Unser Energiesystem wird sich ändern. „Die Zukunft wird flexibler sein, spannender, ja, auch anspruchsvoller: nicht mehr nachfrage-, sondern angebotsorientiert…“, so Sylvia Kotting-Uhl, die ehemalige Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit im April 2021. Demnächst geht die grüne Doktrin in die Umsetzung.
Urlaub nur im Winter
Frau Kotting-Uhl formulierte diese epochale Aussage in Beantwortung eines Antrags der AfD, der sich mit der künftigen Versorgungssicherheit befasste. Der Antrag wurde (natürlich) abgelehnt, der zukunftsweisende Gedanke der ehemaligen Teilzeit-Theaterdramaturgin soll nun Praxis werden. Die Bundesnetzagentur (BNA) teilte in einem Schreiben vom 23. Juli 2024 zur „Fortentwicklung der Industrienetzentgelte“ mit, dass die so genannte atypische Netznutzung, die in der Stromnetzentgeltverordnung Paragraf 19 Absatz 2 geregelt ist, nicht mehr „den Anforderungen eines Stromsystems, das von hohen Anteilen erneuerbarer Stromerzeugung geprägt ist“, entspricht. Wesentliche Netzkostentreiber seien nicht mehr die auftretende Last, sondern die dezentrale Einspeisung.
Die „Bandlastprivilegierung“ setze Fehlanreize. Sie ermäßigt die Netzentgelte für Großkunden, die konstante und große Strommengen verbrauchen. Diese Begünstigung hat im Wirtschaftsleben lange Tradition, im Grunde wurde damit ein altes kaufmännisches Prinzip umgesetzt. Wer viel abnimmt, auch noch regelmäßig beliefert wird (beim Strom also konstant), verursacht auch beim Lieferanten weniger Aufwand und sorgt für viel Umsatz. Deshalb gibt es niedrigere Preise pro Produkteinheit.
Unflexibles Abnahmeverhalten, so steht es im Schreiben der BNA, sei „gesamtökonomisch zunehmend nachteilhaft“ und hemme die Integration „erneuerbarer“ Energien in den Strommarkt. Diese so genannten Fehlanreize sollen weg. Die Bandlastregelung soll ab 1. Januar 2026 durch eine erforderliche Reform aufgehoben werden. Ein vorher aufgesetzter Prozess zur freiwilligen Lastreduktion war offenbar nicht erfolgreich. Es fehlten Anreize für die Unternehmen, sich daran zu beteiligen.
Um das Stromsystem der Zukunft zu beherrschen, gibt das Grundsatzpapier „Strommarktdesign der Zukunft“ helfende Hinweise. Das Zauberwort lautet „Flexibilität“ auf der Verbraucherseite. Dieser Begriff, teils erweitert auf „-optionen“, taucht insgesamt 133 Mal im 118-seitigen Dokument auf, mehr als einmal pro Seite. „Flexibilität wird zum neuen Markenzeichen“, heißt es, aber konkret wird es an keiner Stelle. Es gäbe mehr Stunden sehr niedriger Strompreise, die genutzt werden müssten, Flexibilitätspotenziale sollen erschlossen werden, ein Paradigmenwechsel sei nötig. Die Grundlasterzeugung aus fossilen Großkraftwerken werde durch Wind und PV abgelöst. Immerhin wird nicht die Existenz der Grundlast bestritten. Zur Möglichkeit, konstante Windgeschwindigkeit zu organisieren, wurde allerdings auch nichts gesagt.
Da also eine sichere Abdeckung der Grundlast nicht mehr möglich sein wird, soll sich die Verbraucherseite anpassen. Das ist im Bereich der Grundstoffindustrie mit durchlaufenden energieintensiven Prozessen schwierig, auch wenn es technisch die eine oder andere Option gibt. Schmelzwannen in der Aluminiumindustrie können so umgebaut werden, dass sie ein paar stromlose Stunden überstehen. Wer bezahlt den am Ende höheren Stromverbrauch und verspätete Liefertermine? Bei vielen Prozessen der Metall-, Chemie- und Glasindustrie sind Unterbrechungen der Stromversorgung mit Schäden, zum Teil sogar Totalschäden an den Produktionsanlagen verbunden, also de facto nicht möglich. Aber die Grundstoffindustrie kann natürlich weiter produzieren, ohne „Privileg“ und mit höheren Strompreisen.
Einen Anreiz zum flexiblen Strombezug gibt es bereits heute über die Preissignale des Marktes. Das ist angesichts der Schwankungsbreite und der risikobehafteten Preisprognosen keine sichere Option, weshalb die meisten Großverbraucher sich erhebliche Teile ihres Strombedarfs im Voraus vertraglich sichern („hedgen“), um gegen Preisspitzen gewappnet zu sein. Wer dennoch ins operative Risiko geht, wie das Feralpi-Stahlwerk in Riesa, kann allerdings schon durch einen Computerfehler im europäischen Stromhandel in den Stillstand gezwungen werden.
In manufakturähnlich arbeitenden Betrieben besteht sicherlich die begrenzte Möglichkeit, stromintensive und stromarme Fertigungsschritte so zu organisieren, dass zu Zeiten hoher Strompreise weniger Bedarf besteht. In unserer hochtechnisierten Wirtschaft mit detailliert durchgeplanten Fertigungslinien dürfte der Effekt sehr begrenzt bleiben.
Der Mensch – wie immer im Weg
Die Idee der angebotsorientierten Versorgung zeigt exemplarisch das asoziale grüne Weltbild. In den Papieren findet sich keinerlei Hinweis darauf, was es bedeutet, die Arbeitszeiten vollflexibel gestalten zu wollen. Diese sind in Deutschland in langer industrieller Tradition bei gewerkschaftlicher Mitwirkung kleinteilig geregelt.
Maßgebend ist das Arbeitszeitgesetz (ArbZG). Sonn- und Feiertage sind als Tage der Arbeitsruhe und „der seelischen Erhebung der Arbeitnehmer“ definiert und zu schützen. De facto gilt für diese Tage ein Arbeitsverbot, zahlreiche Ausnahmen sind allerdings nicht zu vermeiden. Mindestens 15 Sonntage im Jahr müssen arbeitsfrei bleiben. Nach Sonntagsarbeit muss den Arbeitnehmern ein Ersatzruhetag in den darauffolgenden zwei Wochen gewährt werden, nach Feiertagsarbeit in den darauffolgenden acht Wochen.
Aus arbeitsmedizinischer Sicht sollte Nachtarbeit grundsätzlich vermieden werden. Eine Verlagerung von Arbeitszeit in die Nacht (23 bis 6 Uhr) erfordert regelmäßige medizinische Tauglichkeitsuntersuchungen der betroffenen Mitarbeiter.
Tarifverträge, Betriebs- oder Dienstvereinbarungen treffen oft weitergehende Regelungen, die zum Beispiel Ankündigungszeiten für Arbeitszeitänderungen vorschreiben. Ändert sich der Schichtplan, muss dann 48 Stunden vorher – oder in einem anderen vereinbarten Zeitraum – dem Arbeitnehmer eine offizielle Mitteilung gemacht werden.
Eine flexiblere Arbeitszeit ermöglichen 24-Stunden-Schichten, wie bei der Feuerwehr praktiziert. Dann können Arbeits-, Bereitschafts- und Ruhezeiten variabel über 24 Stunden verteilt werden, wobei auch hier die acht- beziehungsweise Zehnstundengrenze der Arbeitszeit gilt. Allerdings braucht man hier mehr Personal, Ruheräume, Verpflegungsoptionen. An die flexible Kinderbetreuung bis hin zu Schicht-Kitas hat vermutlich noch niemand gedacht. Hier würden DDR-Erfahrungen helfen.
Man stelle sich nun den betrieblichen Personalplaner vor, der unter diesen Randbedingungen die vollflexiblen Produktionsabläufe sichern soll vor dem Hintergrund unsicherer Dreitages-Windprognosen. Urlaub gäbe es ohnehin nur noch im Winter, denn wann ist der Strom am billigsten? An den Sommerwochenenden, teilweise auch nachts, aber seltener zu den üblichen Geschäftszeiten werktags früh, mittags und abends. Sonntags- und Nachtarbeit ist meist zuschlagspflichtig, aber gerade da ist der Strom oft billig. Was über den Strombezug an Geld gespart werden könnte, ginge auf der anderen Seite über die Lohnzuschläge wieder weg.
Im Paragrafen 23 des ArbZG sind Strafvorschriften festgehalten. Verstöße gegen das Gesetz, die Gesundheit und Arbeitskraft eines Arbeitnehmers gefährden, werden mit Geld- oder Freiheitsstrafen geahndet.
Was sagen die Gewerkschaften? Auf Anfrage äußern sich IG BCE und IG Metall nicht. In ihrer Begeisterung für die Große Transformation wurden die Kleinigkeiten offenbar noch nicht betrachtet. Außerdem ziemt es sich vermutlich für Gewerkschaftsfunktionäre nicht, an der Regierung Kritik zu üben. Sie sind oft auch SPD-Funktionäre. Den Mitgliedern hilft das nicht.
Wie groß könnte die Bereitschaft der Beschäftigten sein, sich auf solche Arbeitszeiten einzulassen? Die jetzt ins Berufsleben tretenden Generationen Z bis Schneeflöckchen haben gänzlich andere Vorstellungen. Work-Life-Balance und Viertagewoche sind gern gestellte Forderungen, Wochenend- und Nachtarbeit ist verpönt, Homeoffice ist das bevorzugte Büro. Verdienst und Freizeit sind in ihrer Gewichtung deutlich verschoben. Früher stand gutes Geld im Vordergrund, junge Mitarbeiter leisteten gern Nachtschichten, Sonn- und Feiertagsarbeit wegen der steuerfreien Zuschläge. Heute steht die Life-Balance im Vordergrund – kein Wunder, schließelich haben die Arbeitnehmer aufgrund der Abgabenlast wenig von dem, was sie erwirtschaften.
Die Welt ist groß und anders
Der Mensch soll zur vollflexiblen Verfügungsmasse einer asozial zu nennenden Energiestrategie werden. Es gibt bei den Grünen eine tiefgreifende Unkenntnis von industrieller Praxis, vom Alltag sozialversicherungspflichtig tätiger gewerblicher Arbeitnehmer, vom Arbeitsleben an sich. Es besteht eine astronomische Entfernung (oder wenigstens eine hunderttausende von Kilometern weite) zwischen grünem Bullerbü und dem Wirtschaftsleben im globalen Wettbewerb.
Für entwickelte Industrieländer mit einem hohen Grad an Arbeitsteilung ist eine solche „angebotsorientierte Versorgung“ nicht realisierbar. Jedes Produkt muss in richtiger Menge zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Das kann auf der Grundlage von Zufallsstromerzeugung mit Wind- und PV-Anlagen nicht geleistet werden.
Eine „angebotsorientierte Versorgung“ bedeutet einen Rückschritt in vorindustrielle Zeiten, wo die Menschen nur in Abhängigkeit natürlichen Energieangebots arbeiten konnten. Die „Schusterkugel“ fokussierte das wenige Tageslicht auf den Handwerkertisch, an den Windmühlen stapelte sich zuweilen das Getreide, weil zu wenig Wind wehte. Aber das Getreide konnte man zwischenlagern, bei viel Wind und wenig Getreide die Mühle anhalten. Heute müssen die Mühlen gesetzlich zwingend weiterlaufen, egal, ob der Strom gebraucht wird oder nicht. Lagern kann man ihn kaum, deshalb muss er immer öfter kostenpflichtig im Ausland entsorgt werden. Dadurch wird Geld buchstäblich verbrannt, was in anderen gesellschaftlichen Feldern dringend fehlt. Das Wohlergehen der Windbranche hat einen überragenden regierungspolitischen Wert.
Aufschlussreich ist die Sprache der uns Regierenden und der sie Beratenden. Sprache zeigt Denken. Das scheint zuweilen sehr schlicht zu sein, wenn man an Formulierungen wie Wumms, Doppel-Wumms und Bazooka denkt. Minister Habeck drückte sich konkreter aus, er möchte „voll ins Risiko (gehen), vielleicht gelingt es ja auch“. Was, wenn nicht? Auch sagt er als Wirtschaftsminister, der ja auch Wirtschaftlichkeitsminister sein sollte, Sätze wie: „Am Ende ist es nur Geld“. Nebenbei sieht er sich in der Pflicht, Straftäter der „Letzten Generation“ in Schutz zu nehmen und schreckt dabei selbst vor Nazi-Sprech nicht zurück. Er hält den Staat und damit sich als dessen Vertreter für fehlerlos.
Frau Professorin Kemfert schlägt vor, bei der Energiewende mehr Irrsinn zu wagen. Das ist schon in Umsetzung. Ihr Chef beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Professor Fratzscher, will energieintensive Branchen ziehen lassen. Dass diese auch den Beginn von Wertschöpfungsketten darstellen und die Weiterverarbeitung und –veredlung bei importiertem Ausgangsmaterial nicht unbedingt profitabel ist, sieht man an der zurückhaltenden Batterieproduktion im Land. Wenn die EU die CO2-Intensität des zur Produktion notwendigen Stroms bepreisen will, dürfte sich diese Wertschöpfung ohnehin erledigt haben. Professor Hans-Werner Sinn bezeichnete die deutsche Energiepolitik als extremistisch.
Professor Fratzscher ist auch der Fachmann, der vor Inflationspanik warnte, die seine geringste Sorge sei. Allerdings schwebt seine Gehaltsklasse deutlich über der jener Menschen, die nun vollflexibel arbeiten sollen und die sich tatsächlich Sorgen machen müssen.
Bei alldem wird beinhart Ideologie umgesetzt, konkret die Anti-Atom-Ideologie. Die Weltkarte zeigt nur noch drei bedeutende Industrieländer, die sich offensiv der Kernkraft verweigern: Deutschland, Österreich und Luxemburg. Die Linke, zwar eine aussterbende Art, aber wenigstens noch wortmächtig, formulierte es in Person von Lorenz-Gösta Beutin, Linken-Mitglied des Bundestages von 2017 bis 2021, wie folgt: „Wir sagen ganz klar: Für uns gehören Antifaschismus und Antiatomkraft zusammen.“ Nun war Beutin sicher nicht die hellste Kerze auf der Linken-Torte, aber er sprach aus, was viele im linksgrünen Sektor denken.
Der Abstiegskurs wird weiter verfolgt werden, ob unter Ampelfarben, Jamaikafarben oder wie bunt es vor der Brandmauer auch immer werden wird. Die fortgesetzte Abwanderung von Industrie führt zu geringeren Energieverbräuchen und nimmt den Änderungsdruck. Wir werden künftig nicht nur mehr Energie, sondern auch Industriegüter und Lebensmittel in zunehmendem Maße importieren müssen. Wie bezahlen wir das? Die aktuelle Antwort lautet: Sonderschulden nach Abschaffung der Schuldenbremse.
Verschwörungstheoretiker sehen einen absichtlich umgesetzten Morgenthau-Plan. Ob Absicht oder nicht, der Vergleich stimmt einfach nicht. Der Plan sah vor, Deutschland in einen Agrarstaat zu verwandeln. Aber auch die Agrarwirtschaft wickeln wir ab, selbst die Versorgung mit Brotgetreide aus eigenem Land ist nicht mehr möglich.
Vielleicht gelingt die Energiewende auch nicht, trotz vollem Risiko und mehr Irrsinn. Ein Hasardspiel mit der Wirtschaft eines ehemals führenden Industrielandes ist unverantwortlich und widerspricht den geleisteten Amtseiden. In einer kritischen Situation der Energieversorgung Kernkraftwerke stillzulegen, damit reaktionäre 80er-Jahre-Anti-Atompolitik umzusetzen, Kohlekraftwerke weiter abzuschalten, als gäbe es keinen Krieg in Europa, hat nichts mit Energiestrategie, eher mit Sabotage zu tun.
Nach 16 Jahren im Bundestag wird Frau Kotting-Uhl nicht von Altersarmut ereilt werden. Und für die Habeck-Rezession wird sich der Urheber später nicht verantworten müssen. Es macht wenig Sinn, die Entscheidungsgewalt in die Hände von Leuten zu legen, die am Ende nicht verantwortlich gemacht werden können. Die Einführung des Tatbestandes der Politikerhaftung ist überfällig, nicht erst seit Corona. Regierung und Bundestagsabgeordnete können weiter in 60 bis 70 Tagen parlamentarischer Sommerpause Urlaub machen. Das soll vielen Arbeitnehmern versagt werden, denn dann ist der Strom billig.