Scholzens Versuch, Neuwahlen solange als möglich anscheinend selbst mit Intrigen, die man sonst nur aus Krähwinkel kennt, hinauszuschieben, platzt laut und gibt plötzlich den Blick frei auf die politische Insolvenzverschleppung der Rest-Ampel. Erst drückt sich der Bundeskanzler darum, mit seinem Koalitionspartner FDP eine vernünftige Lösung, die auch eine Auflösung der Regierung einschließen könnte, zu finden, weil keine Gemeinsamkeiten mehr vorhanden sind. Dann lockt er seinen Finanzminister in die Falle. Er lässt ihn in dem Glauben, dass konstruktiv am Mittwoch im Koalitionsausschuss weiterverhandelt wird. Parallel dazu aber wird die Rede vorbereitet, die er am Mittwochabend nach der Demissionierung des Bundesfinanzministers halten wird.
Wohl kaum zehn, zwölf Stunden nach Lindners Rauswurf durch den Bundeskanzler verteilen Scholzens Leute in dessen Brandenburgischen Wahlkreis (Potsdam, Ludwigsfelde, Teltow, Kleinmachnow, Stahnsdorf, Michendorf, Nuthetal und Schwielowsee) bereits die „Bewerbung für die Bundestagskandidatur im Wahlkreis 61“. In Scholzens Bewerbung heißt es: „Liebe Genossinnen und Genossen, gestern Abend habe ich den Bundespräsidenten um Entlassung von Finanzminister Christian Lindner gebeten. Der für uns alle unerträgliche Streit in der Bundesregierung hat damit ein Ende. Deutschland braucht Klarheit und Stabilität: Deshalb streben wir einen geordneten Übergang zu vorgezogenen Neuwahlen Anfang 2025 an.“
Man kann kaum glauben, dass Scholzens Bewerbung getextet, layoutet und gedruckt wurde zwischen 21.15 Uhr am Mittwoch, dem 6.11., und Donnerstag, dem 7.11. um 9 Uhr. Und wenn Scholzens fleißige Genossen doch eine Nachtschicht eingelegt haben, weshalb bloß die Eile, wenn erst Ende März gewählt werden soll? Aber damit enden die merkwürdigen Vorkommnisse unter der Ägide des Kanzlers Seltsam noch nicht. Kaum jemand außer SPD- und Grünen-Funktionären versteht, weshalb der Bundeskanzler erst im Januar die Vertrauensfrage stellen und erst im März Neuwahlen haben will.
In Budapest bricht Scholz mit der Regel, dass der Bundeskanzler im Ausland sich nicht zu innenpolitischen Ereignissen und Vorkommnissen äußert. Vor ihm hatte das Angela Merkel gemacht, als sie von Südafrika aus befohlen hatte, die demokratischen Wahlen in Thüringen „rückgängig zu machen“. Scholz war damals Merkels Finanzminister. In Budapest zeigte sich Scholz scheinbar offen für frühere Neuwahlen: „Der Wahltermin ist kein rein politisch festzusetzendes Datum. Er muss auch den Anforderungen der Bundeswahlleiterin genügen, um eine ausreichende Zeit für die Organisation einer fairen und demokratischen Wahl zu berücksichtigen.“
Als er das sagte, dürfte er bereits den Brief der Bundeswahlleiterin Ruth Brand in der Tasche gehabt haben oder der Brief war auf dem Weg zu ihm. Im Grunde hätte man den an den Bundeskanzler adressierten Brief nicht abschicken müssen, denn Olaf Scholz hätte diesen Brief zeitnah, oh großes SPD-Wunder, auch im SPIEGEL kommentiert nachlesen können. Denn der SPIEGEL berichtete über den Brief am 8.11. kurz nach 16 Uhr, während Scholz auf der Pressekonferenz in Budapest am 8.11. um 15.23 Uhr den Tabubruch vollzog und über die Neuwahlen in Deutschland sprach. Scholz insinuierte, dass die Wahl früher stattfinden könnte, wenn das die Bundeswahlleiterin abzusichern vermag – und hat einen Brief in der Tasche, in dem die Bundeswahlleiterin schreibt, dass sie den früheren Termin nicht absichern kann?
Der Brief, den die von Nancy Faeser eingesetzte Bundeswahlleiterin möglicherweise auf Wunsch von Scholz oder Faeser geschrieben hat, listet Argumente auf, weshalb im Januar keine Neuwahlen stattfinden können, weil nicht „ausreichende Zeit für die Organisation einer fairen und demokratischen Wahl“ zur Verfügung stehen würde. Laut Nius hatten enge Vertraute von Olaf Scholz den Brief mit der Bundeswahlleiterin, die überparteilich ihr Amt wahrnehmen sollte, zuvor abgestimmt. „NIUS erfuhr: Scholz‘ Umfeld stand im direkten Kontakt mit Brand.“
Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Alexander Throm, zeigt sich von Brands Schreiben irritiert: „Es stellt sich daher die Frage, ob dieses Schreiben auf eigene Initiative hin verfasst wurde oder ob das Bundeskanzleramt oder das SPD-geführte Innenministerium Einfluss darauf genommen haben.“ Die Unionsfraktion beantragt, „dass die Bundeswahlleiterin am nächsten Mittwoch in den Innenausschuss kommt, um für Aufklärung zu sorgen“. Man wird sehen, ob die SPD Brands Erscheinen vor dem Ausschuss blockiert.
So oder so genießt Brand nach diesen Vorkommnissen nicht mehr den über jeden Zweifel erhabenen Ruf, überparteilich im Amt zu handeln. Um den Ausgang der Wahl allerdings über allen Zweifel zu erheben, müssten sich alle Fraktionen des Bundestages auf einen neuen Bundeswahlleiter einigen.
Brand argumentierte, dass in der kurzen Zeit nicht genügend Papier besorgt werden kann und die Druckaufträge nicht rechtzeitig ausgelöst werden können. Damit hat ausnahmsweise diesmal nicht Annalena Baerbock, sondern die Bundeswahlleiterin Ruth Brand Deutschland zur Lachnummer in der Welt gemacht, die Polen spotten bereits und wollen mit Papier aushelfen, der britische Telegraph nicht minder.
Als Grund für einen späteren Wahltermin nannte Brand, was bisher übersehen wurde, im Brief auch: „die zunehmenden hybriden Bedrohungen“ für die IT-Infrastruktur. Wörtlich heißt es: „Dies umfasst unter anderem, die Bereitstellung der notwendigen IT-Infrastruktur auf Ebene der Kommunen, der Länder und des Bundes. Dabei sind in der gegenwärtigen Situation ganz besonderes Augenmerk auf die zunehmenden hybriden Bedrohungen zu richten und Sicherheitsmaßnahmen zu treffen. Dies bedarf einer sorgfältigen Prüfung und übergreifenden Implementierung auf den betroffenen Ebenen.“ Der römische Satiriker Juvenal stellte schon die Frage: „Wer aber bewacht die Bewacher?“ Mit anderen Worten: Zu welchem Zweck will Brand eine sorgfältige „Prüfung“ der IT-Infrastruktur, der Sicherheit der Übermittlung von Wahldaten vornehmen? Und was heißt es, dass dafür die Zeit nicht reicht?
Im März dieses Jahres äußerte sich Faeser im Interview dahingehend, dass sie die kommenden Wahlen schützen wolle: „Wir müssen dafür sorgen, dass es keine Hackerangriffe auf Wahlbehörden oder auf die Übermittlung von Wahlergebnissen gibt“, so Faeser. Doch hatte Faeser wirklich die Bedrohung der Wahlen durch russische Hackerangriffe im Blick? Oder doch eher die AfD, über die sie im gleichen Interview äußerte: „Die AfD verehrt Putin und verachtet das moderne Deutschland.“ Wie weit würden Scholz und Faeser gehen, um das „moderne Deutschland“ zu schützen, würde der römische Satiriker Juvenal fragen?
Jedenfalls äußerte die Bundeswahlleiterin, dass die Zeit bis Januar nicht ausreichen würde, um die Wahlen vor „zunehmenden hybriden Bedrohungen“ zu schützen. Nach diesem Brief und dessen Umständen ist die Bundeswahlleiterin so oder so nicht mehr über jeden Verdacht erhaben.
Der Bundeskanzler hat den Kontakt mit der Realität verloren. Die Ungereimtheiten mehren sich in beängstigender Zahl und Schnelligkeit. Er steht nicht mehr über den Dingen. Aus der Affäre Scholz wird eine Affäre SPD und womöglich eine Staatsaffäre. Ist die Bundesregierung noch handlungsfähig?