So klingt intellektuelle Verachtung für das einfache Volk: Ein einziger Satz genügt, und man sieht, was Doris König vom Durchschnittsbürger hält.
„Viele Menschen scheinen von der Komplexität der Problemlagen überfordert zu sein, auch von der Rechtslage.“
Nun gibt es viele Menschen von der selbstgerechten und hochnäsigen Sorte, an und für sich wäre das Zitat also nichts Besonderes. Doch Doris König ist nicht irgendwer: Sie ist Vizepräsidentin des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in Karlsruhe und zusätzlich Vorsitzende von dessen Zweitem Senat. Die 67-Jährige weiß also ganz genau, was sie da tut: Sie spricht der höchsten Instanz unseres Grundgesetzes – dem Souverän unseres Staates, dem normalen Bürger – Wissen und Grips ab.
In einem bemerkenswert gruseligen Gespräch mit der „Rheinischen Post“ offenbart die gebürtige Kielerin ein Verständnis unserer Gesellschaft, das beim sehr ähnlich denkenden Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier für wohlwollende Zustimmung sorgen dürfte – und bei normalen Menschen für heftige Beklemmungen.
„Denken Sie an die Corona-Rechtsprechung, die ich absolut für richtig gehalten habe. In einer Zeit großer wissenschaftlicher Unsicherheit der Regierung einen großen Gestaltungsspielraum zu lassen, das halte ich für richtig. Niemand wusste damals, was richtig und was falsch war.“
Hier erzeugt König erst selbst eine Begriffsverwirrung, die sie dann zur Rechtfertigung der Spruchpraxis des Verfassungsgerichts nutzt. Denn was die Juristin einen „großen Gestaltungsspielraum der Regierung“ nennt, waren in Wahrheit beispiellose Einschränkungen der im Grundgesetz garantierten bürgerlichen Freiheiten.
Die wichtigste Aufgabe des Verfassungsgerichts ist es, die ewigen Grundrechte des Bürgers gegen einen ewig übergriffigen Staat zu schützen. Darauf hätte das BVerfG gerade „in einer Zeit großer wissenschaftlicher Unsicherheit“ ganz besonders achten müssen. Auch dass damals niemand wusste, was richtig und was falsch war, galt allenfalls für die medizinische Seite. Was verfassungsrechtlich, in Bezug auf die Grundrechte, richtig und falsch war, wussten alle – allen voran König und ihre Kollegen.
Sie entschieden sich wissentlich und willentlich für das Falsche.
König hat sich heute dazu entschieden, keinen Fehler zuzugeben. Stattdessen nennt sie Einschränkungen der Rede- und Meinungsfreiheit „Gerede“ und „subjektive Wahrnehmung“ – anders ausgedrückt: Quatsch.
„Wir haben ein Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit, auf Pressefreiheit, auf Informationsfreiheit – und diese Rechte werden vom Bundesverfassungsgericht in einem sehr weiten Umfang geschützt.“
Da ist man erstens geneigt, sich zu fragen, ob die Dame kurz vor dem Interview von der neuen Freiheit auf Cannabis-Konsum Gebrauch gemacht hat. Zweitens erinnert man sich an die Verfassung der ehemaligen DDR: Da waren auf dem Papier auch alle möglichen Freiheiten und Rechte „gewährleistet“. Im richtigen Leben war damals davon ebenso wenig zu sehen wie heute vom Schutz der Grundrechte durch Doris König und ihre Kollegen beim Bundesverfassungsgericht.
Auch dass Deutschlands Justiz an den Bürgern etwas wiedergutzumachen hätte, kommt König nicht in den Sinn: „Das ist nicht Aufgabe der Rechtsprechung, sondern der Politik.“ Aber es waren halt nicht Politiker, die in der Corona-Zeit gleich serienweise skandalöse Fehlurteile gesprochen haben: Es waren Richter wie Doris König.
Doch die Frau, die – Überraschung – auf einem SPD-Ticket nach Karlsruhe gesurft ist, entschuldigt sich nicht etwa beim Volk, sondern belehrt es. Zwar sei es nicht an ihr, Ratschläge zu erteilen – aber dann tut sie es doch:
„(Es ist) widersinnig, sich über eine ‚Corona-Diktatur‘ zu beschweren und gleichzeitig autoritäre Parteien zu wählen. Diese sind nicht dafür bekannt, dass ihnen die Freiheitsrechte aller Menschen am Herzen liegen.“
König wischt also jedwede Kritik an den von ihrem Verfassungsgericht durchgewunkenen Grundrechtseinschränkungen damit vom Tisch, dass die Kritiker ja auch angeblich freiheitsfeindliche Parteien wählen. Welche Parteien das sein sollten, behält die Dame für sich. Ihre politische Nähe zur Sozialdemokratie lässt aber vermuten, dass die Juristin die AfD meint – denn linke Parteien können in der roten Weltsicht ja grundsätzlich nicht freiheitsfeindlich sein.
Königs Gedanke ist nicht nur verschwurbelt formuliert – er hat auch, nun ja, gewisse aussagenlogische Löcher. Darf ich dann auch nicht mehr gegen einen zu hohen Steuerbescheid klagen, wenn ich vorher die Steuererhöhungspartei SPD gewählt habe? Oder darf ich eine Gruppenvergewaltigung durch Migranten nicht mehr anzeigen, wenn ich Mitglied der grünen Massenmigrationspartei bin?
Man weiß es nicht, und König sagt es auch nicht.
Was sie sagt, zeigt aber in erschütternder Deutlichkeit, dass unsere Verfassungsrichter an exakt derselben Wahrnehmungsstörung leiden wie unsere Berufspolitiker: Sie verwechseln ihre eigenen Parolen mit der Wirklichkeit.
„Als Demokratie kann es nur eine liberale, eine freiheitliche und rechtsstaatliche Demokratie geben, wie wir sie kennen, wo zwar das Mehrheitsprinzip herrscht, wo aber Macht immer durch die Kontrolle durch unabhängige Gerichte und andere Einrichtungen begrenzt wird.“
Ja, möchte man rufen, schön wär’s. Das Schlüsselwort hier ist „unabhängig“. Die Unabhängigkeit der Gerichte, auch ihres Verfassungsgerichts, setzt König einfach voraus. Doch ihr fehlt erkennbar die Fähigkeit – und wohl auch die Bereitschaft – zur Selbstkritik, um zu erkennen, dass Deutschlands Justiz eben nicht unabhängig ist.
Das vielleicht erschütterndste Beispiel liefert das Bundesverfassungsgericht selbst. Denn Richter dort wird man so:
Der Bundesjustizminister – also ein Kabinettsmitglied, das der Richtlinienkompetenz der Kanzlerin unterliegt – macht Bundestag und Bundesrat einen Kandidatenvorschlag. De facto passiert das nach Absprache der großen Parteien. Bis zum Jahr 2016 hatten CDU/CSU und SPD sich darauf geeinigt, Kandidaten weitgehend abwechselnd vorzuschlagen. Danach nahm man auch Bündnis‘90/Grüne in das Richterwahlkartell auf – weil ohne die Ökopaxe im Bundesrat die vom Grundgesetz vorgeschriebene Zwei-Drittel-Mehrheit nicht erreichbar gewesen wäre.
Im Ergebnis hat Deutschland – das andere so gerne in Sachen Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit belehrt – unter anderem diese Verfassungsrichter:
- Stephan Harbarth (ehemals stv. Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion)
- Josef Christ (ehemals Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundeskanzleramt)
- Peter Frank (ehemals Leiter des Ministerbüros im bayerischen Justizministerium)
- Miriam Meßling (ehemals Referatsleiterin im baden-württembergischen Innenministerium).
- Thomas Offenloch (ehemals Persönlicher Referent des baden-württembergischen Justizministers)
- Yvonne Ott (ehemals Referatsleiterin im hessischen Finanzministerium)
- Heinrich Wolff (ehemals Referent im Bundesinnenministerium)
Wie man es über die richtige Politik bis ins Verfassungsgericht bringt, weiß auch Christine Langenfeld: Sie war einst Vorsitzende des „Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration“. Das ist – anders, als der Name suggeriert – keine Organisation von Experten, sondern von Pro-Zuwanderungs-Aktivisten.
Im Mai 2019 stellte der Europäische Gerichtshof (EuGH) fest, dass deutsche Staatsanwaltschaften nicht ausreichend unabhängig von der Bundes- und den Landesregierungen sind. Damals wurde der Bundesrepublik sogar untersagt, weiter europäische Haftbefehle auszustellen: weil die Gefahr einer unzulässigen Einmischung zum Beispiel durch ein Justizministerium besteht.
Aber Doris König fabuliert weiter von der „Unabhängigkeit“ der deutschen Justiz.
Um diese Unabhängigkeit, die längst nur eine Schimäre ist, zu „wahren“, befürwortet die Vizepräsidentin natürlich auch die Idee, das Grundgesetz – das sie eigentlich schützen soll – so zu ändern, dass der Zugriff der etablierten Parteien auf Karlsruhe weiter gefestigt wird. Im selben Atemzug, mit dem der parteipolitische Einfluss auf Karlsruhe gestärkt wird, wird so der Einfluss der Bürger auf ihr höchstes Gericht weiter geschwächt.
Da ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass es der von König geführte Zweite Senat in Karlsruhe war, der die AfD-Klagen gegen die systematische Benachteiligung im parlamentarischen Betrieb – etwa bei der Besetzung von Ausschussvorsitzenden – kalt lächelnd abschmetterte.
Die zahllosen Einflussversuche der Bundesregierung auf die doch so unabhängige Justiz sind gut dokumentiert. Allein zwischen dem 6. Mai 2022 und dem 8. November 2023 gab es mehr als 40 Treffen zwischen Ministern oder Staatssekretären mit Richtern der obersten Gerichtshöfe und des Bundesverfassungsgerichts.
Eine Pflicht zur Dokumentation der geführten Gespräche und deren Ergebnisse – einschließlich der Telefonate – gibt es nicht. So ein Zufall aber auch.
Die größten Gefahren für die bürgerlichen Freiheiten gehen mittlerweile vom Staat selbst aus. Politiker der etablierten Parteien untergraben zum Zwecke des eigenen Machterhalts die demokratischen Prozesse. Und die Justiz schützt nicht etwa den Bürger vor staatlichen Übergriffen, sondern stellt diesen Übergriffen gegen den Bürger regelmäßig auch noch verfassungsrechtliche Unbedenklichkeitsbescheinigungen aus.
Es stimmt also: Unsere freiheitliche demokratische Grundordnung ist gefährdet – und unser Rechtsstaat auch. Und beide aus ähnlichen Gründen: Sie liefern nicht mehr das, wozu sie eigentlich da sind. Wir haben da ein Riesenproblem.
Staatsjuristen wie Doris König sind nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.