In Brüssel erhält der Begriff Hinterzimmer zuletzt noch eine positive Note. Man könnte von einer doppelten Umkehrung sprechen, in der aus Schwarz wieder Weiß wird – der negativ behaftete Begriff erhält etwas Positives, wo das Umfeld selbst nicht allzu positiv ist. Es kommt eben immer auf die Umgebung an.
Aus dem italienischen Hinterzimmer kommt die Reform
Aus einem solchen Hinterzimmer drang nun die neue Botschaft der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Die EU will demnach Rückkehrzentren für abgelehnte Asylbewerber außerhalb der EU errichten. Letztlich sollen diese Zentren dem britischen Ruanda-Modell näher sein als dem Abkommen zwischen Italien und Albanien. In die Zentren sollen jene Migranten gebracht werden, die „kein Recht haben, in der EU zu bleiben“ (O-Ton Ursula von der Leyen). Konkrete Orte sind noch keine bekannt.
Das würde bedeuten, dass die EU ihre Rückführungen künftig zumindest teilweise gemeinsam organisiert. Abgelehnte Asylbewerber könnten in die – noch unbenannten und inexistenten – Zentren überführt werden. Das würde den Druck erhöhen, eine Abschiebung oder freiwillige Ausreise ins Heimatland anzutreten. Im Schlusskommuniqué heißt es: „Die Europäische Union ruft auf allen Ebenen zu entschlossenem Handeln auf, um Rückführungen (…) zu erleichtern und zu beschleunigen.“ Laut von der Leyen soll ein EU-Gesetzentwurf folgen.
Statt von einem Hinterzimmer könnte man auch von einer Fokusgruppe sprechen, die ein bestimmtes Thema konzentriert ausarbeitet. Um zwei zusammengerückte Tische herum tagten am Donnerstag früh: der Tscheche Petr Fiala, die Dänin Mette Frederiksen, Giorgia Meloni aus Italien, der Niederländer Hendrikus Wilhelmus Maria „Dick“ Schoof, der Grieche Kyriakos Mitsotakis, Viktor Orbán und der österreichische Kanzler Karl Nehammer. Die Runde wurde komplettiert durch den zypriotischen Präsidenten Nikos Christodoulidis, den Maltesen Robert Abela und die EU-Kommissionspräsidentin. Wenig später stieß wohl der polnische Premier Donald Tusk dazu, dessen Tischfähnlein aber noch verwaist ist. All das fand in den Räumen der italienischen Delegation statt, wie Politico weiß, organisiert von Italien, Dänemark und den Niederlanden. Es war ein etwas enger Raum, ganz anders als die EU-Paläste sich sonst darstellen. Und es hat etwas Verschwiegenes – aber möglicherweise Wirkungsvolles. Bemerkenswert: einträchtig und nahe sitzen Ursula Von der Leyen und Victor Orbán beieinander – dabei hatte die Kommissionspräsidentin den ungarischen Regierungschef noch eine Woche vorher wüst und geradezu vulgär für dessen Positionen beschimpft, die sie jetzt nachholen muss. Frau Präsidentin muss unter dem Druck ihre eigenen Schimpfwörter essen; ein gewisser Triumph für Orbán, den er bislang noch nicht öffentlich geteilt hat: Wahre Genießer genießen schweigend.
Eine neue EU-Migrationspolitik im Entstehen?
Zehn von 27 EU-Staats- oder Regierungschefs und eine EU-Präsidentin besprechen die neuen Maßnahmen in Antwort auf die illegale Migration, eine neue EU-Migrationspolitik, könnte man pathetisch ausrufen, die auch die Asylreform vom letzten Jahr hinter sich lässt. Zehn Regierende, die sich immerhin über die Parteigrenzen hinweg – von Mitte-links bis Rechts-national – relativ einig sind, dass es so nicht weitergeht. Darunter vier Vertreter aus dem „Club Med“ der EU (EU Med, EuroMed 9, MED9), die als Ersteintrittsländer besonders betroffen sind. Tschechien und Ungarn sind vor allem unfreiwillige Transitländer.
Das gilt zum Teil auch für Österreich, das daneben wie Dänemark und die Niederlande als Zielland der Migranten in Frage kommt. Wer aber bei dieser Besprechung fehlte, das war Bundeskanzler Scholz, der jenem Land vorsteht, das seit Jahren den Löwenanteil der EU-Asylgesuche entgegennimmt und sich Jahr um Jahr wieder darauf einstellt, noch mehr Migranten aufzunehmen, unterzubringen, zu „integrieren“ und zu verköstigen.
Scholz lässt die – vielleicht ja doch bedeutenden – Neuerungen in der EU-Migrationspolitik also eher geschehen, als dass er sie lenkt und mitbestimmt. Am Ende wird auch der Bundeskanzler seine Paraphe unter den gemeinsamen Beschluss setzen, aber er hat im Vorfeld keinen Druck für Verschärfungen oder Neuerungen ausgeübt. Der Bundes-Ampel geht es noch relativ gut mit dem Ist-Zustand. Abgewählt wird sie wohl ohnehin, der Wind bläst ihr nicht nur migrationspolitisch ins Gesicht. Sie ist es gewohnt und nimmt es stoisch hin. Ebenso sicher scheint aber, dass mindestens einer der Koalitionspartner auch künftig an der Regierung beteiligt sein wird – wenn nicht alle drei beim ungünstigsten Ausgang der Wahlen. Also kein Grund zur Panik. Vor allem versucht man, sich mit „ruhiger Hand“ über alle Schwierigkeiten hinwegzuretten.
Wilde Migration ohne Wohlstandszuwachs
Für den Tschechen Fiala funktioniert die derzeitige Rückführungspraxis – mit einer Erfolgsquote von gerade einmal 20 Prozent – nicht. Er fordert laut Radio Prague International mehr Zusammenarbeit mit Drittländern, aber auch einen strengeren Grenzschutz, der Rückführungen überhaupt überflüssig machen würde. Es brauche eine „grundlegend andere Rückführungspolitik der EU“. Auf die gibt es nun zumindest eine Aussicht – dank der von Rom, Kopenhagen und Den Haag aus organisierten Elferrunde.
Dabei wahren einige der Teilnehmer weiterhin eine Äquidistanz zu beiden Lagern. Kyriakos Mitsotakis hat kurz vor dem Brüsseler Gipfel gefragt, wer eigentlich die griechischen Oliven pflücken soll, wenn man gar keine (Asyl-) Migration mehr zulässt. Aber warum sollten ausgerechnet illegale Asylmigranten zu fleißigen Erntehelfern werden? Diese Frage vermeidet auch Mitsotakis. Die wilde Migration ist bislang der einfachste Weg für die Europäer, an billige Arbeitskräfte zu kommen, die aber ihrerseits die Automatisierung verlangsamen und kurz- wie langfristig keinen Wohlstandszuwachs bringen. Auch Mitsotakis stand am Ende hinter dem Fokusgruppen-Vorschlag von Rückkehrzentren außerhalb der EU, die noch nicht die Neuzugänge beenden.
Polen folgt Finnland: Abschottung gegen Russland ist gut
In der Tat umwehte den Brüssler Gipfel ein scharfer Wind: Finnland hat seine Grenze zu Russland für illegale Migranten geschlossen und reagiert damit auf die „hybride Kriegsführung“ des Nachbarlands. Auch Polen will das Asylrecht für illegale Grenzübertreter aus Weißrussland aufheben. Dasselbe will Donald Tusk aber nicht an den südlichen Grenzen Polens praktizieren. Nach Osten gilt ein Gesetz, nach Süden ein anderes. Denn dort verläuft ein Arm der Balkanroute, über den Migranten nach Deutschland gelangen. Damit scheint Donald Tusk weniger Probleme zu haben.
Die EU-27 geben sich in ihrem Schlusskommuniqué entschlossen, die Instrumentalisierung der illegalen Migration zu politischen Zwecken zu bekämpfen – „mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln“, wenn auch „unter Respektierung des europäischen und internationalen Rechts“. Diese EU-konventionell abgemilderte wilde Entschlossenheit bezieht sich aber aktuell nur auf Russland und seine Verbündeten. Den Druck des politischen Islams, der in den Zuwanderungswellen aus dem Süden und Südosten zum Ausdruck kommt, ignorieren die EU-Führer weiterhin beharrlich. Sie finanzieren bekanntlich auch radikale islamische NGOs aus dem Brüsseler Säckel.
Mitsotakis fordert mehr Rückführungen in die Türkei
In Brüssel gehörte Tusk nicht zu den ausgesprochenen Migrations-Falken, wie vielleicht schon seine Abwesenheit auf dem Fokusgruppenbild verrät. Ihm hätte es gereicht, wenn im Abschlusskommuniqué abstrakt von Diskussionen zur Migration die Rede gewesen wäre. Die eine ‚Schwäche‘, ein leichtes Hinken zur rechten Seite hin, das Tusk aufweist, besteht in der polnischen Ablehnung des EU-Migrationspaktes vom letzten Dezember, vor allem der Umverteilung von Migranten, die bei Nichtteilnahme Strafzahlungen nach sich ziehen soll. Die EU-Asylreform wurde im heutigen Schlusskommuniqué mit keinem Wort erwähnt.
Laut Tusk kostet der Grenzzaun nach Weißrussland das Land im Jahr 600 Millionen Euro. Auch der Grieche Mitsotakis sprach jüngst wieder von den Kosten der abweisenden Grenzpolitik in der Ägäis und forderte die EU auf, hier etwas beizutragen. Daneben legt Mitsotakis vor allem Wert darauf, dass die abgelehnten Migranten nicht ins Ersteintrittsland zurückgebracht werden, sondern in ihr Herkunftsland. Das ist aus griechischer Sicht verständlich und würde das Land von Rücküberstellungen aus anderen EU-Ländern entlasten, die ohnehin kaum jemals stattfanden. Die griechische Politik der letzten fünf Jahre – also seit Mitsotakis’ Regierungsübernahme – gegenüber der illegalen Migration sei „sehr strikt, aber gerecht“. Nun rücken Rat und Kommission näher an die griechische Position heran. Aber etwas anderes bereitet dem Griechen Missbehagen: In die Türkei gibt es trotz der Gemeinsamen Erklärung von 2016 nur wenige Rückführungen.