Nur fünf Tage nach Ursula von der Leyens spektakulär aggressiver Rede gegen Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orbán im EU-Parlament (am vergangenen Mittwoch) trafen die beiden am Montag wieder aufeinander, diesmal in Berlin. Dort gab es ein Spitzentreffen des sogenannten „Berliner Prozesses”. Das ist ein vor zehn Jahren von Deutschland initiiertes Diskussionsformat, um die ob ihres ewigen Verharrens im Warteraum der EU frustrierten Beitrittskandidaten des Westbalkan irgendwie bei der Stange zu halten. Schließlich will man nicht, dass Rußland, China oder die Türkei dort strategischen Einfluss gewinnen, nur weil die EU sich niüberwinden kann, diese Länder endlich aufzunehmen.
Weil dies ein EU-Format ist, war von der Leyen mit dabei, und ebenfalls Orbán als turnusmäßiger EU-Ratspräsident. Ob dies beiden sich etwas sagten, ist nicht überliefert. Aber da von der Leyens Rede vom Mittwoch wohl als Kriegserklärung gegen Orbán gewertet muß, und er deswegen in seiner Erwiderung auch sie persönlich angriff und schwere Vorwürfe erhob, dürfte das Tischtuch zwischen ihnen endgültig zerschnitten sein.
Dass die Straßburger Debatte noch nachhallte, war in Berlin deutlich zu spüren. Orbán traf am Rande des Gipfels bilateral auch mit Bundeskanzler Olaf Scholz zusammen (über den er noch nie ein schlechtes Wort verloren hat, und Scholz auch nicht über ihn), und stichelte bei der Gelegenheit gegen EVP-Fraktionschef Manfred Weber, der im EU-Parlament behauptet hatte, „niemand” spräche mehr mit Orbán, er sei isoliert. Orbán hatte darauf mit der Bemwerkung reagiert, Weber beleidige damit Olaf Scholz, Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron und Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni, mit denen er sich in jüngster Zeit getroffen hatte: Sie alle seien also laut Weber „Niemande”. Aus Berlin postete Orbán ein sehr freundlich wirkendes Foto mit Scholz mit dem Text: „Noch ein Name auf Manfred Webers Liste von „Niemanden”.
Die politische Bedeutung der Straßburger Skandal-Debatte beginnt aber erst jetzt, mit einigen Tagen Abstand, so richtig einzusinken. Es war ganz klar der Startschuss einer bewussten Strategie in Brüssel, entweder Orbán von der Macht, oder Ungarn aus der EU zu drängen. Die EVP machte das mit einem Tweet sehr deutlich, in dem sie Orbán mitteilte, es sei „Zeit, zu gehen”.
Und nachdem im September bereits 67 EU-Abgeordnete dazu aufgerufen hatten, Ungarn aus der Schengen-Zone auszuschließen,
forderten dies nun auch zwei holländische Parteien in einem Aufruf an die EU.
Orbán selbst hat Webers und von der Leyens Attacken klar als Absichtserklärung bezeichnet, sich in die ungarischen Wahlen einzumischen und ihn zu Fall zu bringen. Dessen bedurfte es kaum: Weber selbst war in einer Pressekonferenz am 8. Oktober (vor der EU-Debatte) an der Seite des ungarischen Oppositionschefs Péter Magyar erschienen, und hatte schlicht erklärt, er sei sicher, dass Magyar „die nächsten Wahlen in Ungarn gewinnen wird, so wie Donald Tusk in Polen”.
Doch noch etwas anderes hallt nach. In seiner Replik auf die vielen Vorwürfe gegen ihn trug Orbán in Straßburg harte Fakten vor über die Lebenslügen der EU. Dabei konnte man, bei all dem sonstigen Tumult in dieser Veranstaltung, plötzlich eine
Nadel auf den Boden fallen hören, so still war es auf einmal. Denn Orbán illustrierte mit Zahlen, dass die EU-Länder heimlich die Russland-Sanktionen umgehen und damit Rußlands Angriffskrieg gegen die Ukraine finanzieren. Das klang so:
„Hier sind die Zahlen! Die EU exportiert jeden Monat eine Milliarde Dollar mehr in bestimmte zentralasiatische Länder als vor dem Krieg. Warum wohl? So umgehen deutsche, französische und spanische Unternehmen die Sanktionen. Sie, die westlichen Länder, haben seit dem Ausbruch des Krieges russisches Öl im Wert von 8,5 Milliarden Dollar von türkischen oder indischen Raffinerien gekauft. Und Sie kritisieren uns? Für achteinhalb Milliarden! Das ist Heuchelei! Im Jahr 2023 haben Sie, Westler, 44 % mehr russisches Öl gekauft als im Jahr zuvor. Die Steuereinnahmen, die Ihre Unternehmen an den russischen Haushalt abgeführt haben, betrugen 1,7 Milliarden Dollar. Und Sie beschuldigen uns, russlandfreundlich zu sein? Nun, Sie finanzieren es!“
Das saß.
Die Abschlussrede von Viktor Orbán im Europäischen Parlament
9. Oktober 2024, Straßburg
Vielleicht ist es nur richtig, dass ich zunächst der Frau Präsidentin dafür danke, dass es ihr gelungen ist, diese hitzige Debatte zu leiten. Vielen Dank von Seiten der Präsidentschaft für die korrekte Leitung der Sitzung.
Leider hat die Debatte die Grenzen der Vernunft und die Grenzen der Fakten überschritten. Ich habe Ihnen zugehört und meistens nur absurde parteipolitische Vorwürfe gehört, die die bekannte Propaganda sind. Ich hätte gerne eine vernünftige und unvoreingenommene Debatte über andere Themen außerhalb des Programms des ungarischen Ratsvorsitzes geführt, über die Rechtsstaatlichkeit oder die Korruption, aber leider lässt Ihre Propaganda dies nicht zu. Ich hätte gerne gesagt, dass Ungarn laut dem Bericht der Europäischen Kommission alle Forderungen und Anforderungen der Kommission in Bezug auf die Justiz erfüllt hat. Ich hätte gerne gesagt, dass Sie, wenn Sie nicht die von George Soros finanzierten Korruptionsberichte, sondern, sagen wir, die Daten der Weltbank gelesen hätten, dann gesehen hätten, dass Ungarn in Bezug auf die Korruption unter Ihren Ländern gar nicht so übel dasteht. Wenn es eine sinnvolle Debatte gegeben hätte, hätte ich auch gerne gesagt, dass das ungarische öffentliche Beschaffungswesen nach Meinung des Ausschusses ebenfalls alle Erwartungen erfüllt, die hier gestellt werden. Ich hätte auch gerne gesagt, dass laut der jüngsten Pew-Research-Erhebungen der Anteil der Menschen in Ungarn, die mit der Demokratie zufrieden sind, höher ist als in den meisten EU-Ländern. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die ungarischen Wähler bei Wahlen regelmäßig ihr Vertrauen in uns zum Ausdruck bringen. Ich hätte all diese Dinge gerne gesagt, aber die Debatte ist über die Fakten hinausgegangen. Ich bedaure, dass das Parlament zu einem Schauplatz für schäbige Propaganda geworden ist.
Jemand hat mich gefragt, was das in mir auslöst, dass mein Land und ich der Korruption bezichtigt werden. Nun, ich bin daran gewöhnt, sehr geehrter Herr Abgeordneter! Das geht nun schon seit fünfunddreißig Jahren so! Fünfunddreißig Jahre! Jeder weiß, dass das alles nicht wahr ist, es ist linke Propaganda. Es geht mir also gut, ich danke Ihnen für Ihr Interesse.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Es gab jedoch einige starke politische Äußerungen, die ich nicht unkommentiert lassen kann. Ich denke, dass Herr Freund, der Ungarn der Korruption beschuldigt, in Wirklichkeit selbst die korrupteste Person ist, denn er wird von George Soros bezahlt. Es ist George Soros, der für diese Berichte bezahlt, um Ungarn zu diskreditieren. Das ist das Korrupteste, was ich jemals gesehen habe.
Ein niederländischer Abgeordneter hat hier gesagt, dass sie, die Niederländer, uns finanzieren. Ich nehme an, er meinte damit nicht nur die Niederlande, sondern auch die einzahlenden Staaten. Ich möchte das im Namen von Ungarn zurückweisen! Sie nehmen viel mehr Geld aus Ungarn heraus als sie hineinschicken. Sie profitieren alle von uns, sie gewinnen sehr viel Geld an uns. Sie tun uns keinen Gefallen, wenn sie EU-Unterstützungen nach Ungarn bringen. Es landet alles in Ihren Taschen. Schauen Sie sich die Statistiken Ungarns an! Die Gewinne der ausländischen Investoren übersteigen bei Weitem den Betrag, den Sie Ungarn geben. Sie verdienen Geld an uns, Sie unterstützen Ungarn nicht, Sie verdienen Geld an uns! Ich finde es abstoßend, dass Vertreter bestimmter reicher Länder so tun, als würden sie uns ohne Eigennutz unterstützen, weil sie europäische Werte vertreten. Davon ist keine Rede! Sie wollen einfach nur Geld an den Ungarn machen. Bieten Sie einen guten Deal an, der gut für Ungarn ist, und dann können wir zusammenarbeiten.
Ich finde es absurd, dass wir uns hier im Plenum des Europäischen Parlaments alle gemeinsam eine Rede über Rechtsstaatlichkeit anhören müssen, die wir von der Frau Abgeordneten Salis gehört haben, die in den Straßen von Budapest friedliche Menschen mit Eisenstangen verprügelt hat. Und hier hält sie uns einen Vortrag über die Rechtsstaatlichkeit? Ist das nicht absurd? Ich finde es auch absurd, Frau Präsidentin, dass eine belgische Abgeordnete, Frau Wilmès, sich zu Wort meldet, Ungarn über Rechtsstaatlichkeit belehrt, und dann, wenn wir in Brüssel eine Konferenz über Rechtsstaatlichkeit abhalten wollen, wird unsere Veranstaltung verboten. Ist das nicht ein Witz? Ist das nicht absurd? Ist das möglich? Ist da überhaupt noch Platz dafür in dieser Heuchelei?
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Leider musste ich mir auch von ungarischen Abgeordneten anhören, dass wir uns nicht um die Probleme der Menschen kümmern. Aber ich habe das von einem ungarischen Europaabgeordneten gehört, dessen Partei bei den letzten Europawahlen 8 % der Stimmen erhalten hat. Unsere Partei bekam 45! Wer kümmert sich also um die Probleme der Menschen, meine sehr geehrten Damen und Herren?
Die Vertreterin der europäischen Sozialdemokraten wirft uns vor, zu freundlich zu Herrn Präsident Putin zu sein. Aber, Frau Dobrev Klára, als Ihr Mann noch Ministerpräsident war, saß Präsident Putin in Ihrer Küche! Damals waren Sie stolz darauf, und die Bilder davon überfluteten die ungarischen Medien. Und Sie beschuldigen uns? Ach was!
Generell muss ich sagen, und ich entschuldige mich bei den Abgeordneten, dass Sie ihrerseits ungewollt in eine ungarische innenpolitische Debatte hineingezogen worden sind, die hier vor Ihren Augen stattgefunden hat. Man kann viel darüber denken, aber eines können Sie sicher sehen. Der ungarischen Demokratie geht es gut, vielen Dank, sie ist gut, sie ist vital und sie ist stark. Ich bedaure, dass die ungarischen Abgeordneten dieses Treffen heute zum Thema und Anlass für interne politische Debatten gemacht haben. Ich finde es nicht richtig, dass dies geschehen ist, aber ich kann nichts tun, ich muss auch hier ein paar Reaktionen geben. Ich bin überzeugt, dass es nicht richtig ist, wenn ein ungarischer Abgeordneter sein eigenes Land im Europäischen Parlament angreift. Was für ein Mensch nutzt ein internationales Forum, um sein eigenes Land anzugreifen? Ich muss sagen, dass ich es auch absurd finde, was ich über den ungarischen Abgeordneten, der in der EVP sitzt, zu sagen habe, denn ihr ungarischer Kollege hat vor Kurzem vor der ungarischen Öffentlichkeit gesagt, und das können Sie alle nachlesen, dass Abgeordneter im Europäischen Parlament zu sein der größte Scheinjob ist, der nur dazu da ist, gut zu verdienen. Und jetzt unterstützen Sie ihn?
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ich finde es eklatant, dass hier jemand als Ungar von Missbrauch spricht, während er zu Hause wegen simplen kriminellen Diebstahls angeklagt wird, und es ist offensichtlich, dass er sein Parlamentsmandat nur angenommen hat, um sich hinter seiner Immunität verstecken zu können. Das ist es, was Sie unterstützen, sehr geehrter Herr Weber! Das ist Ihre moralische Verantwortung.
Zusammenfassend, Frau Präsidentin, muss ich feststellen, dass Demokratie für die Linken nur dann Demokratie ist, wenn sie, die Linken, gewinnen, und wenn die Rechten gewinnen, endet die Demokratie. Meine Erfahrung aus dieser Debatte ist, dass mir ganz klar ist, dass Europa in Wirklichkeit vor Ihnen, der europäischen Linken, verteidigt werden muss. Mehr Respekt für Ungarn, mehr Respekt für die Ungarn! Wenn Sie das wahre Ungarn sehen wollen, liebe Linke, dann kommen Sie nach Ungarn, ich lade Sie ein! Auch wenn wir nicht einer Meinung sind, Sie sind alle willkommen!
Ich danke Ihnen, Frau Präsidentin, dass ich heute hier sein durfte!