Tichys Einblick
Ungarische Ratspräsidentschaft

Das Parlament der Würdelosigkeit

Die Vorstellung des Programms der ungarischen Ratspräsidentschaft in Straßburg degenerierte zu einem hysterischen Polittheater, das teilweise an die schlimmsten Zeiten des Habsburger Reichsrats erinnerte, und teilweise an einen Lynchmob.

picture alliance/dpa | Philipp von Ditfurth

Eigentlich sollte ein Parlament der Ort sein, an dem die Besten der Gesellschaft, betraut von ihren Wählern, die wichtigsten Angelegenheiten der Gemeinschaft ernsthaft diskutieren. Das EU-Parlament stellte am Donnerstag unter Beweis, dass es kein solcher Ort ist. Die Vorstellung des Programms der ungarischen Ratspräsidentschaft geriet zu einer Propagandaschlacht, in der den Abgeordneten keine Lüge zu dreist, keine Beschimpfung zu extrem und und keine Schauspieleinlage zu lächerlich war.

Für die EU – um deren Programm es laut Tagesordnung ging – interessierte sich schlichtweg niemand außer dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, der seinen inhaltlichen Vortrag mit Verve, aber Ernst und Würde artikulierte. Die EU müsse sich ändern, sagte er, und Ungarn habe vor, der Katalyst dieser Reformen zu sein. Denn die Union gehe an ihren verfehlten Strategien zugrunde – die endlose und bedingungslose Unterstützung der Ukraine, obwohl diese dabei sei, den Krieg zu verlieren, die ungezügelte Migrationskrise, die tragische demografische Lage, die aus eigener Schuld schwindende Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich zu China und den USA. Er legte dann dar, wie man die Probleme lösen könne: Keine Migranten ohne Einreiseerlaubnis in die EU lassen, Abbau des EU-Vorschriftendschungels, Feuerpause und Verhandlungen im Ukraine-Krieg.

Was darauf folgte, war ein Tollhaus von ehrabschneidigen Angriffen gegen ihn und seine Regierung, angeführt von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EVP-Chef Manfred Weber, wobei die von Orbán präzise benannten großen Zukunfts-Herausforderungen der EU nicht die geringste Rolle zu spielen schien.

„Diktator” wurde er genannt, man rief dazu auf, ihn zu verhaften, ihm wurde zugerufen, er sei hier „nicht willkommen”, man forderte, Ungarn das Stimmrecht zu entziehen. Auf den hinteren Plätzen sangen linke Abgeordnete „Bella Ciao”, bis sie von Parlamentspräsidentin Roberta Metsola zur Ordnung gerufen wurden. Es war sonnenklar: Die Mehrheit der Abgeordneten und die EU-Kommission selbst sehnten sich danach, Ungarns demokratisch gewählte Regierung zu stürzen. Leider – für die echauffierten Parleure – muss man die Entscheidung darüber, wer Ungarn regiert, wohl den ungarischen Wählern überlassen.

In dem Tumult blieb einzig Orbán ruhig. Er genoss es anscheinend, schrille Rufe und Pfiffe auszulösen. Etwa, als er sagte, die illegale Migration führe zu mehr Antisemitismus, mehr Gewalt gegen Frauen und mehr Homophobie in Europa. Die einizge Lösung sei, niemanden reinzulassen, den man nicht haben möchte – denn wer es einmal in die EU geschafft habe, den werde man so oder so nie mehr los. Weil das links Wutgeschrei auslöste, sagte er es gleich nochmal.

Zum Thema Wettbewerbsfähigkeit beschuldigte Ursula von der Leyen Orbán, europäische Unternehmen willkürlich aus Ungarn zu drängen, und „schmutzige russische Energie” zu gebrauchen.

In Wirklichkeit ist Ungarn eines der beliebtesten Länder für ausländische Investoren, wobei aber zugegebenerweise der Staat steuernd eingreift: Nicht jeder Investor ist willkommen. Man will strategische Investoren in Gebieten, auf denen ungarische Unternehmen nicht mithalten können – etwa in der Autoindustrie. Was die russische Energie betrifft: Ungarn hat mit die niedrigsten Energiepreise in Europa und ist genau deswegen attraktiv für industrielle Investoren, ist also im Gegensatz etwa zu Deutschland wettbewerbsfähig. Vielleicht war es ja das, was Frau von der Leyen störte: Wären die Energiepreise in Ungarn so hoch wie in den Ländern, die auf billige Energie verzichten, dann würde Ungarn nicht so viele Hersteller aus Deutschland und anderen Ländern weglocken (und damit deren Wirtschaft schwächen).

Ursula von der Leyen beschuldigte Orbán,die illegale Migration zu fördern, weil Ungarn verurteilte Menschenschmuggler aus seinen Gefängnissen entlassen habe. Kein Wort darüber, dass Ungarn das Land mit dem effektivsten Grenzschutz gegen illegale Migranten ist, ohne dafür einen Euro von der EU zu bekommen. Im Gegenteil: Der EU-Gerichtshof bestraft Ungarn dafür (täglich eine Million Euro), dass es keine illegale Migranten auf sein Staatsgebiet lässt.

Von der Leyens neunminütige Rede geriet zur einer staatsanwaltschaftlichen Klageschrift, die den Ton angab für die ganze Debatte. Orbán konterte kühl, er sei „überrascht” von ihrer Rede – bislang sei es Usus gewesen, dass die Kommission als Hüter der Verträge parteipolitische Querelen aus dem Weg räume, statt sie zu schüren.

EVP-Chef Manfred Weber erklärte die ungarische Ratspräsidentschaft kurzerhand für gescheitert, weil kein einziges Gesetzesvorhaben abgeschlossen worden sei, im Gegensatz zur ungarischen Ratspräsidentschaft 2011, wo mehr als 100 Gesetze verabschiedet wurden. Allerdings vergaß er zu erwähnen, dass die jetzige Präsidentschaft in der Sommerpause begann, die neue Kommission noch gar nicht stand. Orbán sagte kühl, 2 ber mGesetzesvorhaben seien abgeschlossen, und 41 weitere „warten darauf, dass wir darüber mit Ihnen beraten können”. Sprich: Nicht Ungarn bremst, sondern die EU-Institutionen.

Die ungarische Oppositionspolitikerin Klára Dobrev warf Orbán vor, er küngele mit Putin. Orbán konterte ruhig: „Als Ihr Ehemann Ministerpräsident in Ungarn war, saß Putin bei Ihnen in der Küche.“ Korrekt – Ferenc Gyurcsány lud Putin damals in seine Wohnung ein.

Es herrschte alles in allem eine Stimmung wie in den würdelosesten Zeiten des Habsburger Reichrats, wo Abgeordnete schrien, trompeteten und in Jagdhörner stießen, um einander vom Reden abzuhalten.

Mark Twain schrieb darüber damals ein Buch, „Turbulente Tage in Österreich”. Darin schilderte er, – so resümierte es einst Christof Habres in der „Wiener Zeitung” – wohin ein unterentwickelter Parlamentarismus, verbunden mit einem Manko an Demokratieverständnis und einer hohnsprechenden Diskussionskultur führen kann: ins absolute politische Chaos, das letztendlich in die temporäre Ausschaltung der demokratischen Rechte der Opposition mündet.

Die Opposition ist heute Orbáns Ungarn.

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