In diesen Tagen fällt immer wieder der Begriff „Taurus“, und es wird diskutiert, ob Deutschland diese Waffe an die Ukraine liefern soll. Ist den Betreffenden eigentlich klar, worüber sie da so leichtfertig reden? Putins Vertrauter Dimitri Medwedew kommentierte die deutschen Absichten mit den Worten: „Generell ist es überraschend, in welchem Ausmaß die gegenwärtige Generation europäischer Politiker den Krieg auf ihr Territorium ziehen will.“
Aber worum handelt es sich dabei? Ist Taurus eine Rakete, eine Drohne, ein „Marschflugkörper“, ein Geschoss? Die technischen Daten sind leicht zugänglich, und an einem fiktiven Szenario soll hier demonstriert werden, was auf dem Spiel steht.
Kein unbekanntes Flugobjekt
Der Taurus ist ein Flugapparat, so lang (5 m) und so schwer (1,5 t) wie ein größeres Auto, mit einer Spannweite von 2 Metern. Mit solchen Stummelflügeln würde der schwere Apparat bei rollendem Start niemals vom Boden abheben. Deshalb wird er unter ein Flugzeug gehängt, etwa eine McDonnell Douglas F-15, und dann bei hoher Geschwindigkeit (ca. 900 km/h) ausgeklinkt.
Jetzt ist er ein autonomes Flugzeug, mit Autopiloten, Navigationssystemen und einer halben Tonne Sprengstoff an Bord. Die genauen Zielkoordinaten samt Route sind bei der Einsatzplanung am Boden programmiert worden. Angetrieben wird der Taurus von einem „Turbofan“ mit 7 kN Schub; diese Kraft entspricht etwa der Hälfte seines Gewichts. Turbofans treiben in größerer Ausführung, und für eine längere Lebensdauer ausgelegt, auch unsere Airliner an.
Der Treibstoff reicht für einen 45-minütigen Flug, das ergibt gut 500 km. Und noch etwas: Der Taurus ist in der Lage, sein Ziel zu erkennen. Er hat ein dreidimensionales digitales Modell davon gespeichert und vergleicht es beim Anflug mit dem, was seine Kamera sieht. Und was würde passieren, wenn er sein Ziel nicht zu Gesicht bekäme? Dann fliegt er weiter zu einem vorprogrammierten Ort, an dem er sich schadlos in die Luft sprengt. (Janes.com)
Der Spieß wird umgedreht
Wie sähe nun ein Taurus-Einsatz in der Praxis aus? Drehen wir dazu den Spieß um: Nehmen wir an, auch Russland hätte so einen Taurus zur Verfügung – eine vermutlich ganz realistische Annahme.
Von der Luftwaffenbasis Levashovo bei St. Petersburg startet eine Suchoi 57 mit solch einer Waffe unter dem Rumpf, nimmt Kurs nach Westen und steigt auf die übliche Flughöhe. Bald ist sie über der Ostsee und wird auf den Radarschirmen der estnischen und finnischen Luftüberwachung sichtbar. Für die ist das keine Überraschung, denn russische Piloten machen hier gerne ihre „Dogfights“.
Eine halbe Stunde später dreht die Suchoi nach Südwesten und setzt ihren Flug über Wasser fort. Nach einer weiteren halben Stunde, in der Nähe der Insel Bornholm, drückt der Pilot einen roten Knopf. Für den Taurus ist es das Signal, sein Triebwerk anzulassen und sich auszuklinken, worauf die Suchoi eine steile 180-Grad-Wende macht und wieder nach Hause fliegt.
Auf sich allein gestellt
Der Taurus ist jetzt auf sich allein gestellt. Als Erstes verlässt er seine Flughöhe und geht in steilem Sinkflug auf 10 oder 20 Metern über dem Wasser. Jetzt ist er unter dem Radar. Eine ganze Palette von Systemen zeigt ihm seine genaue Position an. Falls das GPS gestört sein sollte, benutzt er sein INS (Inertial Navigation System), dann hat er noch eine Kamera an Bord, welche die Landschaft beobachtet und mit der digitalen Landkarte des Bordcomputers vergleicht. Über Wasser ist das zwar keine Hilfe, aber das Bordradar erkennt die Küstenlinie, und aus all diesen Daten kann der Taurus seine Position auf ein paar Meter genau berechnen.
Um seinen Bestimmungsort zu erreichen, fliegt er weiter Kurs Südwest, und zwar mit Mach 0,9, das sind 300 Meter pro Sekunde oder 18 Kilometer in der Minute. Nach 10 Minuten ist er über der Bucht von Greifswald und dreht nach Süden. Unter ihm ist jetzt die Mecklenburger Landschaft, die er mithilfe seines TFR („Terrain Following Radar“) in geringer Höhe, aber mit unverminderter Geschwindigkeit überfliegen kann. Nach weiteren 10 Minuten hat er die Stadtgrenze von Berlin erreicht. Jetzt zieht er steil nach oben, um sein genaues Ziel, wie ein Adler, aus großer Höhe zu identifizieren.
Und da ist es auch gefunden: der rechteckige Grundriss mit der Kuppel in der Mitte lässt keinen Zweifel daran, genau so ist es in seinem Programm gespeichert. Der Taurus stürzt sich jetzt von oben herab genau mitten in sein Ziel hinein. Zuerst zündet die „Penetration Charge“, das ist die kleinere Ladung, die zum Durchdringen einer möglichen Schutzwand notwendig ist. Sie zerfetzt die gläserne Kuppel in tausend kleine Splitter. Nach einigen Millisekunden explodiert dann die eigentliche große Bombe von ca. 400 Kilo und legt das Reichstagsgebäude, von innen heraus, in Schutt und Asche. Das Schicksal der Menschen darin: unvorstellbar.
Die Suchoi ist inzwischen unversehrt in Levashovo gelandet.
Die beste Verteidigung?
Bei dieser Mission hat der Angreifer dem Gegner einen maximalen Schaden zugefügt, ohne selbst ein Risiko eingegangen zu sein. Das macht den Taurus zu einer sehr begehrten Waffe. Aber dient er auch zur Abwehr eines Feindes? Nur wenn Angriff für die beste Verteidigung gehalten wird. Aber diese Strategie führt zwangsläufig zu einer rasanten Eskalation jeden Konfliktes; da kann der Streit um eine Halbinsel in einen Weltkrieg ausarten, so wie das Attentat auf einen österreichischen Erzherzog.
Die Lieferung von Taurus-Flugkörpern an die Ukraine könnte also weitreichende, nicht abzusehende Konsequenzen haben. Die aktuelle Debatte dazu wird dem nicht gerecht, sie wird auf dem falschen Niveau und in den falschen Kreisen geführt. Wer eine Maschine, die zum Massenmord eingesetzt werden kann, stolz auf seinem (oder ihrem) T-Shirt herumträgt, ist geschmacklos oder zynisch. Das wird nur noch übertroffen von der Redaktion eines Fernsehprogramms für Kinder, wo diese Mordmaschinen als schnuckelige Tierchen den Fünfjährigen näher gebracht werden sollen.
Denn sie wissen nicht, was sie tun
Ganz offensichtlich ist Taurus alles andere als generisches Rüstungsmaterial. Der Lieferant ist zwangsläufig mehr oder weniger aktiv am Einsatz jedes einzelnen Flugkörpers beteiligt. Das ist anders als beim Verkauf von 5,56 mm Munition für Sturmgewehre. Wenn da die Ware über den Ladentisch geschoben ist, kann der Lieferant sie vergessen; er braucht nicht zu wissen, wo und wie sie eingesetzt wird.
Der Autopilot des Taurus dagegen muss mit einem Flugplan für seinen spezifischen Einsatz gefüttert werden, so wie aus dem oben beschriebenen Beispiel ersichtlich. Dafür bedarf es großer Mengen präziser, möglicherweise auch geheimer geographischer und militärischer Daten. Und es bedarf gut ausgebildeter Spezialisten, um auf Basis dieser Daten und dem Ziel der Mission das Profil des Einsatzes auszuarbeiten.
Vermutlich sind solche Experten nicht sehr zahlreich und sicherlich könnten sie ihr Wissen nicht in ein paar Tagen dem Personal des kriegsführenden Militärs vermitteln, ohne sich selbst dabei an der konkreten Mission zu beteiligen. Egal, was für eine Uniform diese Experten dann anziehen würden, Deutschland als Lieferant des Taurus wäre dann im Krieg mit Russland.
Dieser Artikel erscheint auch im Blog des Autors Think-Again.
Fußnote: Die ukrainischen Streitkräfte haben nach Angaben ihres Generalstabs nachts ein Munitionslager in der russischen Grenzregion Brjansk mit von den USA gelieferten ATACMS-Raketen getroffen (FAZ).