„Niemand kann akzeptieren, dass Deutschland wirtschaftlich nach hinten durchgereicht wird“, schrieb Lindner nach dem Treffen der Koalitionsspitzen in der Nacht auf Sonntag. Und weiter: „Deshalb unternehme ich alles, damit wir uns selbst nicht länger im Weg stehen. Denn die Bürger wollen wieder stolz sein auf ihr Land.“ Das erklärte Christian Lindner auf X und schloss mit den Worten: „Es braucht eine Richtungsentscheidung.“ Gut gebrüllt. Aber jetzt geht es ums Handeln.
Will er nur spielen – oder wird er springen?
Denn allmählich gehen einem in Sachen Christian Lindner die Metaphern aus. Deswegen ist es sinnvoll auf eine bestehende zurückzugreifen. Eine, die etwa Roland Tichy für den FDP-Chef verwendet hat: Der ist auf den Zehnmeterturm gestiegen, alle haben auf seinen Sprung gewartet. Springt er noch oder klettert er zurück? Wie es derzeit aussieht, ist der Finanzminister bereits den schmachvollen Rückzug über die Treppe angetreten. Während ganz Deutschland darauf wartet, dass er springt – die Koalition aufkündigt und den Weg zu Neuwahlen erzwingt.
Er wolle Schaden von Deutschland abwenden, hat Lindner in seinem Papier zur „Wirtschaftswende“ geschrieben. Deswegen schlage er eine Wirtschaftspolitik vor, die quasi eine Umkehr der Arbeit von Kanzler Olaf Scholz (SPD) und „Wirtschaftsminister“ Robert Habeck (Grüne) bedeuten würde: den Solidaritätszuschlag für die Wirtschaft abschaffen, den deutschen „Sonderweg“ im Klimaschutz stoppen ebenso wie das Lieferkettengesetz und andere Gesetze, mit denen der Staat die Bürokratie weiter ausufern lässt und in die Betriebe hinein regiert.
Dieses Papier hat Lindner Scholz und Habeck geschickt. Er behauptet, die FDP habe es nicht an die Presse gegeben, die am Freitag erstaunlich breit damit versorgt war. In der Bild haben FDP-Leute – der Chef ging selber nicht voran – Habeck beschuldigt, das Papier gestreut zu haben. Außerdem haben sie den Charakter eines Ultimatums unterstrichen, den es habe, wenn Lindner in dem Papier fordert, Schaden von Deutschland abzuwenden. Der historische Vergleich mit dem Text drängte sich auf, mit dem Otto Graf Lambsdorff 1982 das Ende der sozial-liberalen Koalition eingeläutet hatte. Ebenso wie die besagte Metapher, dass Lindner nun oben auf dem Zehnmeterturm stehe und alles auf seinen Sprung warte – er also mit der FDP die Ampel verlässt.
Doch es lief auf einen verpatzten Sprung hinaus. Wenn Lindner vorgehabt hatte, die FDP mit dem Papier neu zu positionieren. Beziehungsweise eigentlich alt zu positionieren. Zurück zu der Wirtschaftspartei, die sie mal war, bevor sie in der Ampel alle Grundsätze abgeworfen hatte. Dann ging das alles schief. Zum einen, weil die Zeiten vorbei sind, in denen es zum Regieren nur „Bild, BamS und Glotze“ gebraucht hat. Zum anderen, weil Lindners Erzählungen maximal unglaubwürdig sind.
Ist die Glaubwürdigkeit der FDP noch zu retten?
Das fängt beim Grundsätzlichen an. Nach drei Jahren Verrat an allem, für was die FDP mal gestanden hat – Wirtschaftsvernunft und Bürgerrechte – hat kaum einer Lindner den Schwenk abgenommen. Die richtigen wirtschaftlichen Ideen können nicht mehr davon ablenken, dass Lindner drei Jahre zugeschaut hat, wie Scholz und Habeck die Staatsquote erhöht und Planwirtschaft ausgebreitet haben. Und dann die Details: Lindner soll ein Papier öffentlichkeitswirksam ausgeschmückt haben, damit das dann unter ihm, Scholz und Habeck bleibt, damit diese darüber beraten können. Einen anderen Weg habe Lindner nicht gekannt und an die Öffentlichkeit sollte das alles nie? Man muss schon sehr weit springern, um dem FDP-Chef da folgen zu können.
Lindner muss nun wieder runter vom Sprungturm klettern. Zehn Meter tief. Eine gewundene Treppe. Das Gesicht an den Stufen, den Hintern voraus. Am Beckenrand die Schmährufe der politischen Gegner aus der Opposition. Ebenso wie die Schmährufe der politischen Gegner aus der Regierung. Lindner hat versucht, mit seinem Papier Scholz und Habeck vorzuführen. Ihre Rache wird gnadenlos sein. Zumal beide dem FDP-Chef taktisch sprungturmhoch überlegen sind.
Der Kanzler und der „Wirtschaftsminister“ haben Lindner bereits jetzt eiskalt vorgeführt. Sie haben erkannt, dass dem FDP-Chef der Mut fehlen wird zu springen. Also haben sie ihn auf dem Turm zappeln lassen. Habeck hat lakonisch davon gesprochen, das Papier „zur Kenntnis genommen“ zu haben, Scholz hat sich gar nicht geäußert. Aus der SPD heraus hat sich nur um Bedeutung ringendes Personal wie Saskia Esken zu Lindners Vorstoß geäußert. Dem blieb jetzt nur noch zu springen oder den Weg über die Leiter zu wählen. Dann noch ein nächtliches Treffen, das ohne erkennbare Konsequenzen blieb.
Zurück auf den Boden?
Dass er den Weg zur Leiter eingeschlagen hat, das hat Lindner in der ZDF-Sendung „Berlin direkt“ schon einmal gezeigt. Auf die wiederholte Frage, welche Folgen es haben werde, wenn SPD und die Grünen ihm nicht folgten, wich der FDP-Chef konsequent aus. Er habe nur Vorschläge gemacht, die müssten jetzt diskutiert werden. In nur zwei Tagen ist Lindner geschrumpft von, er wolle Schaden von Deutschland abwenden auf: Er wolle doch nur spielen. Sorry, reden.
Und selten zuvor hat sich ein Politiker derart ausgeliefert wie Lindner. Wenn er jetzt nicht springt, nimmt ihm die Drohung mit dem Aus der Ampel künftig keiner mehr ab. Scholz und Habeck haben sich ihn damit zurechtgestellt. Sie können in den laufenden Haushaltsberatungen sowie bei anderen Entscheidungen – etwa beim Rentenpaket – alles durchsetzen, wenn Lindner den schmachvollen Rückzug über die Leiter durchzieht. Mit dem Hintern voran. Wenn Lindner jetzt nicht springt, muss die FDP ihn schubsen. Und wenn es nicht das Aus der Ampel ist, dann allermindestens sein Ende als Parteichef. So wie Christian Lindner hat sich selten zuvor ein Politiker blamiert.