Der Exklusiv-Beitrag von Robin Alexander in der gestrigen WeLT AM SONNTAG ist ein Stück für die Geschichtsbücher: „Das Bild, das es NICHT geben sollte“. Seine Zusammenfassung ist ein höchst gefährlicher Befund – und das völlig unabhängig davon, wie wer zum Umgang mit der Migrationsfrage in der Sache steht:
„Am 12. September 2015 ist die große Koalition willens, die Einreise zigtausender Migranten zu stoppen. Alles ist bereit, die Bundespolizei wird in Bussen und Helikoptern zur deutschen Südgrenze gebracht. Doch dann geschieht – nichts. Weil sich in Berlin kein Politiker findet, der die Verantwortung dafür übernehmen will.“
Der Snapshot aus der WamS deutet an, was der zuständige Bundesinnenminister Thomas de Maizière nicht auszuführen wagte, wofür ihm Bundeskanzlerin Angela Merkel die Rückendeckung verweigerte und was Vizekanzler Sigmar Gabriel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier ebenso mit beschlossen haben, wie sie sich dem lautlosen Abrücken von Merkel und de Maizière vom gemeinsamen Beschluss auch wieder anschlossen. Deutschland wird nicht regiert. Das Nichthandeln wird moderiert. Irgendwie sollen sich Probleme durch lange genug Nichtstun und Laufenlassen in Luft auflösen oder die Leute sich an die Probleme als Normalzustände gewöhnen.
Dieter Romann, Präsident des Bundespolizeipräsidiums (welch ein Bürokratentitel), zieht im Frühjahr und Frühsommer 2015 „mit einer selbstgebrannten DVD durch das politische Berlin, es gibt persönliche Vorführungen im Innenministerium, im Kanzleramt und bei SPD-Chef Sigmar Gabriel.“
In der Folge gebe ich Text-Ausschnitte wieder, die an diesem praktischen Fall zeigen, in welchem Zustand sich die Bundesregierung in Deutschland befindet.
Die DVD: „Es sind Aufnahmen von Flüchtlingen auf der Balkanroute, sie stammen von Bundespolizisten, die zur Amtshilfe nach Serbien entsandt worden waren. Dramatischer Höhepunkt des kurzen Films ist eine Kamerafahrt, die eine schier endlose Menschenkolonne an der serbisch-mazedonischen Grenze zeigt. Romann berichtet den Politikern von fallenden Schlepperpreisen für die einzelnen Etappen auf der Balkanroute, er beschreibt, wie Kriminelle und staatliche Stellen dort zunehmend Hand in Hand arbeiten.“
Für den G-7-Gipfel 2015 beantragt die Bundespolizei beim Innenministerium temporäre Grenzkontrollen. Die Bundesregierung zögert: „Will das Kanzleramt zeigen, dass man einen Besuch von Barack Obama und anderen Führern der westlichen Welt, der die allerhöchste Sicherheitsstufe auslöst, sogar bei offenen Grenzen meistern kann?“
Am 18. März verwandeln Militante aus Italien eine Demonstration gegen die Eröffnung des Neubaus der EZB in Frankfurt in eine Straßenschlacht: „Die Fernsehbilder zeigen Rauchschwaden, die über Frankfurts Skyline ziehen. Rauchschwaden über ‚ihrem‘ G-7-Gipfel will die Kanzlerin nicht riskieren – wenige Tage nach der Frankfurter Randale bekommt die Bundespolizei die beantragten Kontrollen für den Gipfel genehmigt.“ Der Gipfelort im Fünfsternehotel Schloss Elmau liegt direkt an der Grenze zu Österreich. „Hier treffen die beiden Hauptmigrationswege in Europa aufeinander, die Balkanroute und die Mittelmeerroute: Wenn man hier die Grenze für Flüchtlinge dicht machen kann, funktioniert es überall.“
Die schönen Fotos von Merkel und Obama im „bayerischen Biergarten lösen im Kanzleramt Wohlgefallen aus. Auch für die Bundespolizei hätte Elmau kaum besser laufen können. Denn ihre ‚mobilen Grenzkontrollen‘ bringen das gewünschte Ergebnis: 13.800 Verstöße gegen das Aufenthaltsrecht, 1.200 Fahndungserfolge und 151 Vollstreckungen offener Haftbefehle kann Romann wenige Tage später dem Innenausschuss des Deutschen Bundestages präsentieren.“
Die Beherrschung der Grenzen ist möglich
Für Romann der wichtigere Beweis, dass es geht: 1.030 „Zurückweisungen“ im Umfeld des Gipfels. Von der Öffnung der Grenze in der Nacht zum 5. September 2015 erfährt die Führung der Bundespolizei aus der Presse und fragt im BMI nach: „Sind das nicht alles unerlaubte Grenzübertritte? Machen sich unsere Beamten nicht sogar strafbar, wenn sie diese geschehen lassen?“
Die große Koalition beschließt sofort 3.000 neue Stellen für die Bundespolizei. Robin Alexander: „Doch Merkel sendet durch Selfies mit Flüchtlingen und öffentliche Äußerungen nicht gerade Signale in Richtung Grenzschließung. ‚Das Grundrecht auf Asyl kennt keine Obergrenze‘, erklärt sie in einem Zeitungsinterview, das am Freitag, dem 11. September, erscheint.“
An diesem Tag melden 14 Bundesländer dem BMI, dass sie keine neuen Migranten mehr aufnehmen können. 7.000 Migranten täglich treffen von Griechenland aus in Mazedonien ein. Österreich verliert die Kontrolle und winkt nur noch durch. Die deutsche Botschaft in Afghanistan berichtet, dass eine Million Reisepässe gedruckt wurden. Hinter verschlossenen Türen wird in deutschen Behörden der Ton lauter.
Alexander: „Die Unions-Innenpolitiker drängen Merkel bewusst nur intern, die Grenzöffnung rückgängig zu machen. Sie wissen, dass öffentlicher Druck auf die Kanzlerin kaum weiterhilft. Ihren Kurs würde Merkel wohl nur korrigieren, wenn es so aussieht, als sei dies ihre eigene Entscheidung. Noch besteht dazu ja die Möglichkeit. Merkel hatte die Öffnung ja selbst als ‚Ausnahme‘ begründet.“
Personenstreit ist wichtiger als alles andere
Alexander berichtet im Detail, wie nun jeder Rest von Vernunft im Streit zwischen Personen untergeht, den CSU-Leuten Friedrich und Seehofer, Merkel und den ihren. Schließlich berät sich Merkel mit Seehofer, Gabriel, Steinmeier, de Maizière und Altmaier am 15. September um 17 Uhr 30 in einer Telefonkonferenz vom Kanzleramt aus:
„Dann malt sich die Runde Szenarien aus: Was passiert, wenn die Migranten an der deutschen Grenze gestoppt werden? Stauen sie sich in Österreich? Versuchen sie gar, die Grenze zu stürmen?
Am Ende wird de Maizières Vorschlag angenommen. Es soll wieder Grenzkontrollen geben. Parallel dazu soll der Zugverkehr von Österreich nach Deutschland für zwanzig Stunden unterbrochen werden. Und – der springende Punkt: Flüchtlinge sollen an der Grenze zurückgewiesen werden. Jetzt entscheiden sich die führenden Politiker der großen Koalition also genau für das, was Angela Merkel wenig später öffentlich für unmöglich erklären wird.“
De Maizière fällt um
Kurioserweise, berichtet Alexander, verbreitet sich unter den Migranten, dass sie nicht mehr nach Deutschland durchkommen, auch viele Medien melden das. Da niemand aus der Regierung dementiert, gehen die Ankunftszahlen an der bayerischen Grenze in der folgenden Woche zurück. Doch dann klären die Schleuser ihre Kunden auf und staatliche Stellen bestätigen. Sofort schnellt die Zahl der Ankommenden wieder nach oben.
Die rechtlichen Bedenken in letzter Minute werden Wochen später als nicht zwingend zurückgewiesen. Im BMI und bei den Sicherheitsbehörden „schiebt man rückwirkend alle Schuld auf Merkel, die angeblich de Maizière im letzten Moment in den Arm gefallen sei. Im Kanzleramt zeigt man hingegen auf den Minister.“ Jedenfalls hat de Maizière noch einmal bei der Kanzlerin nachgefragt, „statt in eigener Ressortverantwortung Zurückweisungen anzuordnen. Und deshalb entschied auch die Kanzlerin weder dafür noch dagegen, sondern erbat von de Maizière Zusicherungen, die er nicht geben konnte. Er konnte nicht versprechen, dass die Entscheidung später vor Gerichten Bestand haben würde. Und er konnte nicht versprechen, dass es keine unpopulären Bilder geben würde.“
Für die Geschichte können wir mit Robin Alexander festhalten:
„Aus der ‚Ausnahme‘ der Grenzöffnung wird ein monatelager Ausnahmezustand, weil keiner die politische Kraft aufbringt, die Ausnahme wie geplant zu beenden.
Die Grenze bleibt offen, nicht etwa, weil es Angela Merkel bewusst so entschieden hätte, oder sonst jemand in der Bundesregierung. Es findet sich in der entscheidenden Stunde schlicht niemand, der die Verantwortung für die Schließung übernehmen will.“
Diese Bundesregierung hat sich in einem von Robin Alexander exemplarisch vor uns ausgebreiteten, schwerwiegenden Fall als gewogen und zu leicht befunden erwiesen. Es muss angenommen werden, dass es sich dabei um systemisches Versagen handelt, nicht um einmaliges. An den Behörden des Landes liegt es offenkundig nicht, sondern an der Politik. Deutschland wird nicht regiert.