Tichys Einblick
Alter Ego des Bundeskanzlers

Jörg Kukies: Schatzmeister im Märchenland

Seit sechs Jahren ist Jörg Kukies der Chef-Einflüsterer von Olaf Scholz. In dieser Zeit hat der frühere Top-Banker seinen Einfluss zielstrebig und kontinuierlich enorm ausgeweitet. Jetzt wird er Kassenwart der Republik. Doch der neue Finanzminister hat ein paar große dunkle Flecken im Lebenslauf.

Der neue Finanzminister Jörg Kukies verlässt am 7. November 2024 das Schloss Bellevue in Berlin

picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Ebrahim Noroozi

Es war einmal … So beginnen Märchen, und so beginnt auch dieser Text. In Märchen verpacken die Menschen seit jeher Wahrheiten, die aus vielerlei Gründen anders nur schlecht weitererzählt werden können: Sei es, weil die Wahrheit brutal ist und vom Publikum nur eingewickelt in eine hübsche Geschichte gut vertragen wird; sei es, weil es gefährlich ist, die Wahrheit als Wahrheit auszusprechen.

Dann macht man ein Märchen daraus und wird nicht verklagt. Und das Publikum ist auch viel eher bereit, sich die Sache anzuhören. Spannend erzählte Märchen mag jeder lieber als Tatsachenberichte über Skandale, mögen die auch noch so empörend sein.

Also dann, erzählen wir zwei Geschichten:

Es war einmal ein Junge, der hieß Jörg und wurde 1968 in Mainz geboren. Jörgs Vater war Elektroingenieur und arbeitete für IBM auch in den USA. Einen Teil seiner Kindheit verbrachte Jörg deshalb im kalifornischen San José, im Mutterland des Kapitalismus und im Herzen der globalen Finanzwirtschaft.

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Wieder zurück in Deutschland, studierte er Wirtschaftswissenschaften in Mainz. Jörg war schlau, das bestreitet niemand. Dank eines Stipendiums machte er sein Diplom an der Sorbonne in Paris. Dank weiterer Stipendien machte er noch seinen Master in Harvard und seinen Doktor in Chicago. Nebenbei trat er in die SPD ein, Anfang der 1990er-Jahre war er Vorsitzender der Jusos in Rheinland-Pfalz (seine Nachfolgerin dort wurde übrigens eine gewisse Andrea Nahles).

Im Jahr 2000 trat Jörg in die Dienste von Goldman Sachs ein. Das ist zwar nur die fünftgrößte Investmentbank der USA, aber anerkannt die mit den rüdesten Methoden und der besten politischen Vernetzung. Über Stationen in Frankfurt am Main und London stieg er auf – bis zum Chef der Bank in Deutschland und Österreich.

Parallel zum Leben des Jörg passierte in unserem Märchenreich noch eine andere Geschichte:

Die USA wurden 2006 von einer großen Finanzkrise erfasst. Die entstand seinerzeit maßgeblich dadurch, dass die Großbanken aus purer Gier absurde Risiken angehäuft hatten, die sie dann auf Kosten kleinerer Banken (und der Verbraucher) wieder loszuwerden versuchten.

Noch im Frühjahr 2007 meinte der damalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück von der SPD allen Ernstes, dass die Krise an Deutschland vorüberziehen werde – wegen unseres stabilen Sparkassensystems. Im September 2007 war die Krise dann nach Europa geschwappt und klopfte auch an Deutschlands Tür: Das relativ kleine britische Geldinstitut Northern Rock – hervorgegangen übrigens aus einer Bausparkasse – bat die Notenbank ihrer Majestät um Hilfe. Als das bekannt wurde, wollten innerhalb weniger Stunden zehntausende Kunden ihre Spareinlagen abheben. Vor den Filialen gab es kilometerlange Warteschlangen. Es war der erste Bankensturm auf der Insel seit über 150 Jahren.

Das sandte Schockwellen durch die ganze EU. Um zu verhindern, dass auch in Deutschland Bankkunden mehr Geld abheben wollen, als die Banken in ihren Tresoren haben, traten im Oktober 2007 die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr Finanzminister Steinbrück gemeinsam vor die Kameras:

„Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind. Auch dafür steht die Bundesregierung ein.“

Das war eine staatliche Garantie sämtlicher Sparguthaben der Menschen in Deutschland.

Was folgte, war zwar kein Zusammenbruch des Finanzsystems, aber eine schwere Wirtschaftskrise. Auch in unserem Märchenland gerieten ein paar Banken in Schieflage: Die Commerzbank wurde faktisch verstaatlicht, um ihre Pleite abzuwenden. Das alles kostete den Steuerzahler viele, viele Milliarden Euro.

Die Politik sah nicht gut dabei aus. Bekanntlich treibt nichts Politiker mehr an, als wenn sie vor ihren Wählern eine schlechte Figur machen. Also wurde beraten, wie man so ein Desaster künftig verhindern könnte. Natürlich nicht öffentlich, aber hinter den Kulissen gewann man allmählich eine revolutionäre Erkenntnis: Dem Staat fehlte es in der Finanzwirtschaft schlicht an Durchblick.

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Weder die zuständigen Beamten noch gar die verantwortlichen Politiker hatten auch nur ansatzweise ausreichend Expertise, um zu verstehen, was die gewieften und windigen Geschäftemacher bei den Banken da so treiben. Schlussfolgerung: Wir brauchen einen Insider. Aber man fand keinen, über fast ein Jahrzehnt nicht.

An dieser Stelle verschmelzen unsere beiden Geschichten.

Ein externer Berater von Merkel damals hieß Alexander Dibelius und war auch mal Geschäftsführer von Goldman Sachs in Deutschland. Irgendwann empfahl er der Kanzlerin seinen eigenen Nachfolger bei der Bank. Der Name: Jörg Kukies.

Der Finanzminister der schwarz-roten Bundesregierung, Olaf Scholz, machte den Spitzen-Banker Kukies dann 2018 zu einem seiner Staatssekretäre. Dahinter standen mehrere politische Absichten: Erstens verstand Kukies ohne Zweifel etwas von der Finanzindustrie. Zweitens lief gerade ein Angriff der Angelsachsen auf Deutschlands mit Abstand wichtigsten Finanzplatz Frankfurt am Main, die Attacke sollte Kukies abwehren helfen. Drittens erhofften sich Merkel und Scholz von ihrem neuen Star, dass es dem gelingen möge, die Bankenwelt gnädig gegenüber der Großen Koalition zu stimmen.

Das klappte auch. Aber es hatte seinen Preis.

Man hatte nun zwar einen Banken-Insider mit Durchblick in der Regierung. Aber weil weder seine vorgesetzten Politiker noch die Beamten in seinem Ministerium die ihnen anvertraute Materie auch nur halb so gut verstehen wie er, hatte unser Jörg enormen Einfluss. Manche sagten auch: nahezu unkontrollierte Macht.

Es kam, wie es in solchen Konstellationen immer kommt: Rund um den Mann, der immer im Hintergrund agierte, im Schatten seines Chefs Scholz und damit kaum sichtbar, passierten plötzlich seltsame Sachen.

Da war zum Beispiel eine junge Online-Bank mit Namen Wirecard. Anfangs noch als erfolgreiches Projekt gefeiert, kamen bald Zweifel auf, wie seriös und solide das Unternehmen wirklich war. Irgendwann hat eigentlich nirgendwo auf der Welt noch jemand verstanden, weshalb Deutschlands Regierung so lange ihre schützende Hand über so ein windiges Institut gehalten hat. Nach Recherchen des „Spiegel“ bedrängte ein Staatssekretär im Finanzministerium noch zwei Tage vor der Wirecard-Insolvenz den damaligen Chef der öffentlichen KfW IPEX-Bank, Klaus Michalak, er möge Wirecard doch einen neuen Kredit gewähren.

Der Name des Staatssekretärs: Jörg Kukies.

Bei den Sozialdemokraten galt unser Jörg als der Mann im Schatten, der für Olaf Scholz hinter den Kulissen in der Finanzindustrie die Fäden zieht. Bei seinen Kritikern galt Kukies als der Mann im  Dunkeln, der hinter den Kulissen für die Finanzindustrie bei Olaf Scholz die Fäden zieht.

Dazu passt, dass die Bank ohnehin verdächtigt wird, Personal in Regierungen quasi zu entsenden. Der ehemalige italienische Ministerpräsident und frühere Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, kam ebenso von Goldman Sachs wie Italiens Ex-Regierungschef Mario Monti. Mark Carnes, der Vorsitzende des „Financial Stability Board“ zur Überwachung des globalen Finanzsystems, kam von Goldman Sachs. Der ehemalige US-Finanzminister Henry Paulson auch.

Und Jörg Kukies.

Dessen Name ist auch im Zusammenhang mit „Cum-Ex“ gefallen, dem größten Steuerbetrug der deutschen Geschichte. Das Konzept der sogenannten Cum-Ex-Geschäfte stammte noch aus der Zeit des früheren Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble. Stark verkürzt, funktionierte es so, dass sich Banken über geschickte Konstruktionen Steuern haben erstatten lassen, die vorher aber nie gezahlt worden waren. Dem Fiskus gingen dadurch Milliarden durch die Lappen.

Um den Skandal ranken sich wilde Verschwörungstheorien – sozusagen eigene Märchen in unserem Märchen. Eines geht so – ist aber selbstverständlich reine Fiktion:

Cum-Ex-Geschäfte wurden etwa zwölf Jahre lang von den staatlichen Stellen zwar beobachtet, aber nie verfolgt. Übereinstimmend haben mehrere verurteilte Bankmanager vor Gericht argumentiert, dass sie zum Zeitpunkt der Tat glauben durften, dass diese Geschäfte insgeheim vom Staat sogar erwünscht waren.

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Warum aber sollte der Staat so etwas wollen? Die Spekulation: zur Stützung von in Schieflage geratenen Landesbanken und anderer Institute. Die erhielten mit Cum-Ex sozusagen nicht deklarierte Subventionen – ohne großes öffentliches Aufsehen, ohne subventions-, förder- und europarechtliche Probleme und ohne Panik bei den Bankkunden.

Von dem Schummel profitierten allerdings nicht nur die Banken, die man unauffällig (und illegal) stützen wollte. Auch andere bedienten sich nach Kräften am Kuchen, und das wurde irgendwann zu teuer. Also beschloss man, Cum-Ex wieder abzuschalten. Das tat man, indem man öffentlichkeitswirksam an der kleinen, unbedeutenden Hamburger Warburg-Bank ein Exempel statuierte. Ein größeres Institut wollte man mit so einem Prozess lieber nicht an den Pranger stellen.

Aber all das ist, wie gesagt, eine völlig unbewiesene Verschwörungstheorie. Wer würde so etwas auch jemals glauben?

Keine Verschwörungstheorie ist dagegen der Umstand, dass das Bundesfinanzministerium in dem Steuerverfahren gegen die Warburg-Bank dann stark eingebunden gewesen ist. Bank-Chef Olearius, wichtiger Parteispender des Hamburger SPD-Landesverbands von Olaf Scholz, frühstückte 2019 mit einem Staatssekretär.

Dessen Name, Überraschung: Jörg Kukies.

Danach gab es in Sachen Warburg zwischen dem Bundesfinanzministerium und der Hamburger Senatskanzlei sowie den dortigen Finanzbehörden 22 Kontakte allein zwischen Februar 2020 und Februar 2021.

Doch alles, was Kukies anfasst, endet ein bisschen wie die Sprengung von Nord Stream 2: Niemanden scheint es so richtig zu interessieren. Zum einen sind die Hintergründe viel zu kompliziert. Zum anderen wird das Publikum erfolgreich mit politischem Popcorn vom Wesentlichen abgelenkt, wie dem Streit um das Selbstbestimmungsgesetz oder das 9-Euro-Ticket.

Unser Jörg ist jetzt 56, schmal und wirkt asketisch, klein und wendig – ein typischer Goldman, sagen Kenner. Bei der Bank würde er wohl das 30- bis 40-Fache verdienen. Einer seiner Vorgänger als Chef von Goldman Sachs in Deutschland und Österreich konnte es sich leisten, in Berlin die denkmalgeschützte Villa Gerstenberg zu kaufen und als Privathaus renovieren zu lassen – für schlappe 9,3 Millionen Euro.

Wegen des Geldes ist unser Jörg ganz sicher nicht im Staatsdienst. Warum dann?

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