Tichys Einblick
Angriff auf den Bundestag

Wie Friedrich Merz, Olaf Scholz und Robert Habeck das Parlament delegitimieren

Der CDU-Chef hat die Sozialdemokraten und die Grünen öffentlich dazu eingeladen, bis zur Neuwahl im Februar im Bundestag ein Kartell zu bilden. Es wäre das Ende des Parlamentarismus, wie er im Grundgesetz steht. Und es ist ein Vorgeschmack auf das, was uns unter einer Kenia-Koalition erwartet.

picture alliance/dpa | Kay Nietfeld

Was am Mittwoch in Berlin passiert ist, erscheint am Tag danach und mit einer Mütze Schlaf zwischendurch nur noch monströser.

Man ringt immer noch um die richtigen Worte für den Frontalangriff auf das Grundgesetz, den CDU-Chef Friedrich Merz in der Debatte über die Regierungserklärung des Bundeskanzlers da in aller Öffentlichkeit geritten hat. Am besten trifft es wohl ein abgewandelter Schiller:

„Zum Bundestag, dem lästigen, schlich
Friedrich – den Dolch im Gewande.“

Der Oppositionsführer hat der SPD und den Grünen ernsthaft angeboten, bis zu den Neuwahlen zum Bundestag am 23. Februar 2025 nur noch solche Inhalte im deutschen Parlament zu beraten, auf die sich diese drei Parteien vorab verständigt haben. Alle anderen Anträge von allen anderen Parteien will Merz gar nicht erst auf die Tagesordnung setzen. Seine Begründung:

Damit „keine zufällige Mehrheit mit denen da zustande kommt“. Dabei zeigt er auf die AfD.

Viele Kommentatoren sind inzwischen kurz und kritisch darauf eingegangen. Auch durch die sozialen Medien schwappt eine kleine Erregungswelle. Das ist alles schön und gut. Aber, mit Verlaub, es ist zu wenig. Viel zu wenig.

Debatte im Bundestag
Die Angst des Friedrich Merz vor der AfD, ein unnützes Parlament und die ewige GroKo
Denn was Friedrich Merz da seelenruhig und in aller Öffentlichkeit vorschlägt, ist nicht weniger als die systematische Entmachtung des Bundestags. Der 69-Jährige will offiziell den Wählerwillen, die Gewissensfreiheit der Abgeordneten und die Freiheit des Parlaments abräumen – also die drei tragenden ideellen Säulen unseres politischen Systems, wie das Grundgesetz es vorsieht.

Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU macht sich also auf, zusammen mit Sozialdemokraten und Grünen die repräsentative Demokratie zu schleifen. Der große linke Kabarettist Dieter Hildebrandt, Gott hab’ ihn selig, hat einmal den schönen Begriff von der „Verfassungsumseglung“ geprägt.

Doch das ist hier zu zahm. In unserem Fall wäre „Staatsstreich light“ angemessener.

Man muss sich das wirklich auf der Zunge zergehen lassen: Merz will in kleiner Kungelrunde mit den Top-Leuten von SPD und Grünen – also mit seinen wahrscheinlichsten Partnern in einer künftigen Kenia-Koalition – aussieben, worüber die insgesamt 733 frei gewählten und nach unserem Grundgesetz nur ihrem Gewissen verpflichteten Abgeordneten überhaupt noch reden dürfen.

Der CDU-Chef will 213 Volksvertreter – fast ein Drittel des Bundestages – für die kommenden 100 Tage bis zur Neuwahl von der parlamentarischen Arbeit faktisch ausschließen. Lustigerweise trifft das nicht nur die AfD, vor der Merz offenkundig eine geradezu panische Angst hat und deretwegen er den ganzen verfassungsfeindlichen Zirkus veranstaltet:

Auch wenn man versucht, Alarmismus und Übertreibungen zu vermeiden, dann kommt man um diese Feststellung nicht herum: Seit Ende des Zweiten Weltkriegs hat kein Oppositionsführer im Deutschen Bundestag seine Verachtung gegenüber dem Wählerwillen, gegenüber dem Parlament und gegenüber der Demokratie so offen vorgeführt.

Die Begründung, die der CDU-Chef für seinen Vorschlag liefert, ist genauso entlarvend wie der Vorschlag selbst. Er will „keine zufälligen Mehrheiten“, vor allem nicht mit der AfD.

Merz ist Jurist, aber ins Grundgesetz hat er offenbar schon länger keinen Blick mehr geworfen. Dass frei gewählte Abgeordnete – wie in unserer Verfassung vorgesehen – ihrem Gewissen folgen und entsprechend abstimmen, ist dem Mann ersichtlich ein Gräuel. Parlamentarische Mehrheiten sind für den Vorsitzenden der größten Oppositionsfraktion nur akzeptabel, wenn sie nicht „zufällig“ zustande kommen.

Aussagenlogisch heißt das zwingend: Nur geplante Mehrheiten sind akzeptable Mehrheiten. Mit dem freien Mandat unserer Volksvertreter, wie es im Grundgesetz vorgesehen ist, hat dieses Konzept noch nicht einmal mehr am Rande zu tun. Friedrich Merz will nur noch solche Abstimmungen im Bundestag, deren Ausgang von einer Handvoll Leuten aus CDU/CSU, SPD und Grünen abgesprochen wird und deshalb von vorneherein feststeht.

Wie verrottet der ganze Berliner Laden inzwischen ist, zeigt sich an den Reaktionen auf die Merz’sche Zumutung.

Von SPD und Grünen gibt es keine Silbe der Kritik. Das verwundert auch gar nicht mehr, denn die linke Reichshälfte in Deutschland hat ihren Glauben an demokratische Massenentscheidungen längst verloren: weil diese demokratischen Massenentscheidungen ernüchternd oft nicht zu den gewünschten linken Ergebnissen führen.

Und da man im Gelenkten Parlamentarismus à la Merz ja mit am Lenker sitzen soll, macht man halt mit. Außerdem geht es „gegen rechts“, da kann man auf Kleinigkeiten wie das Grundgesetz ohnehin keine Rücksicht nehmen.

Die Politikerkaste verhöhnt die Bürger
Mehr als nur eine Regierungskrise: Die Demontage der demokratischen Ordnung
Die FDP bleibt erstaunlich ruhig. Vielleicht hofft sie, von Merz doch auch noch in den Kreis der Erlauchten geholt zu werden. Vielleicht sind den (ohne Wissing) 90 liberalen Abgeordneten die verbleibenden 100 Tage bis zur Wahl aber auch einfach egal. Danach wird man im Parlament absehbar sowieso nicht mehr dabei sein, und bis dahin nutzt man die Zeit lieber mit der Suche nach einer Anschlussverwendung als mit der Verteidigung des Parlamentarismus.

Die „Linke“ und das BSW beschweren sich zwar – aber irgendwie gibt es da Lücken in der Glaubwürdigkeit. Meint denn irgendjemand ernsthaft, die Ex-SED oder gar Sahra Wagenknecht würden das alles nicht ganz genauso machen, wenn sie nur könnten? Seit drei Jahren unterläuft die Bundestagsmehrheit die Oppositionsrechte der AfD und deren angemessene parlamentarische Beteiligung. Den Blauen werden schon die gesamte Legislaturperiode hindurch sowohl der ihnen zustehende Posten eines Vizepräsidenten als auch die ihnen zustehenden Ausschussvorsitzenden verwehrt. Seit drei Jahren sagen die „Linke“ und Wagenknecht dazu: nix.

Erst jetzt, wo es um die eigenen Mitwirkungsrechte im Bundestag geht, entdecken die „Linke“ und Wagenknecht plötzlich ihr Herz für parlamentarische Minderheiten. Das kann man für glaubhaft halten – oder für Heuchelei.

Doch das eigentliche Problem an der ganzen Sache ist, dass durch den Vorschlag von Friedrich Merz nur sichtbar wird, wie sehr in Deutschland die Verfassungstheorie und die Verfassungswirklichkeit längst auseinandergefallen sind.

Berufspolitiker sollen in der Theorie die Interessen des Volkes vertreten. Wenn das nicht geht, zumindest die Interessen ihrer Wähler. In der Praxis vertreten die Berufspolitiker aber nur ihre eigenen Interessen. Das ist übrigens absolut menschlich. Und jeder, der sich ein bisschen mit Organisationssoziologie beschäftigt hat, weiß, dass es auch unvermeidbar ist: Jede Gruppe entwickelt recht schnell gruppenspezifische Interessen. Die Gruppe der Berufspolitiker ist da keine Ausnahme.

Warum sollten Berufspolitiker auch andere oder bessere Menschen sein? Sind sie natürlich nicht.

Das Berufspolitikertum ist deshalb ein Webfehler unseres Grundgesetzes. Verschärft wird der Fehler dadurch, dass es keine Amtszeitbegrenzung gibt. Endgültig fatal wird der Fehler durch die starke Stellung, die das Grundgesetz den Parteien zwar nicht vorgibt, aber gestattet.

Taktik statt Politik
Friedrich Merz: die menschgewordene Staatskrise
Im Ergebnis haben Parteien das Land fest im Griff – und ganz besonders unser politisches System. Über die Kandidatenlisten bestimmen die Parteien, wer ins Parlament einzieht. Der Wähler hat nur noch Einfluss auf die Zahl der Abgeordneten einer Partei. Aber wer diese Abgeordneten sind, darüber bestimmt die Partei. Die Parteien vergrößern ihren Einfluss stetig weiter und drängen die Mitsprache des Volkes weiter zurück.

Mit der neuen Änderung des Wahlrechts werden die Parteilisten noch wichtiger. Künftig kann es sogar passieren, dass in ihrem Wahlkreis direkt gewählte Kandidaten trotzdem nicht in den Bundestag einziehen. Das ist, mit Verlaub, eine Perversion der repräsentativen Demokratie.

All das konzentriert die Macht im Land immer weiter auf eine kleine Gruppe von Parteipolitikern.

Friedrich Merz hat mit seinem Vorschlag nur den Deckmantel weggezogen, unter dem diese ganzen Missstände schon sehr lange gären. Insofern kann man dem CDU-Chef sogar dankbar sein für diesen Moment unerwarteter Klarheit und Deutlichkeit.

Denn das ist die real existierende repräsentative Demokratie in Deutschland im Jahr 2024:

Eine kleine Truppe von Fraktionsvorständen legt fest, worüber der Bundestag debattiert (oder eben auch nicht debattiert). Die überwältigende Mehrheit der Abgeordneten wird nur noch zum Vollzug dieser Direktiven gebraucht. Wer aufmuckt, wird bei der nächsten Wahl von der Partei nicht mehr als Kandidat aufgestellt. Und weil viel zu viele Volksvertreter von ihrem Mandat wirtschaftlich komplett abhängig sind, tut das parlamentarische Fußvolk, was die Anführer wollen.

Dieselbe kleine Truppe setzt sich dann mit dem Bundespräsidenten bei Kaffee und Kuchen zusammen und beschließt gut gelaunt mal eben die faktische Selbstauflösung des Bundestags (die das Grundgesetz nach den Erfahrungen der Weimarer Republik ausdrücklich ausschließen wollte). Dass Frank-Walter Steinmeier sich dazu hergibt, stützt das Bild, das man sowieso schon von ihm hatte.

Wenn Großkonzerne nicht mehr gegeneinander um die Gunst der Verbraucher konkurrieren, sondern sich heimlich absprechen, um die Preise zu manipulieren und weitere Wettbewerber aus dem Markt zu drängen, dann nennt man das ein Kartell. Kartelle sind verboten. Darüber, dass sich möglichst keine Kartelle bilden, wacht das zumindest theoretisch unabhängige Kartellamt.

Der Anti-Musk
Merz kann es nicht
Friedrich Merz hat vor den Augen und Ohren des Landes SPD und Grüne zur Bildung eines politischen Kartells eingeladen. Das widerspricht eindeutig dem Geist unseres Grundgesetzes. Gegen dieses politische Kartell müsste also irgendjemand vorgehen. In der Politik übernimmt normalerweise das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe die Rolle, die das Kartellamt in der Volkswirtschaft hat.

Doch realistischerweise sollten die Deutschen auf die Karlsruher Richter in dieser Frage nicht allzu viele Hoffnungen setzen. Denn das BVerfG ist nicht ganz so unabhängig, wie man sich das wünschen könnte. Von den 16 Richtern dort waren sieben enge Mitarbeiter von Bundes- oder Landesministern. Der Präsident des Gerichts war sogar stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

Übertragen auf das Wirtschaftsleben ist das so, als würden beim Kartellamt, das die Großunternehmen überwachen soll, viele ehemalige leitende Mitarbeiter von genau diesen Großunternehmen arbeiten. Da könnte man schon verstehen, wenn der eine oder andere Verbraucher ein ungutes Gefühl bekäme.

Wer ohnehin Zweifel daran hatte, dass unsere repräsentative Demokratie und unser parlamentarisches System noch richtig funktionieren, der wird sich nach dem unglaublichen Auftritt von Friedrich Merz am Mittwoch bestätigt fühlen. Doch der CDU-Chef hat sogar noch mehr getan: Merz hat auch dort Zweifel gesät, wo bisher keine waren.

Dieser Mann will Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werden. Und aller Voraussicht nach wird er es auch. Den Bürgern ist wirklich nicht mehr zu helfen.

Anzeige
Die mobile Version verlassen