Israels militärische Reaktion auf den Überfall der Hamas am 7. Oktober sah sich von Anfang an enormer internationaler Kritik ausgesetzt: nicht nur wegen der zivilen Todesopfer, sondern auch, weil es diesen Krieg angeblich überhaupt nicht gewinnen könne. Auch heute unken Beobachter noch, man könne die feindlichen Terrororganisationen doch gar nicht zerstören, Israel sei insbesondere durch die Bodenoperation in Gaza in eine Falle getappt, habe allenfalls taktische Siege errungen, die aber in eine strategische Niederlage münden würden.
Dabei kommt es entscheidend darauf an, welche Vergleichspunkte man für eine Einschätzung dieses Krieges wählt und was man als sein Ziel begreift. Klar: Wenn man ihn mit den konventionellen israelischen Kriegen der Jahre 1948/49 („Unabhängigkeitskrieg“), 1956 („Suez-Krieg“), 1967 („Sechs-Tage-Krieg“) und (in Abstufung) 1973 („Jom-Kippur-Krieg“) vergleicht, sieht es zunächst nach einem großen israelischen Scheitern aus.
Denn: Seit einem Jahr operiert Israel im Gazastreifen, hat die Küstenenklave aber nach wie vor nicht vollständig unter Kontrolle. Derzeit zum Beispiel konzentriert sich die israelische Armee auf Dschabaliya im nördlichen Gazastreifen, wo sich die Hamas erneut formiert hat. Und das, obwohl Dschabaliya vor einem Jahr zu den ersten Orten gehörte, die die Bodentruppen betraten. Am 11. Dezember erklärte Israels Verteidigungsminister Joav Gallant bereits, das Dschabalia-Battalion der Hamas sei am Rande der Zerstörung – das war mindestens irreführend.
Im Gegensatz dazu konnte Israel in den oben genannten früheren Kriegen, teils innerhalb kürzester Zeit, enorme Geländegewinne verbuchen. Das gilt vor allem für die Kriege von 1956 und 1967, als Zahal (bekannt als IDF) jeweils den Sinai und Gaza besetzte und im Fall des „Sechs-Tage-Krieges“ gleich noch Ost-Jerusalem, das Westjordanland (Judäa und Samaria) und die Golanhöhen dazu. Das entsprach einer Fläche, die dreimal so groß war, wie der jüdische Staat zu diesem Zeitpunkt. Und das alles innerhalb von sechs Tagen.
Doch dieser Vergleich hinkt natürlich vorne und hinten, unten und oben. Der aktuelle Krieg ist, anders als die genannten Kriege, kein konventioneller Krieg, sondern eine Auseinandersetzung mit Terrormilizen. Diese sind über die Jahre ihrer Existenz und Regierungsgewalt mit der Zivilbevölkerung im Operationsgebiet gleichsam verschmolzen. Mit ihrem Tunnelsystem hat die Hamas zudem in städtischem Gebiet ein zweites Gaza unter Gaza geschaffen, das enorme operative Herausforderungen mit sich bringt. Auch andere westliche Armeen, die im Nahen Osten unterwegs waren, können davon ein Lied singen.
Insofern ist der Krieg auch nur schwer mit allem zu vergleichen, was es bisher in der Geschichte Israels gegeben hat. Es ist zwar nicht der erste Krieg, den Israel gegen den Terror führt. Im Prinzip fing es im Jahr 1978, vor allem aber 1982 an, als Israel im Libanon einmarschierte, um dort Jasser Arafats Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) zurückzudrängen. 2006 folgte der Zweite Libanonkrieg, dieses Mal im Kampf gegen die Hisbollah. Dazwischen lagen zwei „Intifadas“ im Westjordanland und im Gazastreifen (1987 bis 1993, 2000 bis 2005). Und dann kamen schließlich noch die zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen mit der Hamas und dem Palästinensischen Islamischen Dschihad im Gazastreifen hinzu.
Der entscheidende Unterschied zu heute ist jedoch: In keinem dieser Gaza-Kriege hat Israel als operatives Ziel ausgegeben, die Hamas umfassend zu zerstören – resultierend aus einem beispiellosen Massaker, das zuvor stattfand. Was uns auch schon zu dem anderen entscheidenden Punkt bringt, den es zu bedenken gilt, wenn man den Erfolg oder Misserfolg der israelischen Militäroperation in Gaza einschätzen will: Es geht um die Frage, was man überhaupt als Ziel des Krieges markiert. Mir scheint, dass hier zum Teil unter westlichen Beobachtern ein großes Missverständnis besteht.
Immer wieder heißt es, die Hamas (und auch die Hisbollah) sei doch eine Idee, und eine Idee könne man gar nicht zerstören. Insofern wäre die israelische Zielsetzung insbesondere in Gaza von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Denn es stimmt natürlich: Mit einem Krieg kann man die Idee von Terror und Islamismus nicht vernichten. Und zwar auch deswegen nicht, weil dieser islamistische Terror den „Märtyrer“-Tod nicht scheut, sondern – im Gegenteil – glorifiziert. Daraus folgt, dass Israel, völlig egal, was es tut, dieser Idee nie beikommen kann: Lässt es die Terroristen am Leben, so können sie weiter unbeschränkt agitieren und agieren; bringt es sie um, so erhalten sie den Märtyrerstatus. In dieser Hinsicht gewinnt der Islamismus immer.
Auch das ist ein Unterschied zu den konventionellen Kriegen Israels gegen andere Staaten. Der Frieden mit Ägypten zum Beispiel wurde in der Tat dadurch möglich, dass Israel den Arabern 1967 eine entscheidende Niederlage beibrachte und arabisches Territorium eroberte. Nachdem dann der ägyptische Präsident Anwar al-Sadat die Israelis durch seinen Überfall 1973 in Todesangst versetzt hatte, waren beide Seiten gleichermaßen zum Friedensschluss bereit. Anders als Hamas und Hisbollah hing Sadat keinem apokalyptischen Islamismus an.
Im Gazastreifen und auch im Südlibanon ist das anders. Und deswegen wird auf diesen Krieg auch kein Frieden folgen. Es scheint jedoch, als würden einige Beobachter genau das von Israel erwarten: dass es einen Krieg führt, der am Ende in einen positiven Frieden mündet. Damit überfrachten sie den Krieg aber mit übersteigerten Ansprüchen. Seriöses Ziel kann aus israelischer Sicht nur sein, den Terror so sehr einzuhegen, dass wieder so etwas wie relative Sicherheit möglich wird. Und in dieser Hinsicht zeigt der israelische Militäreinsatz sowohl im Gazastreifen als auch im Libanon eben doch erhebliche, wenn auch noch nicht vollendete Wirkung.
Den Angaben des israelischen Militärs kann man diesbezüglich nur eingeschränkt Vertrauen schenken: Auch auf israelischer Seite gibt es Propaganda und die Armee hat ein Interesse daran, ihre Arbeit als möglichst erfolgreich darzustellen. Was sich aber objektiv als großer Erfolg Israels sehen lässt, ist, dass es gelungen ist, annähernd die gesamte Führungsschicht von Hamas und Hisbollah auszuschalten (einschließlich der obersten Köpfe wie Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah und Hamas-Chef Jahja Sinwar). Nein, den Frieden bringt das nicht, und beide Terrororganisationen werden auch das überleben. Aber die operativen Schwierigkeiten, die Hamas und Hisbollah dadurch entstanden sind, können nicht geleugnet werden.
Ein Parameter, der sich darüber hinaus objektiv messen lässt, ist der Raketenbeschuss. Seit dem israelischen Abzug aus dem Gazastreifen 2005 stellten Raketen- und Mörserangriffe aus der Küstenenklave mit die größte Bedrohung für Israel dar. Seit Monaten lässt sich nun beobachten: Den Terrorgruppen im Gazastreifen gelingt es kaum noch, Geschosse über die Grenze zu bringen. Nur vereinzelt, an einigen Tagen wird hier und da noch isoliert Alarm im Süden Israels ausgelöst. Ein Erfolg, durch den sich der Iran genötigt sah, nicht mehr über seine Proxys, sondern selbst einzugreifen, und kurz vor dem jüdischen Neujahrfest Hunderte Raketen auf Israel abzufeuern – vergeblich, dank der überragenden Schutzmechanismen, über die Israel notwendigerweise verfügt.
Als jüngst Hamas-Chef Sinwar im Gazastreifen getötet wurde, hätte es in Reaktion darauf nach Hamas-Logik eigentlich ein anhaltendes Sperrfeuer auf große Teile des Landes geben müssen. Doch es geschah: nichts. Ein deutliches Anzeichen für den Verlust militärischer Handlungsfähigkeit der Terrorgruppe. Zu einer groß angelegten Invasion dürfte sie keinesfalls mehr in der Lage sein.
Auch dass die Hisbollah bereits erheblich geschwächt ist, kann trotz des Kriegsnebels, der eine klare Sicht erschwert, kaum bestritten werden. Auch hier das Beispiel des Raketenbeschusses: Einerseits hält dieser nun seit gut einem Jahr kontinuierlich an, und hat sich noch einmal auf einem intensiveren Level verstetigt, seit Israel den Kampf im September zu einer umfassenden Operation ausgeweitet hatte. In Haifa etwa herrscht so gut wie täglich Alarm, nachdem die Großstadt zuvor ein knappes Jahr überhaupt nicht direkt vom Krieg betroffen war.
Andererseits: Für den Fall eines Kriegs mit der Hisbollah waren seit Jahren in Israel ganz andere Szenarien erwartet worden. Man hatte Raketenbeschuss in völlig anderen Dimensionen befürchtet. Einen Beschuss, der das Alltagsleben, nicht zuletzt auch in Tel Aviv und Jerusalem, für Wochen lahmlegen würde. Das ist nun überhaupt nicht der Fall: In Tel Aviv gibt es zwar immer wieder Alarm, allerdings nicht im Ansatz Dauerbeschuss.
Offenbar ist es Israel also auch im Fall der Hisbollah gelungen, deren Angriffskapazitäten durch Präventivschläge drastisch zu reduzieren. Optimistische Beobachter gehen zudem davon aus, dass die Hisbollah aktuell nicht mehr zu einer terroristischen Bodeninvasion in Nordisrael in der Lage wäre – etwas, worauf sie sich seit Jahren vorbereitet hatte. Gleichzeitig ist jedoch zu konstatieren, dass das Land bislang noch weit davon entfernt ist, den zehntausenden evakuierten Israelis aus der unmittelbaren Grenzregion eine sichere Rückkehr zu gewährleisten.
Was bisher das größte Manko für die israelische Armee ist: Die zu Kriegsbeginn bestandene Hoffnung, man könnte Geiseln in größerer Zahl militärisch befreien, hat sich nicht erfüllt. Viele Geiseln haben inzwischen ihr Leben verloren und rund 100 befinden sich noch immer – teils tot, teils lebendig – in den Händen der Gaza-Terroristen. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob Israel sich überhaupt anders hätte verhalten können.
Mehr Geiseln zu retten, wäre möglich gewesen, wenn die Regierung Netanjahu im Gegenzug auf die drastischen Hamas-Forderungen eingegangen wäre. Das hätte nicht nur eine Kapitulation vor dem Terror bedeutet, sondern auch einen Kompromiss mit der israelischen Sicherheit. Möglicherweise hätte der Krieg dann früh abgebrochen werden müssen. Die Hamas wäre zum aktuellen Zeitpunkt vermutlich deutlich stärker, als es nun der Fall ist.
Insgesamt wird aus israelischer Sicht am Ende entscheidend sein, den korrekten Zeitpunkt zum „Absprung“ zu finden, vor allem im Hinblick auf Gaza. Netanjahu muss den Krieg an der richtigen Stelle für beendet und die Hamas für besiegt erklären. Das bedeutet nicht, dass Israel dann aus dem Gazastreifen abzieht. Es wird dort auf Jahre hinaus präsent bleiben und auch anhaltende Militäreinsätze durchführen. Mit einem offiziellen Kriegsende wäre aber die Tür dafür geöffnet, dem Gazastreifen eine neue zivile Struktur zu geben, einen Wiederaufbau einzuleiten und ein neues Alltagsleben zu ermöglichen. Ob Netanjahu dazu in der Lage ist, kann man durchaus bezweifeln.
Der Einsatz im Libanon wird derweil wohl nur mit einer Vereinbarung mit der Hisbollah zu Ende gehen können, international abgesichert. Schon alleine deswegen, weil Israel weder Kraft noch Willen hat, den Südlibanon erneut für längere Zeit zu besetzen. Das Problem hier: Eine internationale Vereinbarung war schon auf den Krieg von 2006 gefolgt, hatte allerdings nur bewirkt, dass die Hisbollah danach so stark werden konnte wie nie zuvor.
Größer war Israels Erfolg im Libanon-Krieg 1982: Damals konnte die PLO-Führung dazu bewegt werden, den Libanon zu verlassen. Mit der Hisbollah wird so etwa jedoch nicht möglich sein: Die PLO war als externe Macht in den Libanon gekommen. Die Hisbollah ist zwar auch eine teils externe Gründung, in diesem Fall des Iran, zugleich jedoch tief in der libanesischen Gesellschaft verwurzelt, und hat es geschafft, den Staat partiell zu unterwandern.
Zu guter letzt spielt sich dieser Krieg nicht nur auf dem Schlachtfeld ab, sondern auch in der Arena der internationalen Meinungen. Hier hat Israel ohne Zweifel verloren: Der jüdische Staat steht am Pranger wie nie zuvor. Doch hätte es anders kommen können? Die Lehre aus der israelischen Geschichte ist eher diese: Israel hätte tun können, was es wollte – es hätte die Schlacht der Bilder und Emotionen in jedem Fall verloren. Die Kontinuitäten israel- und teils judenfeindlicher Mobilisierungen sind einfach zu stark.