1863 erschien ein Erlass des preußischen Oberkirchenrats zur politischen Betätigung von Geistlichen. Darin wird die Autonomie des Weltlichen gegenüber der geistlichen Sphäre betont. Ein politisches Wächteramt der Kirche wurde ausdrücklich abgelehnt. Allen kirchlich autoritären Ansprüchen auf die Politik wurde eine Absage erteilt. In diesem Geiste konnte Adolf von Harnack in „Das Wesen des Christentums“ (1900) schreiben: „Das Blut der Martyrer ist geflossen, damit eine unverrückbare Grenze entstände zwischen der Religion und der Politik, zwischen Gott und dem Kaiser.“ Über die einzelnen Christen und die Kirchen ist der christliche Glaube in Deutschland sicherlich „Kulturfaktor“. Aber er darf niemals „Kulturbasis“ oder gar Staatsbasis sein, weil jede partikular protestantische Kultur dem pluralistischen Weltverständnis des Protestantismus widersprechen würde, so differenzierte der Harnackschüler Martin Dibelius. Hier kamen Luthers Zwei-Reiche-Lehre und aufklärerischer Liberalismus zusammen.
Bereits in der Weimarer Republik hatte sich ein anderer Geist in Staat und Kirche durchgesetzt: Der neue preußische Oberkirchenrat rückte in Religionswächter-Attitüde auf dem Kirchentag 1921 Politik und Kirche nah zusammen: „Wir, die von Gott bestellten Wächter, sind dazu da“, die politischen „Glocken zu läuten und die Schlafenden zu wecken“, wenn durch die religiöse Neutralität im demokratischen Verfassungsstaat die Lossagung von Gott drohe.
Diese neue Aufeinanderbezogenheit von Staat und Kirche hatte nicht nur die nationalkonservativen Lutheraner ergriffen, sondern auch die aufstrebende Bewegung der anti-lutherischen Barthianer. Karl Barth konnte in kirchlicher Selbstherrlichkeit tatsächlich schreiben: „Ich bin überzeugt, dass die Kirche gegenüber Staat und Gesellschaft der übergeordnete, der überlegene Bereich ist, dass die eigentlichen Entscheidungen auch über Staat und Gesellschaft nicht in Staat und Gesellschaft, sondern in der Kirche fallen.“
Auch von politischer Seite wurde die Brücke zum Christentum gebaut. So forderte etwa Reichskanzler Franz von Papen „die radikale Abkehr von dem Satz, der Staat müsse weltanschaulich neutral sein“ und „die radikale Umkehr zum christlichen Staat“ (1932). Der Theologieprofessor Karl Heim jubelte: „Unser Volk ruft nach der Kirche (…) Unsere Staatsmänner sehen heute wieder deutlich, dass der Staat der Kirche bedarf als der Kraftquelle, aus der ihm innerste Kräfte der Hingabe zufließen.“
Dieser Ansatz wurde mit theologischen Schlagwörtern gerniert, die bis heute die evangelische Kirche prägen: „Öffentlichkeitsauftrag der Kirche“, „prophetisches Wächteramt“, „Kirche als Gewissen der Gesellschaft“. Ausdruck dessen sind ab 1936 unzählige „Evangelische Denkschriften“ zu allen möglichen gesellschaftlichen Themen, mit denen die Kirche hochoffiziell ihrem vermeintlichen gesellschaftlichen Auftrag nachzukommen meint.
Im Dritten Reich hat die „Bekennende Kirche“ in der Barmer Theologischen Erklärung 1934 die bis heute grundlegende amtskirchliche Zusammenbindung von Staat und Kirche verfasst:
„Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat (…) unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen.
Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an.
Sie errinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten.
Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes“.
Diese fünfte These aus der Feder von Karl Barth drückt eine Staat-Kirche-Harmonie-Sehnsucht aus, wie ich sie von der russisch-orthodoxen Kirche her kenne: Der Staat ist von Gott eingesetzt und sorgt für Recht und Frieden und darf dafür Gewalt anwenden. Die Kirche ist ihm dafür dankbar und bereichert den Staat, indem sie mit der Autorität des Wortes Impulse von Gottes Reich, Gebot und Gerechtigkeit einbringt. Wunderbar. Friede. Freude. Eierkuchen.
Harmonischer kann man sich das Verhältnis von Staat und Kirche nicht zurechtlegen. Und das obwohl die Bekennende Kirche es mit dem Nazistaat zu tun hatte, wo bis 1934 bereits Hunderttausende in KZs eingesperrt waren und wo etwa Herrmann Göring 1933 in erschreckender Brutalität öffentlich sagen konnte: „Volksgenossen, meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendwelche juristischen Bedenken. Hier habe ich keine Gerechtigkeit zu üben, hier habe ich nur zu vernichten und auszurotten, weiter nichts!“
Seit Weimarer Zeiten war die Staat-Kirche-Harmonie-Sehnsucht tief in den Genen unterschiedlichster evangelischer Gruppierungen verankert. Gefangen in dieser Sehnsucht konnte die Bekennende Kirche gar nicht mehr wahrnehmen, dass sie es in Nazideutschland gar nicht mit einem Staat zu tun hatte, sondern mit einer Räuberbande. „Nimm das Recht weg, was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande“ (Augustin). Bei einer Räuberbande erübrigen sich Flirtversuche mit wohlfeilen Staats-Kirche-Gedanken.
Es ist ein nachträglich konstruiertes Narrativ der EKD, wenn sie über Jahrzente die Bekennende Kirche als antifaschistische Widerstandsbewegung aufgeplustert hat, um sich dann selber in diesem antifaschistischen Glanz aufzuwerten. Die überwiegende Mehrheit der Barmer Synodalen hat den Nazistaat bejaht und wollte mit ihm ein harmonisches Staat-Kirche-Bündnis a la Barmen V eingehen. Die Bekennende Kirche hat sich lediglich gegen jene Kräfte in Kirche und Staat gewehrt, die ein Hineinregieren des Staates in die Kirche in diesem unangezweifelten Miteinander befürworteten. Mit Karl Barth wollte die Bekennende Kirche stattdessen eine starke selbstbewusste Kirche, die in dem Staat-Kirche-Miteinander die Kulturhegemonie in den Dingen hat, die „Gottes Reich, Gottes Gebot und Gerechtigkeit“ (Barmen V) betreffen.
Ich befürchte, dass die EKD bis heute in dieser Staats-Kirche-Harmonie-Sehnsucht mit kirchlich-kulturhegemonialem Anspruchsdenken unterwegs ist. Alle großen gegenwärtigen staatlichen Themen wie grenzenlose Willkommenskultur, Klimahysterie, Genderideologie, Anbiederung an den Islam, EU-Beschönigung, Grundrecht auf Abtreibung, Coronapolitik, Ukrainekrieg, Kampf gegen Rechts und Energiewende zeichnen sich dadurch aus, dass die Amtskirche überall ihren vermeintlich evangelischen Senf dazugibt und dass die EKD bejahend auf Regierungslinie dabei ist.
Den Preis, den Kirchenleute für ihre Staatssehnsucht zu zahlen haben, ist hoch: Sie verlieren nicht nur ihre kritisch-fruchtbare Distanz zu politischen Missständen. Sie zerstören darüber hinaus die EKD von innen, indem sie alle wichtigen evangelischen Hauptwurzeln kappen:
Die Konzentration auf die Erlösung und Geborgenheit in Jesus Christus, die bereichernde Vielfalt des Protestantismus in ethischen und politischen Fragen, die reformatorische Zwei-Reiche-Lehre und den aufklärerischen Liberalismus.
Gegenüber der heutigen Polit-EKD war der Erlass von 1863 des preußischen Oberkirchenrats zur politischen Betätigung von Geistlichen erstaunlich fortschrittlich.