Tichys Einblick
Lambsdorff 2.0

Lindner konfrontiert Koalition mit Papier zur Wirtschaftspolitik

Der gestern von TE prognostizierte Ampel-Knall mit möglichen Neuwahlen am 2. März 2025 rückt näher: Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner hat die Neuauflage des legendären Lambsdorff-Papiers von 1982 vorgelegt.

IMAGO, Screenprint via X - Collage: TE

In der Ampelkoalition kursiert ein neues 18-seitiges Grundsatzpapier, in dem Finanzminister Christian Lindner (FDP) eine „Wirtschaftswende mit einer teilweise grundlegenden Revision politischer Leitentscheidungen“ fordert, um erklärtermaßen „Schaden vom Standort Deutschland abzuwenden“. Der Finanzminister drängt darin auf mehrere Sofortmaßnahmen und lehnt Änderungen an der Schuldenbremse sowie neue Sondervermögen strikt ab. Es erinnert an das legendäre Lambsdorff-Papier von 1982: In der damaligen Wirtschaftskrise legte Wirtschaftsminister und FDP-Chef Otto Graf Lambsdorff ein Papier mit dringenden, unabdingbaren Forderungen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik vor. Dieses Papier war für den damaligen Koalitionspartner so ungenießbar wie heute das Lindner-Papier.

Das Schreiben enthält Forderungen, die in der Koalition bislang als unverhandelbar galten. So fordert Lindner den sofortigen Einstieg in die Abschaffung des Solidaritätszuschlags und substanzielle Änderungen an laufenden Gesetzesvorhaben, um Industrie und Mittelstand zu entlasten. „Die deutsche Wirtschaft benötigt umgehend neuen finanziellen und regulatorischen Spielraum, um auf ihre veränderten Rahmenbedingungen eigenverantwortlich reagieren zu können“, schreibt der FDP-Chef.

„Als Sofortmaßnahme sollte der Solidaritätszuschlag, der überwiegend von Unternehmen, Selbständigen, Freiberuflern sowie Hochqualifizierten gezahlt wird, entfallen“, heißt es. „Verfassungsrechtliche Bedenken sowie die alleinige Entscheidungsfreiheit des Bundes ohne Beteiligung des Bundesrates legen dies nahe. Er sollte in einem ersten Schritt im Jahr 2025 um 2,5 Prozentpunkte auf 3 Prozent abgesenkt werden. In einem zweiten Schritt könnte er im Jahr 2027 dann vollständig entfallen.“

Begleitend bringt Lindner eine Senkung der Körperschaftsteuer ins Spiel. „Um die Glaubwürdigkeit dieser Politik zu stärken, sollte zudem die Körperschaftsteuer in einem ersten Schritt unmittelbar im Jahr 2025 signifikant um zwei Prozentpunkte reduziert werden. Die weiteren Schritte sollten spätestens in 2027 und 2029 folgen.“

Für einen beschleunigten Bürokratieabbau drängt Lindner auf ein „sofortiges Moratorium zum Stopp aller Regulierungen“ für die nächsten drei Jahre. Betroffen wären demnach auch Gesetze, die die Koalition noch plant und vor allem von der SPD vorangetrieben werden. „Neue Gesetzesvorhaben sollten entweder ganz entfallen oder, wo dies nicht möglich ist, so ausgestaltet sein, dass Bürokratie und Regulierung durch das Vorhaben sinken und keinesfalls steigen. Das gilt insbesondere für die vom Bundesminister für Arbeit und Soziales vorgelegte Fassung des Tariftreuegesetzes, für das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, das Entgelttransparenzgesetz, das Beschäftigtendatengesetz und die arbeitgeberfinanzierte Familienstartzeit“, so Lindner. „Sie alle passen in der aktuell diskutierten Form nicht zu den Herausforderungen des aktuellen wirtschaftlichen Umfelds.“

Das Papier kommt zu einem äußerst sensiblen Zeitpunkt, weil sich die Koalitionspartner in der Wirtschaftspolitik völlig verhakt haben und in der Ampel der Glauben daran schwindet, dass sie bis zum Ende der Legislaturperiode hält. Das Schreiben Lindners liest sich auch als Zumutung für die Grünen: Ohne Wirtschaftsminister Robert Habeck namentlich zu nennen, knöpft sich Lindner dessen wirtschaftspolitische Vorstellungen vor.

Lindner stellt zudem die nationalen Klimaziele in Frage. „Es hilft dem Klimaschutz nicht, wenn Deutschland als vermeintlicher globaler Vorreiter möglichst schnell und folglich mit vermeidbaren wirtschaftlichen Schäden und politischen Verwerfungen versucht, seine Volkswirtschaft klimaneutral aufzustellen“, schreibt der Minister.

Die aktuellen Klimaziele sind die Folge eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts, in dem 2021 festgestellt wurde, dass die Bundesregierung nach Artikel 20a des Grundgesetzes hohe Emissionsminderungslasten zur Einhaltung des Pariser Klimaabkommens nicht unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030 verschieben darf. Ähnliche Urteile gibt es auch in anderen Ländern, wie etwa in den Niederlanden, Frankreich, Neuseeland und Großbritannien. Die Maßstäbe aus einem im April gefällten Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen die Schweiz könnte zudem zu einer weiteren Verschärfung der Klimaziele für Deutschland führen.

Das Papier ist als ‚Scheidungsbrief‘ in die Geschichte eingegangen, weil seine Veröffentlichung am 9. September 1982 den Bruch der Regierungskoalition zwischen SPD und FDP auslöste. Sein Inhalt steht stellvertretend für die wirtschaftspolitische Umorientierung von der keynesianischen Nachfragesteuerung zur liberalen Angebotspolitik, die während der 1970er Jahre eingesetzt hatte. Da das neue wirtschaftspolitische Leitbild in der Folgezeit jedoch nur sehr unvollständig umgesetzt wurde, ist das Lambsdorff-Papier gleichzeitig ein Schlüsseldokument für die Beharrungskraft des westdeutschen Gesellschaftsmodells.“

Am 1. Oktober 1982 stürzten die FDP und CDU/CSU in einem konstruktiven Misstrauensvotum die Regierung von Helmut Schmidt und wählten Helmut Kohl zum Bundeskanzler. Er erhielt 256 von 279 möglichen Stimmen der neuen Koalition und damit sieben Stimmen mehr als für seine Wahl erforderlich.

Als vorgezogener Wahltermin gilt der 2. März 2025, an dem Tag wird die Hamburger Bürgerschaft neu gewählt.

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