Fangen wir doch mal damit an, wie es sein könnte. Oder wie es sein sollte? Nein: Wie es sein müsste.
Friedrich Merz müsste jetzt – da die Ampel zerbrochen ist und Olaf Scholz nicht nur keine Mehrheit im Volk, sondern auch keine Mehrheit im Bundestag mehr hat – für seine eigenen öffentlich bekundeten Kernanliegen auch eigene parlamentarische Mehrheiten suchen. Beispiele wären:
• Rückabwicklung des Ausstiegs aus der Kernenergie
• harte Migrationspolitik
• Entlastung von Bürgern und Unternehmen in Form von Steuersenkungen
• Bürokratieabbau in Form von Streichung von Gesetzen
• sofortiger Stopp aller staatlichen Zensurmaßnahmen
• Ende der Förderung von NGOs
• massive Beschneidung der Entwicklungshilfe.
Für manches wird er nicht genügend Stimmen zusammenbekommen. Für einiges aber schon. So oder so würde die CDU/CSU klarmachen, wofür sie selbst inhaltlich steht – und wer inhaltlich mindestens teilweise mitmacht. Der Wähler bekäme ein klares Bild, welche Kräfte nach der kommenden Wahl miteinander sinnvoll eine Regierung bilden könnten. Und vor allem: wofür.
So müsste es sein. Doch wie ist es wirklich?
Friedrich Merz zaudert und zögert, er taktiert und laviert. In einer riesigen Regierungskrise mit einem Kanzler, der sich vor dem Publikum jede Minute mehr als verantwortungsloser Egoist entlarvt – also in einer Filetlage für die Opposition – hebt er sich nicht etwa von Olaf Scholz ab, sondern gleicht sich ihm an.
Um politische Inhalte geht es auch bei Merz keine Sekunde. So verkrampft, wie Scholz zeigt, dass er nichts anderes will, als Kanzler zu bleiben – so verkrampft zeigt Merz, dass er nichts anderes will, als Kanzler zu werden. Das erbärmliche Schauspiel von Scholz wird so richtig erbärmlich erst dadurch, dass Merz mitspielt.
In Berlin werden Wetten darauf angenommen, dass Merz und Scholz längst eine Neuauflage der Großen Koalition ausgehandelt haben. Alles, was sie vor den Kameras derzeit aufführen, ist reine Show. Da Schwarz-Rot absehbar nicht reichen wird und die FDP es genauso absehbar nicht wieder in den Bundestag schafft, werden absehbar die Grünen mit ins Boot geholt.
Deutschland steuert also auf eine sogenannte Kenia-Koalition zu (die heißt so, weil die Nationalflagge Kenias aus den Farben Schwarz, Rot und Grün besteht). Ehrlicherweise warten die drei Parteien mit ihrer Kooperation nicht bis zur Wahl, sondern beginnen damit einfach schon jetzt: Den Termin für Neuwahlen am 23. Februar 2025 haben sie am Dienstag schon mal gemeinsam vorgeschlagen.
Die Bürger der Bundesrepublik müssen sich also darauf einstellen, dass sich nach den nächsten Wahlen der Name des Kanzlers ändert – und sonst wenig bis gar nichts. Die Union wird in einer Koalition festhängen, in der sie mit Friedrich Merz zwar den Regierungschef stellt, aber mit SPD und Grünen genau jene Kräfte am Hals hat, die das Land in den vergangenen drei Jahren so radikal gegen die Wand gefahren haben.
Auch am Personal wird sich nicht viel ändern. Ein paar SPD- und Grünen-Minister werden von der Bildfläche verschwinden. Aber sicher wird Olaf Scholz wieder im Kabinett sitzen und genauso sicher Robert Habeck und Annalena Baerbock. Das eingespielte Albtraum-Trio also.
Das Ganze ist absolut unvermeidlich. Denn anders kann der mittlerweile auch schon 69 Jahre alte Friedrich Merz sein Lebensziel, Bundeskanzler zu werden und Angela Merkel nachträglich doch nochmal den Finger zu zeigen, schlicht nicht mehr erreichen.
Wohlgemerkt: Er KANN es anders nicht erreichen – er KÖNNTE sehr wohl.
Da betreten wir das Terrain der Staatskrise. Denn wenn Wahlen, siehe oben, tatsächlich nichts mehr ändern, dann funktioniert unser Parlamentarismus nicht mehr. Unsere in der Verfassung niedergeschriebene Idee von Demokratie ist ja gerade, dass das Volk als Souverän unfähiges Personal wieder abwählen kann.
Doch bei uns haben die Parteien ihre Macht sukzessive so ausgeweitet, das letztlich sie und nicht die Bürger darüber entscheiden, wer ins Parlament einzieht – und vor allem: wer nicht. Solange es Olaf Scholz, Robert Habeck und Annalena Baerbock gelingt, in ihren Parteien den Kopf zumindest halbwegs über Wasser zu halten: So lange hat das Volk praktisch keine Möglichkeit, diese Leute abzuwählen.
Das ist, mit Verlaub, eine Perversion von Demokratie.
Nur in so einem Umfeld sind Arroganzanfälle wie die unseres Bundespräsidenten möglich. Frank-Walter Steinmeier hatte den Berliner Schriftsteller Marko Martin als Festredner zur Feierstunde am Samstag anlässlich des Mauerfalls am 9. November eingeladen. Martin hatte in der DDR den Kriegsdienst verweigert, durfte deshalb nicht studieren und wurde schließlich ausgebürgert. In seiner Rede thematisierte der Autor die aus seiner Sicht gesamtdeutschen Lebenslügen in Bezug auf die osteuropäische Freiheitsbewegung – und er kritisierte den Gastgeber Steinmeier für dessen jahrelangen russlandfreundlichen Kurs als Außenminister.
Das kann man nun inhaltlich sehen, wie man will – aber es ist eine völlig normale Meinungsäußerung in einem Land, das Meinungs- und Redefreiheit ja nicht grundlos in sein Grundgesetz geschrieben hat. Der Bundespräsident jedoch empfindet Kritik an sich selbst offenbar als Majestätsbeleidigung. Jedenfalls verlor er nach übereinstimmenden Berichten von Augenzeugen nach Martins Rede völlig die Fassung und pöbelte den Autor an, der habe ja keine Ahnung, wie Außenpolitik funktioniere.
Steinmeiers Verhalten ist Ausdruck des Klassenbewusstseins einer abgeschotteten (und abgehobenen) Kaste von Berufspolitikern. Die, noch dazu ohne Amtszeitbegrenzung, sind längt kein Teil zur Lösung der deutschen Probleme mehr, sondern selbst Teil des Problems.
Das zeigt sich besonders in den Äußerungen der grünen Spitzenleute. Im tendenziell staatsfeindlichen Spektrum links unten gestartet, sind Habeck und Baerbock längst im autoritär-etatistischen Bereich rechts oben angekommen. Baerbock zum Beispiel entblödet sich nicht, Wahlen zur Gefahr für die Stabilität eines Landes zu erklären:
Und Habeck hat ganz öffentlich Angst vor den möglichen Ergebnissen einer demokratischen Wahl in Deutschland. Deshalb fordert er ein milliardenschweres neues „Sondervermögen“, also neue Staatsschulden, unbedingt noch vor der Neuwahl. Denn danach hätten die AfD und das BSW gemeinsam womöglich eine Sperrminorität im Bundestag, und dann müsse die Ausstattung der Bundeswehr „quasi indirekt mit Putin verhandelt werden“.
Kein Schreibfehler, sondern ein Originalzitat.
Das ist zum einen eine irre Entgleisung. Zum andern zeigt es, welche tief verankerte Verachtung der Ober-Grüne gegenüber dem Volkswillen und gegenüber demokratischen Wahlentscheidungen hat. Und so einer will Kanzler von Deutschland werden.
Habeck spricht nur das aus, was die Berufspolitiker-Kaste, der er angehört, weit überwiegend sowieso denkt. Dirk Wiese, immerhin Sprecher des als konservativ geltenden „Seeheimer Kreises“ in der SPD, verstieg sich zu einer Formulierung, die zwischen lächerlich und erschreckend oszilliert:
„Durch die Forderung nach überstürzten Neuwahlen sollen Unsicherheit in Bezug auf die Institutionen und Zweifel an der Legitimität von vorgezogenen Neuwahlen geschürt werden.“
Angesichts einer radikal gescheiterten Regierungskoalition erklärt Genosse Wiese (bei einer Rede im Bundestag!) schnelle Neuwahlen also zu einer quasi-faschistischen Tat. Mittlerweile völlig ungerührt verkaufen unsere Berufspolitiker ihren ausschließlich egoistischen Kampf um Diäten und Versorgungsansprüche als „Kampf gegen rechts“.
Das ist schon sehr unappetitlich.
Und Friedrich Merz spielt bei alldem brav mit. Er stellt nicht den im Grundgesetz ebenfalls vorgesehenen Machtanspruch eines Oppositionsführers, einen gescheiterten Bundeskanzler über ein konstruktives Misstrauensvotum zu stürzen. Er kuscht vor der immer noch einflussreichen Truppe von ewigen Merkelianern in seinem Laden, die im Zweifel lieber den moralfreien Versager Olaf Scholz stützen würden, als zusammen mit der AfD den eigenen Chef zum Kanzler zu machen.
Merz steht auch nicht öffentlich für das ein, was seine Union als politischen Inhalt verkauft (auch wenn Parteiprogramme bekanntlich so geduldig sind wie das Papier, auf dem sie stehen). Er, der Oppositionsführer, treibt die Regierung nicht vor sich her. Lieber handelt er im Hinterzimmer des Kanzleramtes beim Rotwein mit Olaf Scholz eine neue GroKo aus.
Friedrich Merz ist nur nach außen der Führer der Opposition. In Wahrheit ist er Teil einer Kaste, zu der auch die Regierung gehört. Beide Seiten simulieren Gegnerschaft, schieben in Wahrheit aber nur den Staat und die Staatsämter untereinander hin und her.
Außenseiter, wie die AfD und neuerdings auch das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ BSW, dürfen an der Tür zu den politischen Futtertrögen nur das Schild lesen: „Wir müssen draußen bleiben.“ Irgendwann, nach ein paar Jahren, kann man die Außenseiter dann sicher auch einkaufen. So denkt sich das Establishment das. Das ist zwar zynisch, aber durchaus auf Erfahrungswerte gestützt.
Bei den Grünen hat es schließlich auch funktioniert.
Nur der Wähler, der Bürger, der Souverän spielt bei alldem kaum noch eine Rolle. Das ist eine durchaus dramatische Dysfunktionalität unseres real existierenden Parlamentarismus. Die wichtigsten Verfassungsprinzipien finden sich nicht mehr in der Verfassungswirklichkeit wieder. Das politische System, das auf dem Papier steht, gibt es im richtigen Leben gar nicht mehr.
Das darf man eine Staatskrise nennen. Und ihr Gesicht ist nicht Olaf Scholz oder Robert Habeck, sondern Friedrich Merz.