirkt hat, das beschrieb Helmut Stubbe-da Luz eindrucksvoll in seinem Buch „Parteiendiktatur“.
Die Folge hiervon sind Abgeordnete, die in der finanziellen Abhängigkeit vom Mandat zum Erfüllungsorgan ihrer Parteiführungen werden. Da die Bedeutung der Direktmandate sinkt, diese in manchen Regionen ohnehin nur noch an die Direktmandate gekoppelt als doppelte Absicherung des Parlamentseinzugs vergeben werden, entsteht das, was Politiker gern als „Politikverdrossenheit“ bezeichnen, was jedoch bei genauem Hinschauen sich als nichts anderes als tiefgreifende „Politikerverdrossenheit“ erkennen lässt.
Neben diesem Verlust der nur noch proforma in der Verfassung festgeschriebenen Unabhängigkeit der Abgeordneten tun dann Mechanismen wie die staatliche Parteienfinanzierung, die Vermengung von Legislative und Exekutive sowie das Abgeordnetenmandat als Karrieresprungbrett für den Einstieg in die Exekutive oder die politische Tätigkeit im Parlament als Durchlauferhitzer für die Führungsposition in staatseigenen Betrieben oder Bundesgerichten ein weiteres, um aus der Bürgerdemokratie eine Parteiendiktatur zu schaffen.
Da es hier den Rahmen sprengen müsste, sollen diese kurz angerissenen Teilaspekte späteren Überlegungen vorbehalten bleiben. Konzentrieren wir uns hier auf das Wahlsystem.
Anarchische Demokratie hilft auch nicht
Um die Auswüchse des Parteienstaats in der verfassten Demokratie über Wahlrechtsänderungen einzudämmen, kamen in der Vergangenheit wiederholt Initiativen aus Kreisen anarchischer Demokraten, über Instrumentarien des Panaschierens und Kumulierens ebenso wie mit Instrumenten einer angeblich direkten Demokratie die Parteienmacht zu brechen. Doch tatsächlich erfolgreich waren diese Wege selbst dort nicht, wo sich die Parteien ihnen unter öffentlichem Druck gebeugt haben.
Da die Listenaufstellung der Bewerber nach wie vor in der Hand der Parteiführung beziehungsweise kleiner Parteieliten liegt, kann der Wähler mit seiner Stimme bestenfalls etwas an der Makulatur verändern. Das System selbst bleibt unberührt. Welche Folgen das haben kann, demonstrierte jüngst einmal mehr die Hamburger CDU, die im Widerspruch zum Bundesstatut ihrer Partei sämtliche halbwegs erfolgsversprechenden Listenplätze zur Bundestagswahl mit männlichen Parteikarrieristen besetzen ließ. Die Frauen blieben außen vor – Austritte und Frustration der ohnehin unterrepräsentierten Damen waren die Folge.
Wenig tauglich sind auch die gern eingeforderten Instrumentarien sogenannter direkter Demokratie. Einerseits sind derartige Instrumente großflächig bereits überall dort verankert, wo Bürgerinteressen auf kommunaler Ebene direkt berührt sind. Andererseits setzt die Entscheidung über komplizierte Sachverhalte deutlich mehr voraus, als aus dem Bauch heraus für oder gegen etwas zu sein. So ist mir der Fall eines Bürgerbegehrens in guter Erinnerung, mit dem Anwohner ein ökologisches Wohnungsbauprojekt auf einem verwahrlosten Nachbargrundstücks ausschließlich deshalb verhindert wollten, weil Bauverkehr und Anbindung durch ihre idyllische Stichstraße geführt werden sollte. Offiziell wurden in der Innenstadtlage die Schutzansprüche nie gesehener, schützenswerter Tierarten und nicht vorhandener, wertvoller Baumbestand als Begründung angeführt – das bewusst in die Irre geführte Wählervolk ließ sich täuschen und gab den um ihre Ruhe besorgten Anwohnern per Votum seine Zustimmung.
Es gab bereits ein besseres System
Tatsächlich wären all diese Instrumentarien wie komplizierte Wahlverfahren und sogenannte direkte Demokratie auch nicht nötig, wenn das Wahlrecht wieder zu seiner ursprünglichen Funktion zurückkehren würde. Um zu wissen, wie dieses funktioniert, reicht ein Blick in das Wahlrecht des Norddeutschen Bundes vom 31. Mai 1869. Dieses definierte seine demokratischen Grundsätze, welche während der gesamten Zeit des ersten deutschen Bundesstaats unter dem Präsidium des Königs von Preußen Anwendung fanden und dem preußischen Wahlrecht folgten, unmissverständlich in den folgenden Zeilen:
§ 6. Jeder Abgeordnete wird in einem besonderen Wahlkreise gewählt.
§ 12. Die Wahl ist direkt. Sie erfolgt durch absolute Stimmenmehrheit aller in einem Wahlkreise abgegebenen Stimmen. Stellt bei einer Wahl eine absolute Stimmenmehrheit sich nicht heraus, so ist nur unter den zwei Kandidaten zu wählen, welche die meisten Stimmen erhalten haben.
Das bedeutet: Im Bundesstaat mit der Bezeichnung „Deutsches Reich“ gab es kein Listenwahlrecht. Die Anzahl der Parlamentarier war festgeschrieben und bestimmte letztlich, wie viele Wähler in einem Wahlkreis zusammengefasst werden mussten. Hierbei – auch das eine kluge Regelung, sollten gewachsene Strukturen berücksichtigt werden, um die Bürgernähe zu gewährleisten. Bedeutete: Ländliche Regionen sollten in der Wählerschaft nicht durch Städter überstimmt werden können, Arbeiter nicht durch Bürgerliche und so fort. Jeder Abgeordnete musste sich in seinem Wahlkreis direkt beim Bürger um die Zustimmung zu seiner Kandidatur bewerben. Gewählt war er nur, wenn er eine absolute Mehrheit der Wähler an sich binden konnte. Gab es im ersten Wahlgang keinen solchen Bewerber, so gingen die beiden Bewerber mit den relativ meisten Stimmen in die Stichwahl. Damit war gewährleistet, dass im Bundesparlament ausschließlich Abgeordnete saßen, die unabhängig von ihrer Parteienzugehörigkeit ihren Wählern verpflichtet waren. Es waren Bürger- und keine Klientelvertreter. Denn um wiedergewählt zu werden, mussten sie nach Ablauf der Legislaturperiode erneut vor ihre Wähler – und nicht vor die Parteigremien – treten und Rechenschaft ablegen.
Dieses Wahlsystem erwies sich in seiner demokratischen Repräsentativität als überaus erfolgreich – selbst für kleine Parteien. Denn dort, wo Bewerber von den Bürgern als ihre Vertreter anerkannt wurden, spielte die Parteizugehörigkeit nur eine untergeordnete Rolle. Dennoch oder vielleicht auch gerade deshalb gelang es den „Sozialisten“ als Vorläufer der SPD, von Wahl zu Wahl mehr Mandate zu erobern und seit 1890 ständig die stärkste Reichstagsfraktion zu stellen. Bei der letzten Wahl vor dem Krieg, am 12. Januar 1912, stellten die Sozialisten mit 34,2 % bereits jeden dritten Reichstagsabgeordneten – bei insgesamt sechs Fraktionen von Konservativen über Liberale und Zentrum bis Antisemiten (welche allerdings mit gerade einmal 2,9 Prozent bedeutungslos waren).
Das Wahlrecht von 1869 verhindert Politikerverdrossenheit
Zusammenfassend lässt sich feststellen: Das Wahlsystem der deutschen Demokratie des 19. Jahrhunderts würde auch heute in diesen Kernelementen dem Bürgeranspruch nach Unmittelbarkeit deutlich mehr gerecht werden als jener Parteienklientelismus, den die Gesetzgeber 1953 vermutlich unbedacht dem deutschen Staat in die Nachkriegswiege gelegt hatten. Der direkt gewählte Abgeordnete, hinter dem mindestens die Hälfte der Wähler stehen muss – unmittelbarer kann es in der verfassten Demokratie eines Millionenvolkes nicht gehen.
Jedoch – reden wir nicht drum herum: Da sich in den Parteien jene breit gemacht haben, denen Politik zur persönlichen Karriere und nicht als Bürgerrepräsentation dient; da die gut gepolsterten Diäten heute nur noch für jene zu erlangen sind, die entweder das Wohlwollen der Parteienführungen haben oder selbst eben diesen angehören, ist nicht nur der Bürger aus dem Geschäft – die Damen und Herren, durchaus gelegentlich auch untauglich, außerhalb der Politik einer geregelten Tätigkeit erfolgreich nachzugehen, werden alles daran setzen, ihren Selbstbedienungsladen mit allem, was ihnen zur Verfügung steht, zu verteidigen.
Daher bleiben die hier angestellten Überlegungen reine Theorie, wollte man sie nicht mit der These verknüpfen, dass eine kleine Revolution von Zeit zu Zeit den abgestandenen Mief aus verkrusteten Kämmerchen vertreiben könnte. Und insofern ist es auch obsolet darüber nachzudenken, dass die Demokraten von 1869 möglicherweise so Unrecht nicht hatten, als sie für Wahlberechtigung und Wählbarkeit noch einige Passagen festgeschrieben hatten, die sicherstellen sollten, dass nicht der Bedürftige den Staat plündert, indem er die Staatsplünderer zu seinen Abgeordneten wählt:
§ 3. Von der Berechtigung zum Wählen sind ausgeschlossen: 1) Personen, welche unter Vormundschaft oder Kuratel stehen; 2) Personen, über deren Vermögen Konkurs- oder Fallitzustand gerichtlich eröffnet worden ist und zwar während der Dauer dieses Konkurs- oder Fallit-Verfahrens; 3) Personen, welche eine Armenunterstützung aus öffentlichen oder Gemeinde-Mitteln beziehen oder im letzten der Wahl vorhergegangenen Jahre bezogen haben; 4) Personen, denen in Folge rechtskräftigen Erkenntnisses der Vollgenuß der staatsbürgerlichen Rechte entzogen ist, für die Zeit der Entziehung, sofern sie nicht in diese Rechte wieder eingesetzt sind.
Demokratie ernst genommen
Übrigens – dieses nun zum Schluss: Wie ernst es die damals vom Volk gewählten Abgeordneten mit ihrer Demokratie meinten, lässt sich nicht ohne Schmunzeln nachlesen, wenn man in die Protokolle der ersten Plenarsitzungen der frisch gewählten Parlamente schaut. Dort wurde lang und ausführlich bis ins Detail über Anzeigen von Wahlfälschung und Wahlmanipulation berichtet und entschieden.
Besonders hübsch ein Fall, wo der Wahlberechtigte durch den Ortspolizisten genötigt worden war, entweder einen bereits mit einem bestimmten Kandidatennamen versehenen Stimmzettel oder einen leeren Zettel zu nehmen. Auch bestand die Möglichkeit, bereits einen ausgefüllten Stimmzettel – also ein Blatt Papier mit dem gewünschten Kandidatennamen – mitzubringen und abzugeben. Das allerdings wurde vom Ortspolizisten ebenso ungern gesehen wie die Abforderung des leeren Stimmzettels.
Um den Unwägbarkeiten von Demokratie dann abschließend zu begegnen, waren in der unverschlossenen Urne zwei Fächer eingefügt: Eines für die Namenszettel, das andere für den Rest. Da konnte in der Überschaubarkeit der Kommune nun schnell festgestellt werden, wer sich wider den regionalen Wunschkandidaten ausgesprochen hatte.
Zur Anzeige gebracht hatte diesen Fall von offensichtlicher Wahlmanipulation der Ortspfarrer – der frisch gewählte Reichstag folgte seiner Kritik und veranlasste eine nun tatsächlich geheime und unbeeinflusste Neuwahl.