Christian Lindner, Bundesfinanzminister und FDP-Vorsitzender, will also den Soli abschaffen. Den Soli? Eingeführt wurde er 1991, um die Folgen des Golfkriegs und die Kosten der Wiedervereinigung aufzufangen, befristet auf nur ein Jahr. Ein Jahr! Befristet! Seit einem Drittel Jahrhundert ist der Soli ein Symbol dafür, dass der Staat nie mehr hergibt, was er einmal an sich gerafft hat – wie einst die Sektsteuer für die Kriegsmarine.
Dass man angesichts der Krise, in der sich Deutschland befindet, um den Soli streiten wird, zeigt, wie lächerlich mittlerweile Politik geworden ist. Die FDP klagt in Karlsruhe gegen den Soli, und er ist Teil eines 18-seitigen Grundsatzpapiers, in dem Finanzminister Christian Lindner (FDP) von seinen Koalitionspartnern eine „Wirtschaftswende mit einer teilweise grundlegenden Revision politischer Leitentscheidungen“ fordert, um „Schaden vom Standort Deutschland abzuwenden“. Der Finanzminister drängt darin auf mehrere Sofortmaßnahmen und lehnt Änderungen an der Schuldenbremse sowie neue Sondervermögen strikt ab.
Lambsdorff 2.0?
Das erinnert an das legendäre Lambsdorff-Papier von 1982: In der damaligen Wirtschaftskrise legte Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff ein Papier mit dringenden, unabdingbaren Forderungen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik vor. Dieses Papier war für den damaligen Koalitionspartner SPD so ungenießbar wie heute das Lindner-Papier und führte zum Bruch der damaligen Koalition aus SPD und FDP.
Genug vom Soli. Lindner bleibt dabei nicht stehen. Wo Lindner konkret werde, sei das Papier nicht vereinbar mit dem Koalitionsvertrag, klagt die SPD schon. So müssten nationale durch EU-Klimaziele ersetzt werden, damit nicht Deutschland die Kosten für die Klimapolitik allein trägt, so Lindner „Es hilft dem Klimaschutz nicht, wenn Deutschland als vermeintlicher globaler Vorreiter möglichst schnell und folglich mit vermeidbaren wirtschaftlichen Schäden und politischen Verwerfungen versucht, seine Volkswirtschaft klimaneutral aufzustellen.“ Sehr konkret wird es, wenn Lindner fordert, Deutschland solle auf EU-Ebene insbesondere die Abschaffung der Regulierungen zur Energieeffizienz, Gebäudeenergieeffizienz und der Flottengrenzwerte für Autokonzerne durchsetzen. Hinter den technischen Begriffen geht es schlicht um das Verbrennerverbot, das Heizungsgesetz und ruinöse Dämmvorschriften für deutsche Immobilien; für andere Länder gelten weit niedrigere Grenzwert. Weil Lindner schon dabei ist, will der das Lieferkettengesetz abschaffen und Bürokratie-Monster wie Nachhaltigkeitsberichterstattung, EU-Taxonomie und Berichtspflichten der Green-Deal-Politik. Das wäre tatsächlich eine Politikwende. Denn beginnend mit der EU-Taxonomie hat sich längst ein EU-weiter Staatsdirigismus breit gemacht, der Unternehmen im Detail gängelt und durch kleinteiligste Vorschriften abwürgt: Zukünftig sollen selbst Kleinstverlage bis zum letzten Baum nachweisen, wo Holz für ihr Papier geschlagen wurde, und Metzger nicht nur Geburtsort und Geburtstag der Schlachttiere belegen können, sondern auch, wo und womit sie gefüttert wurden.
Über Brüssel werden mit diesen unfassbar komplexen und kleinteiligen Regeln immer neue Wirtschaftszweige ruiniert – von den Automobilkonzernen bis zum halbprofessionellen Kinderbuchverlag. Eigentlich sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, sich dagegen zu stemmen. Doch mittlerweile hat sich in Deutschland wie in der EU ein bürokratisch-sozialistischer Komplex herausgebildet, der jede Eigeninitiative mit Paragraphen ersticken und die Marktwirtschaft in eine Planwirtschaft nach Brüsseler Vorgaben umbauen will – und die Medien klatschen Beifall. Das geschieht nicht durch Enteignung, sondern durch schrittweise Entmündigung aller Entscheidungsträger. Jüngstes Beispiel ist, dass Sparkassen im Zuge der Durchsetzung den „Environmental, Social and Governance-Regelungen“ der EU geprüft werden – und Zuschläge bei der Refinanzierung zahlen sollen, wenn sie Eigenheime finanzieren: So wird das Ziel der SPD-Bauministerin Klara Geywitz über den Umweg Brüssel realisiert, künftig nur noch Wohnblocks zu erlauben, die nach einem modularen Baukastensystem genormt in die Städte gebombt werden.
Die Botschaft ist angekommen
Als „neoliberale Phrasendrescherei“ bezeichnete der SPD-Abgeordnete Nils Schmid das Papier. Lindner bleibe Antworten schuldig zu drängenden Fragen, wie Industriearbeitsplätze über einen gesenkten Strompreis für energieintensive Branchen erhalten werden könnten. Klar, für die SPD werden Industriearbeitsplätze vom Staat gekauft und mit Schulden finanziert. Der Strompreis wird ebenfalls subventioniert und durch rote Zahlen erkauft. Dass die Energiewende der Bundesregierung das Übel erst schafft, das dann mit Schulden bekämpft werden soll? Einsichtsfähigkeit ist keine Kompetenz der Ampel.
Nun kann man gerne anfügen, dass in Lindners Papier wesentliche Forderungen der Gesellschaftspolitik fehlen – für die insbesondere sein Parteifreund Marco Buschmann als Justizminister die Verantwortung trägt. Dazu gehört das „Gleichstellungsgesetz“ und der Aufbau eines flächendeckenden Netzes der Bürgerüberwachung – einst Todsünden für Liberale, früher ausgerichtet auf Bürgerrechte und Rechtsstaatlichkeit. Lindner beschränkt sich auf wirtschafts- und finanzpolitische Themen, setzt die Hebel an bezifferbaren Haushaltspositionen an.
Die CDU will Transformation in grünschwarz
Kein Wunder, dass die Union, nun ja, verhalten reagiert. Sie sieht allein die machtpolitische Relevanz: Der Parlamentarische Geschäftsführer der Union im Bundestag, Thorsten Frei (CDU) sagte: »Es wird Zeit, dass die Regierung endlich den Weg frei macht zu Neuwahlen. Es wäre der letzte Dienst, den sie unserem Land erweisen könnte.« Frei bezeichnete Lindners Papier als »ultimative Scheidungsurkunde«. Und weiter: Nach dieser Klatsche könne Olaf Scholz wohl kaum zur Tagesordnung übergehen. Der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei (EVP), der CSU-Politiker Manfred Weber, sagte: »Wir brauchen so schnell wie möglich eine handlungsfähige Bundesregierung und Neuwahlen in Deutschland.« Der Ampelregierung werde es nicht mehr gelingen, Europa zusammenzubringen und maßgeblich zu stärken. »Ich sehe keine Führungsfähigkeit bei Kanzler Scholz mehr.«
Das ist ja richtig. Aber eine inhaltliche Auseinandersetzung fehlt. Eigentlich müsste die CDU jubeln und die FDP auffordern, die Seiten zu wechseln. Aber Merz setzt ja bekanntlich auf die Grünen oder notfalls auf die SPD. Er folgte Adenauers Wahlkampfslogan: „Keine Experimente“. Merz will sich nicht dabei stören lassen, den Weg der grünen Transformation in grünschwarz fortzusetzen.
Es war Manfred Weber, CSU, der vor der letzten EU-Wahl eine Lockerung des Verbrennerverbots versprach, um nach der Wahl in tiefes Schweigen zu verfallen. Und gerade die CDU ist es, die mit ihrer Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dieses grotesken Maß an totalitärem Umfang und Schrecken der Brüsseler Komplettbürokratisierung zu verantworten hat. Die CDU tut sich schwer, sich ihrer eigenen Verantwortung zu stellen. „Verschwiegen wird meist die Tatsache, dass die Europäische Union, in dieser Frage radikalisiert von Angela Merkels Musterschülerin Ursula von der Leyen und ihrem „Green Deal“, zum Feind der deutschen Autoindustrie geworden ist“, schreibt Wolfgang Herles.
Damit wird der November zum Monat der Entscheidung
Die Einigung über den Bundeshaushalt steht an – und nach den Vorstellungen von Lindner gibt es keine Kompromissmöglichkeit. Einigt sich die Koalition nach dem 14. November, dem Tag der „Bereinigungssitzung“, nicht auf einen Haushalt, der die „Schuldenbremse“ einhält, dann muss die FDP die Bundesregierung verlassen – oder hat den allerletzten Rest an Glaubwürdigkeit verspielt. Der Anlass für den Ausstieg ist perfekt: Als Finanzminister kann Christian Lindner nicht hinnehmen, dass ein fragwürdiger Haushalt mit hoher Schuldenfinanzierung verabschiedet wird.
Derzeit stellt die FDP bereits die Kandidaten für die Bundestagswahl auf, die regulär erst im September stattfindet. Diese Kandidaten werden von der Parteiführung darauf vorbereitet, früher für den Wahlkampf startklar zu sein. Am 2. März. Dann wählt Hamburg seine Bürgerschaft. Dieses Datum bezeichnet die Führung als passend, um gleichzeitig eine vorgezogene Neuwahl durchzuführen.
Unklar ist, ob SPD und Grüne dabei mitspielen. Zum einen haben sie die Option, aus taktischen Gründen auf die Bedingungen der FDP einzugehen und einen Haushalt zu beschließen, mit dem sie sich an die „Schuldenbremse“ halten. Dafür spricht, dass die Reaktionen auf das Lindnerpapier eher vorsichtig sind. Kommt es zu einem Haushalt, wäre FDP-Chef Christian Lindner gezwungen, weiterhin rot-grüne Kröten zu schlucken. SPD und Grüne könnten ihre Projekte trotzdem durchziehen und später, etwa im Sommer 2025, mit einem Nachtragshaushalt abdecken. Dieser würde im dann definitiv laufenden Wahlkampf Finanzminister Lindner auf die Füße fallen.
Prozedural müsste Olaf Scholz im Bundestag die Vertrauensfrage stellen und verlieren wie einst Gerhard Schröder. Danach müsste Bundespräsident Frank Steinmeier, SPD, über die Zulassung der Neuwahlen entscheiden.
Dem Lambsdorff-Drehbuch folgen, ginge anders. Am 1. Oktober 1982 stürzten FDP und CDU/CSU in einem konstruktiven Misstrauensvotum die Regierung von Helmut Schmidt, indem sie Helmut Kohl zum Bundeskanzler wählten. Er erhielt 256 von 279 möglichen Stimmen der neuen Koalition, damit sieben Stimmen mehr als für seine Wahl erforderlich und bildete eine Koalition mit der FDP, die danach mit sieben Prozent den Sprung in den Bundestag klar schaffte, obwohl sie als Verräterpartei diskreditiert wurde. Diesmal müsste Lindner darauf hoffen, enttäuschte FDP-Wähler zurückzugewinnen, um erneut in den Bundestag einziehen zu können. Wahlkämpfer wie Genscher und Lambsdorff hat die FDP keine mehr.
Als möglicher vorgezogener Wahltermin gilt der 2. März 2025, an dem Tag wird die Hamburger Bürgerschaft neu gewählt. Es sind parteipolitische Spielchen, die jetzt abgezogen werden. Das Land geht weiter vor die Hunde. Die Politik interessiert das nicht wirklich.