Tichys Einblick
Corona-Aufarbeitung

Im Namen des Volkes? Prozess wegen Polizeigewalt wurde eingestellt

Das Verfahren gegen den Polizeibeamten Dominik H. (35) wurde gegen Zahlung von 6000 Euro eingestellt. 3000 Euro davon gehen an das Opfer, dessen Leben auf einer Corona-Demo durch Polizeigewalt zerstört wurde. Von Eddie Lange

Corona-Demo in Berlin, Symbolbild

picture alliance / SULUPRESS.DE | Vladimir Menck/SULUPRESS.DE

Es sind verstörende Videoaufnahmen, die am 31.10.2024 im Saal A101 am Amtsgericht Tiergarten in Berlin gezeigt wurden. Verhandelt wurde ein Fall gefährlicher Körperverletzung durch den Polizeibeamten Dominik H., der den bereits zu diesem Zeitpunkt kranken Nebenkläger Peter Kilian (67), so massiv verletzte, dass er in den Pflegegrad 3 hochgestuft wurde, da er kein selbstbestimmtes Leben mehr führen kann.

Am 21.4.2021, die Bundesregierung hatte gerade die „Corona-Notbremse“ beschlossen, versammelten sich tausende Demonstranten, um gegen diese Maßnahmen zu protestieren. Peter Kilian war mit einer Freundin, die ihn in seiner Hamburger Wohnung besuchte, nach Berlin gereist.

An besagtem Tag ließ der 68-Jährige sich dazu überreden, zum ersten Mal an einer Demo teilzunehmen. Noch bevor die Polizei die Versammlung aufgelöst hatte, bewegten sich Kilian und die Freundin innerhalb einer Gruppe friedlich durch den Tiergarten, um den Heimweg anzutreten.

Dabei stießen sie auf mehrere Polizeibeamte, die laut Aussage des Angeklagten mittels einer „Polizeikette“ verhindern sollten, dass Demonstranten zum Holocaust-Mahnmal in Berlin-Mitte gelangen. Der Aufforderung des angeklagten Zugführers „zurück“ konnte Peter Kilian aufgrund seiner Behinderung nicht schnell genug Folge leisten.

Ca. 5 Sekunden blieb er in der Gruppe stehen, hob die geöffneten Hände, um zu signalisieren, dass er friedlich ist. Dominik H. nutzte diesen Moment, um in fließenden Bewegungen mit seinem linken Arm die erhobenen Hände herunterzudrücken. Mit dem rechten Arm holte er aus, um den alten, behinderten Mann zunächst mittels eines gezielten Schlags mit einer 600 Gramm schweren Reizspray-Dose außer Gefecht zu setzen. Als dies nicht sofort gelang, durfte Kilian, der sich nicht schnell genug entfernen konnte, Bekanntschaft mit dem Inhalt der Dose machen. Zweimal drückte der Polizeibeamte den Sprühknopf, hörte erst auf, als der Getroffene geschüttelt von einem epileptischen Anfall krampfartig zuckend zu Boden sank.

Später leitete der Angeklagte ein Strafverfahren gegen Peter Kilian wegen eines tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte ein. So behauptet der Angeklagte, das Opfer sei auf ihn zugegangen und hätte ihn festgehalten. Das blinkende Behinderten-Emblem auf Kilians GDB-Kappe, das den Grad der Behinderung aufzeigte, will er nicht gesehen haben.

Nun sollte man meinen, dass die Justiz alles unternimmt, um ein gerechtes Urteil fällen zu können. Dazu gehören unter anderem Zeugenaussagen und Beweisvideos, die während einer Verhandlung mit Ton abgespielt werden. Warum Richter Andreas Lascheit darauf verzichtete, den Ton des Videos anzuschalten und der Aussage des Angeklagten Glauben schenkte, dass er den Auftrag hatte, eine „Polizeikette“ mit nur insgesamt sieben Kollegen zu bilden, bleibt sein Geheimnis. Auch dem Richter dürfte klar sein, dass dies nur ein „Kettchen“ gewesen wäre. Trotz der erdrückenden Beweislage für die Anwesenden bot der Richter zunächst an, das Verfahren gegen eine Zahlung in Höhe von 1000 Euro an das Opfer und 3000 Euro an die Landeskasse einzustellen. Einige Stunden später erhöhte er das Angebot auf jeweils 3000 Euro.

Obgleich sie das Video (mit Ton) kannte, war dies für Kilians Tochter Denise (28) wohl der schwerste Moment, als sie die Bilder ihres zuckenden Vaters, umzingelt von Polizei und Demonstranten, auf dem Boden liegen sah. Irgendwann konnte sie ihre Tränen im Saal nicht mehr unterdrücken. Seit besagtem Mittwoch im April 2021 hat sich nicht nur ihr Leben verändert. Die ganze Familie leidet unter den gesundheitlichen Einschränkungen des einst so aktiven Peter Kilian. Von den körperlichen Beschwerden abgesehen, befindet er sich auch in einem psychischen Ausnahmezustand. Zwanghaft muss er sich das Video x-mal am Tag ansehen, als könne er nicht glauben, dass er und die zuckende Person auf dem Boden identisch sind. Eine Unterhaltung ist mühsam, da er sich wegen kognitiver Störungen nicht auf ein Thema konzentrieren kann. Er wird schnell laut, ungeduldig und aggressiv.

Darum wurde beschlossen, dass Kilian, in Begleitung seines Bruders Holger, im Café gegenüber dem Gericht wartet, während der Richter den Angeklagten Dominik H. befragte. Dessen Antworten lösten mehr als einmal Kopfschütteln bei den Zuschauern aus. Stellte er sich doch als Opfer dar, gepeinigt von zahlreichen Überstunden, das sich – mit sechs Kollegen – nur schwer gegen „ein eigenartiges Gemisch von Esoterikern, Reichsbürgern, Rechtsextremisten zu wehren wusste“.

Rechtsanwalt Stefan Koslowski, Vertreter des Nebenklägers, ist entsetzt: „Diese Äußerungen des Angeklagten zu Menschen, die ihre Grundrechte nach Art. 8 GG wahrnehmen, sind menschenverachtend“. Von der Richterbank gab es dazu keine Einlassung. Umso eindringlicher war die Befragung von Peter Kilian durch den gegnerischen Anwalt, der offenbar Zweifel an den Aussagen des Nebenklägers schüren wollte und einen ganzen Fragenkatalog abschmetterte, dessen Inhalte bereits in der Anklageschrift, unterstützt von mehreren medizinischen Gutachten, beantwortet wurden. So auch die Tatsache, dass der Nebenkläger seit 2015 deutlich sichtbar an einer schweren Arthritis in den Händen leidet, die es ihm unmöglich macht, mit einer Hand ein Glas, geschweige denn einen Polizisten festzuhalten oder anzugreifen.

Auch den epileptischen Anfall Kilians bezweifelt der gegnerische Anwalt.

Für die Krankenschwester Manuela Eismann (55), die den Prozess von der Zuschauerbank beobachtete und viele Epileptiker gepflegt hat, nicht nachvollziehbar: „Die 4 Minuten, die Peter Kilian zuckend auf dem Boden lag, waren eindeutig ein epileptischer Anfall. Normalerweise erkennen das auch Polizeibeamte, die durch Erste-Hilfe-Lehrgänge für solche Fälle vorbereitet werden.“

Trotz der erdrückenden Beweislage für die Anwesenden, bot der Richter an, das Verfahren gegen Zahlung in Höhe von 1000 Euro an das Opfer und 3000 Euro an die Landeskasse einzustellen. Einige Stunden später erhöhte er das Angebot auf jeweils 3000 Euro. Für den Vertreter des Nebenklägers ist dies ein Skandal. Insbesondere deswegen, weil der Leiter der Ermittlungen gegen H., der in einem umfangreichen Vermerk die Beweisvideos ausgewertet hat, vom Gericht gar nicht erst als Zeuge geladen wurde. Koslowski hat dem Gericht angekündigt, entsprechende, bereits schriftlich vorbereitete Beweisanträge zu stellen.

Bevor er jedoch die Möglichkeit dazu hatte, wurde das Verfahren gegen den Willen des Nebenklägers und seines Anwalts eingestellt. Erbost prangert dieser eine „Gesinnungsjustiz“ an: „Teile des staatlichen Machtapparates wurden während der Coronazeit immer fanatischer und haben sich vom Recht gelöst.“ So zum Beispiel einige Staatsanwaltschaften, die selbst bei leichten Vorwürfen gegen Corona-Demonstranten eine Verfahrenseinstellung gegen Geldauflage rundheraus ablehnten. Jedoch bei dem vorliegenden brutalen Fall der Polizeigewalt zustimmten. In diesem Zusammenhang sieht Koslowski Berlin als ein „besonders negatives Beispiel“, während er diese einseitige Parteinahme für Polizisten aus seinem Kanzleistandort Frankfurt (Oder) nicht kenne.

Warum 3000 Euro an die Landeskasse gehen, war bisher nicht in Erfahrung zu bringen. Vielleicht soll diese Summe endlich in den Bau einer Toilette im zweiten Gerichtsgebäude investiert werden.

Nebenkläger Peter Kilian vor dem Landgericht Berlin (Foto: privat)

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