Über Ricarda Lang zu spotten, ist zu einem gewissen Volkssport geworden. Nun hat es die scheidende Vorsitzende der Grünen ihren Gegnern auch nicht allzu schwer gemacht: jegliche Ausbildung abgebrochen. Mehrere unglückliche Auftritte hingelegt. Am schlimmsten der, als sie meinte, gesunde Ernährung aus einer Privatsache zu einer politischen Aufgabe machen zu müssen, obwohl sie selbst – vorsichtig ausgedrückt – nicht gerade nach Erfolg in diesem Bereich ausgesehen hat.
Doch mit dem angekündigten Rückzug aus ihrem Amt hat Lang nicht nur angefangen, sich mehr um die private Ernährung zu kümmern. Sie hat auch bemerkenswert kluge Dinge gesagt. In einem Interview kritisierte sie etwa die verschrobenen Vorstellungen des Berliner Politikbetriebs: Deren Vertreter kämen zusammen und entwürfen Texte, bei denen es jedem nur darum ginge, einen Satz von sich selbst reinzubringen. Danach dächten sie, dieser eine Satz würde zum Volk durchdringen und diesem als ihr Erfolg in Erinnerung bleiben. Doch in Wirklichkeit sei nur ein Sammelsurium aus zusammenhanglosen Sätzen entstanden, das keiner mehr verstehe und von dem keiner mehr weiß, was das überhaupt soll. So klug wie Lang können nur wenige journalistischen Analytiker den Berliner Politbetrieb beschreiben.
Lang hat sich in ihrer Analyse auf Texte bezogen. Als Parteivorsitzende hat sie mit dem konkreten Regierungshandeln nichts zu tun. Das geschieht in den Ministerien. Doch dort geht es nicht anders zu. Auch da verhandeln die einzelnen Vertreter aneinander – und an jeder Logik – vorbei. Der eine setzt das Streichen von Subventionen durch, der andere verhandelt neue Subventionen hinein. Am Ende denken alle, sie hätten einen Erfolg erzielt, mit dem sie beim Wähler punkten könnten. Doch in Wirklichkeit haben sie nur Murks abgeliefert, den keiner versteht: Etwa, wenn bestehende und irgendwie funktionierende Subventionen auf Kosten unsinniger geopfert wurden.
Wie sehr sich der Politbetrieb vom gesunden Menschenverstand entkoppelt hat und nur noch seiner eigenen Logik folgt, hat sich in dieser Woche an maximal prominenter Stelle gezeigt: im Versuch Christian Lindners, seine FDP aus der Ampel zu lösen. So als ob ein Papier drei Jahre Regierungshandeln vergessen machen könnte: Wenn Lindner jetzt das Bürgergeld kürzen will, das er selbst um 25 Prozent innerhalb eines Jahres erhöht hat. Wenn der FDP-Chef jetzt das Ende des Lieferkettengesetzes verlangt, das er selbst beschlossen hat. Oder wenn er den Klimaschutz in Frage stellt, auf dessen Altar der Oberliberale mit das Recht von Hausbesitzern geopfert hat, selbst über ihre Heizung entscheiden zu dürfen.
Für Lindner und die FDP ist dieses Papier die neue Wahrheit und sind die drei Jahre davor vergessen. Für die Wähler nicht. Hier zeigt sich, wie die Denkwelten von Regierenden und Regierten mittlerweile auseinandergedriftet sind. Für den Politiker zählt der Spiegelstrich, den er selbst durchgesetzt hat, nicht der ganze Rest, den er mitträgt. Für den Bürger zählt die funktionierende Heizung, die er trotzdem vorzeitig erneuern muss. Die Beiträge zur Krankenkasse, die massiv steigen, obwohl die Leistungen weniger werden. Den Brief, den sie von der Integrationsbeauftragten bekommen, in dem diese sie auffordert, 1000 Euro Strafe zu zahlen, weil sie als Betreiber keine Männer in die Frauensauna lassen wollen. Wie kann der Wähler das mit uns verbinden, denkt sich der FDP-Politiker. Hat ihr Wolfgang Kubicki sich nicht klar von Ferda Ataman distanziert? Mit richtig scharfen Worten? Wie kann die FDP eine Ferda Ataman mitwählen, denkt sich der FDP-Wähler. Wieso ist diese Frau immer noch im Amt, fragt er auch.
Ricarda Lang verschwindet vorerst nun aus der ersten Reihe der Politik. Schade, dass sie jetzt erst anfängt kluge Dinge zu sagen. Tragisch, dass es aber in der ersten Reihe vermutlich gar nicht möglich wäre, kluge Dinge zu sagen. Dass der Politikbetrieb jeden wegkegeln würde, der sich dem gesunden Menschenverstand verpflichtet fühlt, statt der Logik des Politikbetriebs. Dass dieser Betrieb im Inneren Brandmauern baut – aber nicht merkt, dass er sich mit seinem abgehobenen Denken selbst gegenüber dem Volk einmauert. Nichts ist dafür so sehr ein Ausdruck wie der Schutzgraben, den der Bundestag derzeit um den Reichstag bauen lässt.
Es wäre klug, wenn der Politikbetrieb auf die neue Ricarda Lang hören würde. Die Analytiker ebenso wie die Handelnden. Es gibt zwar keine Erfahrungswerte dafür, was passiert, wenn ein demokratischer Politadel entsteht, der sich vom Volk abgekoppelt hat. So sehr abgekoppelt, dass er mit dem Paragraphen 188 des Strafgesetzbuches die Majestätsbeleidigung gegen sich wieder zur gesonderten Straftat erklärt hat. Doch dass aus dieser Abkopplung nichts Gutes entstehen kann, das liegt auf der Hand.
Die Ampel endet demnächst, Christian Lindner verschwindet damit aus der Politik und der Politikbetrieb erhält damit womöglich noch einen, der, von dem Druck der ersten Reihe befreit, kluge Analysen liefert. All das ist ein Anfang. Doch erst wenn die erste Reihe verstanden hat, dass sie nicht mit einer abgehobenen Logik am Volk vorbeidenken kann, ist wirklich ein entscheidender Schritt passiert. Das muss sie dann noch umsetzen. Sehr viele Konditional-Voraussetzungen. Zu viele, um wirklich an bessere Zeiten zu glauben.