Manch ein Wandel auf dem Feld, das man gemeinhin internationale Diplomatie nennt, kann sich plötzlich vollziehen, ohne dass es einen alleinigen Grund dafür gibt. Und vielleicht sind solche Wandlungen das Zeichen einer allgemeineren Zeitenwende, auch wenn man mit diesem Begriff sicher vorsichtig sein muss. Das Golf-Emirat Katar hat Vertretern der Terrororganisation Hamas mitgeteilt, dass sie dort nicht mehr willkommen seien und das Land verlassen müssten. Das berichtete der staatlich-israelische Senderverbund KAN am Freitag unter Berufung auf eine unbenannte Quelle, die mit der Angelegenheit vertraut sei.
Im ewigen Sommer der Golfküste schmilzt so einer der wichtigeren Stützpunkte der arabisch-islamischen Terrorgruppe dahin. Katar war neben dem Iran und der Türkei eines jener Länder, das den Hamas-Führern teils prachtvollen Unterschlupf gewährte. Größen wie Ismail Haniyya zogen es vor, in einer Villa in Doha zu leben, statt in den Tunneln von Rafah zu hausen, wie allerdings der zuletzt als tot gemeldete Nachfolger Haniyyas, Yahya Sinwar. Daneben beherbergt Katar den größten US-Militärstützpunkt im Nahen Osten, und auch das war nicht ganz unschuldig an dem Kurswechsel. Er sagt somit eher etwas über die Nahostpolitik des Weißen Hauses als über das Innenleben der islamischen Welt aus.
Die nun öffentlich gewordene Mitteilung der Kataris – wohl eher ein dringender Ausreisevorschlag als eine Ausweisung – stellt dennoch eine 180-Grad-Wende in der katarischen Politik wie auf der internationalen Diplomatie-Bühne dar. Bisher galt die Anwesenheit von Hamas-Führern in Katar als Möglichkeit, um den Dialog mit der Terrorgruppe zu pflegen. Damit soll es nun zu Recht – eigentlich viel zu spät – vorbei sein, und man darf nach den verspäteten Gründen dieser radikalen Wende fragen.
Denn was hatte man mit den Terroristen schon zu besprechen? Ja, da war das Thema der ursprünglich etwa 250 Geiseln, deren Überlebenschancen aber mit jedem Tag weiter sanken. Die wichtigste Vorbedingung für einen Waffenstillstand – die sofortige Freilassung aller Geiseln – wollte die Hamas ohnehin nicht erfüllen. Vielmehr setzte und setzt sie auf das fortdauernde Erpressungspotential durch die verschleppten, mittlerweile vielleicht gar nicht mehr lebendigen Geiseln. Die verschärfte Spaltung der israelischen Gesellschaft durch dieses ins Ewige gezerrte Leiden kam den Terrorführern nur gelegen.
Die USA haben die Geduld verloren
Der Aufruf der katarischen Führung erging laut Financial Times schon Ende Oktober, also zehn Tage vor den ersten Berichten dazu. Vorausgegangen waren „intensive Gespräche mit US-Offiziellen“. Aus Washington hieß es, die gescheiterten Verhandlungen über die noch immer vermissten 100 Geiseln hätten zu diesem Kurswechsel in Sachen Hamas und Katar geführt. Ende August waren sechs Geiseln hingerichtet worden, darunter der US-Amerikaner Hersh Goldberg-Polin.
„Die Hamas ist eine Terrorgruppe, die Amerikaner getötet hat und Amerikaner weiterhin als Geiseln hält. Nachdem sie wiederholt Vorschläge zur Freilassung von Geiseln abgelehnt hat, sollten ihre Anführer nicht länger in den Hauptstädten amerikanische Partner willkommen sein“, verlautete aus dem noch von Biden und seiner Kamarilla geführten Weißen Haus gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Trotzdem meinen nun einige, hier zeigten sich die ersten Abdrücke der kommenden Präsidentschaft Trump II. Das ist im wesentlichen Kaffeesatzleserei. Aber dass sich die Prioritäten der US-Regierung bald schon ändern werden, wohl nicht.
Daneben waren es sicher die militärischen Erfolge Israels, vor allem die Ausschaltung der wichtigsten Hamas-Führer, die dieses Blatt gewendet haben. Seit 2012 hatte die Hamas ein eigenes Büro in der katarischen Hauptstadt Doha unterhalten – auch dies auf Wunsch der USA, um einen Gesprächskanal zu den Gaza-Terroristen zu haben. Es geht um eine Neuausrichtung der US-Nahostpolitik, die vielleicht nicht so sehr gescheitert, sondern einfach obsolet geworden ist: Niemand muss mehr mit Terroristen sprechen, deren militärische Bedeutung sich der Null-Linie nähert.
Eine Fatwa gegen die Hamas
Nun wird vermutet, dass die neue Hamas-Führung sich in die Türkei zurückzieht – auch sie formal ein sogar noch engerer Partner der USA, der sich aber den Forderungen aus Washington gern entzieht. Deutlicher als der Staat Katar hat sich die formal laizistische Türkei mit ihrem streng islamisch ausgerichteten Präsidenten Recep Tayyip Erdogan an die Seite der Terror-Fürsten aus Gaza gestellt.
Aber vielleicht gar nicht zu Recht? Denn nun gibt es zudem eine (sechsseitige) Fatwa, die aus dem Gazastreifen an die Gläubigen ergeht. Der bekannte salafistische Gelehrte Professor Salman Al-Dayah hat sie verfasst und darin die Hamas-Führung scharf kritisiert. Das Vorgehen der Terrorgruppe verletzt laut dem Koran-Gelehrten „islamische Grundsätze zum Dschihad“. Das ist eine aus westlicher Sicht erstaunliche Wendung der Dinge, die wiederum von einer Krise im Gazastreifen künden mag. Für Al-Dayah, ehemals Dekan an der Fakultät für Scharia und Recht an der Hamas-eigenen Islamischen Universität von Gaza, hätte die Hamas-Führung den Terror-Angriff vom 7. Oktober unterlassen müssen, weil sie den folgenden Blutzoll auch der eigenen Bevölkerung hätte absehen müssen.
Vor allem sei die Hamas ihrer Verpflichtung nicht nachgekommen, „die Kämpfer von den Häusern und Schutzräumen der wehrlosen Zivilisten fernzuhalten“ – wohl eine Anspielung auf den Missbrauch der arabischen Bevölkerung als menschliche Schutzschilde. Die Hamas-Führung hätte den „heiligen Krieg“ gegen Israel demnach zu Unrecht begonnen, allerdings nur, weil sie zuvor die „Sicherheit, Wirtschaft, Gesundheit und Bildung“ der eigenen Bevölkerung hätte sicherstellen müssen und für eine ausreichende Vorratshaltung hätte sorgen müssen.
Der salafistische Scharia-Gelehrte gibt hier also keine Stimme gegen den Dschihad wider die Ungläubigen ab, im Gegenteil: Er beklagt die muslimischen Opfer in diesem Krieg und hält sie für vermeidbar. Das wäre immerhin ein Grundsatz kluger Kriegsführung, an dem es die arabischen Anführer in den letzten Jahrzehnten schmerzlich haben fehlen lassen. Ihre Angriffe auf Israel waren von Irrationalität geprägt und scheiterten auch deshalb regelmäßig, auch wenn die Gefährdung natürlich weiter bestand.
Sind diese Worte des Koran-Gelehrten nun beruhigend oder nicht?
In gewisser Weise beruhigend könnte man Al-Dayahs Einschätzung finden, dass jede kriegerische Aktion im Sinne des Dschihad unterbleiben müsse, die eine „übermäßige und unverhältnismäßige Reaktion des Gegners“ hervorrufe. Das verteilt den Schwarzen Peter in etwa gleichmäßig unter Hamas und Israel auf.
Doch es wird noch interessanter. Denn Al-Dayah sagt, dass der Prophet Mohammed – der „unser Vorbild“ ist – gekommen sei, um eine Nation zu gründen, nicht um Parteien aufzustellen, die die Einheit dieser (islamischen) Nation untergraben. Daher seien alle Parteien im Islam „verboten“. Das gelte sogar für dschihadistische Gruppen wie den Islamischen Staat (IS) oder Al-Qaida und deren „Extremismus“.
Das sind immerhin interessante Neuigkeiten von der Innenseite des Islams. Es gibt mithin Grenzen des „heiligen Kriegs“, auch wenn dieselben rein in der Nützlichkeit für die Sache des Islams und der Gläubigen begründet sind. Von der Verschonung jüdischer oder christlicher Menschenleben sprach Al-Dayah nicht explizit, sagte aber: „Das menschliche Leben ist für Gott wertvoller als Mekka.“ Für die Hamas, die ihre eigene Ideologie auf die Muslimbruderschaft zurückführt und sich gern als Hüter des wahren Dschihad präsentiert, ist diese Fatwa dann doch ein Rückschlag.
Ein interessanter Nebenaspekt ist, dass man all diese Informationen von der „anderen Seite des Mondes“ inzwischen auch dem Nachrichtenportal der BBC entnehmen kann. Der öffentliche Sender zeigt damit, dass er längst zum neuen Dialog-Stützpunkt des britischen Islams geworden ist. Unter dem Artikel liest man, dass „tausende von Amputierten im Gazastreifen“ nun auf „einfach anzubringende Prothesen“ hoffen dürfen. Man kann das Kriegspropaganda durch die Hintertür nennen. Professor Al-Dayah bleibt derweil ein strikter Befürworter eines islamischen Kalifats, in dem es keine politischen Parteien mehr gäbe, dafür eine einzige islamische Nation.