Als ich vor sechs Jahren nach Polen emigriert bin, geschah dies aus zwei Gründen. Erstens dem Enthusiasmus, hier vieles von dem, was im Westen des Kontinents weitgehend ausgestorben war, wieder in voller Blüte zurückzufinden: Christentum, Zukunftsvertrauen, Mittelstand, Sauberkeit, Sicherheit, Anstand und nicht zuletzt eine kulturell weitgehend homogene und solidarische Bevölkerung. Und zweitens eine konservative Regierung, welche die Fehler des Westens zumindest rhetorisch anprangerte und versprach, Polen auf einen alternativen Pfad zu führen, und das im engen Verband mit seinen anderen mitteleuropäischen Partnern. Was für ein Gegensatz zu meinem heimischen Belgien!
Doch die Zeiten haben sich geändert – und das überaus rasant. Zwar wird jeder, der aus Westeuropa nach Osten reist, weiterhin entzückt sein. Wer aber länger in Polen lebt, kann gar nicht anders, als eine rapide Veränderung zum Schlechteren zu konstatieren. Freilich: Wirtschaftlich ist das Land weiterhin im Aufschwung und wird wohl noch für einige Jahre ein ideales Investitionsobjekt darstellen.
Doch zivilisatorisch ist eine Angleichung an den Westen nicht zu übersehen – und zwar im negativen Sinn. Denn was die jüngsten Wahlresultate zeigen, das macht auch das Straßenbild deutlich. Die Kirchen leeren sich rasant, Migration aus dem „globalen Süden“ wird immer augenfälliger, die allgegenwärtigen riesigen Reklameschilder bewerben mit grusliger Treffsicherheit die vulgärsten Trends des US-amerikanischen Mainstream, Jugendliche mit den äußeren Paraphernalia radikaler Wokeness von Nasenring über blaue Haare bis zu Antifa-Jütetasche können zumindest in den größeren Städten überall vorgefunden werden, Wohlstandsverwahrlosung springt gerade in den reicheren Vierteln Warschaus ins Auge, Regenbogenfahnen und Cannabis-Shops werden immer zahlreicher, schon die Schulkinder blicken bei jeder Gelegenheit gebannt auf ihr Smartphone, je mehr glitzernde Wolkenkratzer in Warschau in den Himmel steigen, desto schmutziger wird die Stadt und desto mehr Bettler und Obdachlose bevölkern das Stadtzentrum, und die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Freilich: Was ich beschreibe, scheint wie Klagen auf hohem Niveau, denn wer aus Brüssel, Berlin und selbst Wien nach Warschau reist, wird weiterhin entzückt sein – aber der Trend geht deutlich zur Angleichung.
Dies wurde mir umso deutlicher, als ich kürzlich einige Tage in Bratislava verbrachte, eine Stadt, die mir ein schon fast unheimliches „déjà vu“ meiner Anfangszeit in Polen verschaffte: Wirtschaftlich hinkt die slowakische Hauptstadt fraglos mehrere Jahre hinter den vergleichbaren polnischen Zentren hinterher, kulturell und zivilisatorisch ist hier aber eben noch vieles von dem zu beobachten, was in Polen allmählich schwindet und was im Westen ganz verlorengegangen scheint. Freilich: Tourismus, wilder Liberalismus, der Heißhunger nach dem Westen und die Allgegenwart des Smartphones und der sozialen Medien haben auch hier ihre Vernichtungsarbeit aufgenommen, und zumindest mir scheint es eine ausgemachte Sache, dass es auch hier nicht lange dauern wird, bis vergleichbare Erscheinungen wie im modernen Warschau auftreten werden. Auch die politische Grundstimmung, die ich bei den verschiedenen Tagungen wahrnehmen konnte, an denen ich teilnehmen durfte, war etwas beängstigend:
Ebenso wie in Polen unterschätzt man die Bedeutung des kultur- und identitätspolitischen Kampfs völlig und glaubt, es reiche, Massenmigration zu vermeiden und die äußeren Symptome des Wokismus zu verbannen – allen voran Geschlechtsangleichungen und gleichgeschlechtliche Ehen –, um auf der sicheren Seite zu sein, zumal mit dem Machtantritt Donald Trumps ja nun das welthistorische Happy End eingetreten sei. Die Slowakei sei zudem „schon immer“ patriotisch, katholisch und familienliebend gewesen und stünde fest zu seiner Kultur. Wichtig sei daher nur, im Gegensatz zu den autoritären Tendenzen des Westens weiterhin die „Freiheit“ zu stärken, davon abgesehen aber vor allem frisches Geld in die Kassen der Menschen zu spülen, um „durch Erfolg zu überzeugen“, weiterhin an der Macht zu bleiben und vom Westen „nur das Positive“ zu übernehmen. Wie oft habe ich das nicht in Polen gehört …
Umso erstaunlicher fällt da der Vergleich mit Frankreich aus. Sicherlich: Das Land ist in vielerlei Hinsicht schon „gefallen“ und wird in den nächsten Jahrhunderten nie mehr französisch, mittelständisch und christlich sein, sondern ethnisch wie politisch wohl einem ähnlichen Schicksal wie der Libanon oder Syrien entgegengehen – zu weit ist hier die Massenmigration, die Zerstörung des Unternehmertums und die Zangenbewegung von Islamisierung und radikaler Laizität gegangen.
Aber immerhin ist es hier in der Zwischenzeit wenigstens bei vielen jungen Menschen zu einem gewissen politischen Aufwachprozess gekommen – und vor allem zur Erkenntnis, dass Identität alles ist, Wirtschaft aber nichts. Hierbei geht es mir nicht so sehr um die Ebene des politischen Aktivismus, wo verbale Analogien den Eindruck einer Art „konservativen Internationale“ erwecken mögen und Fico, Le Pen, Meloni, Orbán und Kaczynski als verschiedene Facetten einer einzigen Grundüberzeugung betrachtet werden können, denn die Ähnlichkeit der Rhetorik sagt nicht viel aus über die unterschwellige Dynamik.
Nein, mir geht es um die Realität des politischen und kulturellen Kampfes, wie er auf der Ebene von NGOs, Vereinen, Kirchengemeinden oder kleinen Freundeskreisen geführt wird. Vergleiche ich hier Polen und Frankreich, so verhalten sie sich wie Tag und Nacht: Während die polnische Rechte bis heute immer noch unter Schockstarre steht und unfähig scheint, aus der Wahlniederlage die entsprechenden Schlüsse zu ziehen, hat sich in Frankreich eine immer bedeutendere, resiliente und kulturkonservative Parallelgesellschaft herausgebildet, in deren Zentrum nichts weniger als der Kampf um das identitäre Überleben des Landes steht.
Freilich, die Situation ist sehr asymmetrisch, nicht nur wirtschaftlich, demographisch und historisch, sondern auch migrationstechnisch. Sicherlich wird es auch unter den extremsten politischen Bedingungen viele Jahrzehnte brauchen, bis der Bevölkerungsaustausch im Osten Europas so weit fortgeschritten ist wie im Westen, und auch die wirtschaftlichen Indikatoren mit ihrem enormen Nachholbedarf sind – eigentlich – positiv. Doch gerade eine solche Situation ermöglichte damals im Westen jene zahlreichen Fehlentscheidungen, die nur vor dem Hintergrund jenes wirtschaftlichen „Booms“ und jenes liberalen Optimismus erklärbar sind, und die Geschichte scheint sich im Osten zu wiederholen.
Wer nicht am eigenen Leib festgestellt hat, was es bedeutet, wenn die eigene Geburtsstadt innerhalb von nur einer Generation zur Gänze von einer völlig fremden Zivilisation vereinnahmt worden ist, während das gesamte politische System fest in den Händen von Menschen liegt, die diesen Prozess bewusst fördern und zudem durch systematische Politik gegen den Glauben, die Familie oder den Patriotismus all das auslöschen, was echte Resilienz stärken kann – der wird wohl nie wirklich verstehen können, was „Identität“ tatsächlich bedeutet … und dass sie erheblich fragiler ist, als es auf den ersten Blick scheinen mag.
Die Ausgangsbedingungen des Ostens sind also – noch – vielversprechend, aber die polnischen Wahlen haben gezeigt, dass seine Bürger diesen Luxus nicht zu würdigen wissen und gewissermaßen sehenden Auges in ihren eigenen Untergang gehen, obwohl das Beispiel Westeuropas ein tägliches „memento mori“ hätte sein müssen. Wird Ungarn hier langfristig einen anderen Weg begehen als seine Nachbarn? Man darf es dem Land wünschen, wahrscheinlich ist es aber nicht, zumindest ab dem Moment, wo Viktor Orbán die Macht einem Nachfolger abgeben muss: Ist es schon Diktatoren wie Franco und Salazar nach mehr als 40 Jahren quasi uneingeschränkter Regierung nicht gelungen, Spanien und Portugal dauerhaft konservativ umzugestalten, wird es dem demokratischen Regierungschef Orbán mit seiner erheblich kürzeren und beschränkteren Macht auch nicht gelingen – zivilisatorische Tendenzen scheinen sich wie historische Ströme zu verhalten, die man zwar zeitweise stauen kann, die sich aber so oder so ihren Weg brechen und von selbst zum Erliegen kommen müssen.
Aus dieser Perspektive würde ich es nicht einmal für überzogen halten, wenn sich im Horizont von 5 bis 10 Jahren die politische Situation des Kontinents von Grund auf umkehren würde, zumal auch der Westen Europas in wirtschaftlicher und wahrscheinlich auch militärischer Hinsicht immer weniger interessant werden und seine Kontrolle durch die regierenden Eliten daher zunehmend nachrangig werden dürfte. Es könnte also gut sein, dass wir 2034 in einer Situation leben, in der etwa Frankreich und seine Nachbarn zwar wirtschaftlich am Boden liegen und durch permanente ethnokulturelle Unruhen geprägt sein werden, politisch aber immerhin von der Rechten kontrolliert werden, während die Visegrad-Staaten fest in der Hand der Linksliberalen sind, wirtschaftlich boomen und zum wesentlichen Träger der europäischen Nato-Präsenz avancieren.
Freilich wird auch diese Verkehrung der Lage nicht von Dauer sein. Denn bedenkt man die dramatische Bevölkerungsabnahme nicht nur Ungarns, sondern auch Polens (mit 1,16 Kindern pro Frau), werden die oben geschilderten Probleme auch mit einer wesentlich geringeren Migrationsquote eintreten, ganz zu schweigen von der kulturellen Verwahrlosung derer, „die schon länger hier leben“, und von der tickenden Zeitbombe der Rentenfrage und der Krankenfürsorge. Die Visegrad-Staaten mögen in den eigenen Augen und denen der Welt möglicherweise noch ein paar Jahre als der „bessere“ Westen erscheinen – schon Donald Rumsfeld sprach ja plakativ vom „Jungen Europa“ –, das Schicksal ihrer Nachbarn werden sie aber unweigerlich früher oder später auch erleiden, wenn es nicht bald zu einem echten radikalen Umdenken kommt …