Tichys Einblick
Ein unerwarteter Shitstorm

Renate Künast wollte nur leicht verdiente Likes – und brachte die sozialen Medien zur Explosion

Ärger über die Deutsche Bahn ist ein Volkssport. Sich über die DB zu beschweren, ist gewöhnlich eine unverfängliche Gelegenheit, um im Netz Zustimmung zu erfahren. Dass das auch nach hinten losgehen kann, musste jetzt Renate Künast erfahren.

Renate Künast, Berlin, 12.09.2024

picture alliance / Geisler-Fotopress | Frederic Kern/Geisler-Fotopress

Die sozialen Medien sind eine Welt mit eigenen Regeln. Und die sind nicht immer leicht anzuwenden: Ob ein Beitrag Millionen von Likes oder einen Shitstorm generiert, ist nicht immer vorauszusehen.
Den Aufreger zum Wochenende hatte am Samstag unversehens Renate Künast erzeugt: Sie hatte mit einem Beitrag auf X das Internet zur Explosion gebracht und bis in zahlreiche Medien hinein für Schlagzeilen gesorgt. Dabei ist ihr Post einer von vielen, die ein Standard-Reizthema der Deutschen betreffen: die Deutsche Bahn.

Offenbar stand die Grünenpolitikerin um 8:49 Uhr vor einem Reisezentrum der Bahn, in dem bereits mehrere Mitarbeiter anwesend waren, während die Türen allerdings noch bis neun Uhr geschlossen blieben. Über diesen Sachverhalt meckerte Künast auf X: normalerweise eine unverfängliche Gelegenheit, um Likes und Sympathiepunkte zu sammeln, schließlich hat fast jeder seine liebe Not mit der DB: Der mangelnde Service ist legendär – allerdings wird dieses Problem mit zunehmender Digitalisierung dadurch „gelöst“, dass sich der Reisende immer häufiger per App selbst helfen kann. Die Züge verspäten sich rund um die Uhr, Hilfe sucht man gerade zu den Zeiten oft vergebens, wenn man sie besonders dringend bräuchte.

Öffnungszeiten und Kapazitäten der Service-Center und Lounges sind zuweilen nicht ideal, Wartezeiten und der Zwei-Klassen-Service, der Kunden ohne „Bahn Bonus“-Status signifikant benachteiligt, sorgen für Unmut. Oft funktioniert die Kommunikation von Abweichungen nicht, Passagiere werden von Gleis zu Gleis gejagt, aus kaputten oder vollen Zügen geworfen, und gern eher als Bittsteller behandelt denn als Kunden. Die Liste an Mängeln ließe sich fortsetzen. Warum also hat Künasts Posting aus dem Alltag einer Bahnreisenden statt Solidarität derartige Wut hervorgerufen?

Kurz: Weil die Leute genug haben. Service war in Deutschland generell noch nie berauschend. Das ist eine Sache. Der nicht mehr zu übersehende Verfall der Infrastruktur aber, die künstliche Verteuerung des motorisierten Individualverkehrs, während zugleich Bus und Bahn teuer, dreckig, unzuverlässig und oft nicht praktikabel sind, beeinträchtigen mittlerweile den Alltag vieler Menschen nicht unerheblich.

Künasts Klage wirkt da wie ein larmoyantes Herauslehnen aus dem Elfenbeinturm: Während sich der Pöbel mit all dem herumschlagen muss, weil die Umsetzung grüner Hirngespinste eben Opfer verlangt, erwartet die Grünenpolitikerin bevorzugte Behandlung, fordert besonderes Engagement ein von Bürgern, denen seit Jahren immer weniger von dem bleibt, was sie sich erarbeiten. Damit bringt sie einen bereits bis zum Anschlag gespannten Nerv zum Zerreißen.

Häme, Empörung und Wut kochten dementsprechend auf X hoch. Da sich beim Thema Deutsche Bahn sonst nahezu alle einig sind, zeigt die Bereitschaft, sich intensiv über Künast zu ärgern, wie groß der Frust ist. Der Vorgang ist ein Live-Barometer, zum einen für den Absturz der Grünen, zum anderen aber auch dafür, wie abgehoben und wirklichkeitsfern die Politikerkaste ist: Gespür für das, was die Leute im Land bewegt? Fehlanzeige. Der Versuch, sich als „eine von uns“ zu präsentieren, die in ihrem Alltag mit denselben Problemen wie alle konfrontiert wird, ist gründlich nach hinten losgegangen.

Den kritisierten Beitrag hat Renate Künast übrigens gelöscht – der Shitstorm war dann wohl doch einfach zu heftig. Schön wäre, wenn sie dazu in der Lage wäre, zu verstehen, warum sie derartige Reaktionen provoziert hat, und diese Einsicht ihren Parteikollegen vermitteln würde. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

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