Tichys Einblick
Ein Jahr nach dem Hamas-Massaker:

Sieben unerwartete Einsichten

Der Hamas-Terrorangriff in Israel vor einem Jahr ist eine Zäsur, nicht nur für den Nahen Osten. In der Welt hat sich seitdem vieles verändert. Für ein Resümee ist es zu früh, doch zeichnen sich Erkenntnisse ab, die teilweise überraschen.

Tel Aviv, Israel, 5. Oktober 2024

picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Ariel Schalit

Das Massaker der islamistischen Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel mit fast 1200 Toten und mehr als 200 Geiselnahmen bedeutet nicht nur für den Nahen Osten eine Zäsur. Ähnlich wie nach den islamistischen Terroranschlägen in den USA am 11. September 2001 hat sich ein Jahr nach dem barbarischen Angriff der Palästinenser auf Israel vieles in der Welt verändert. Noch ist es für ein endgültiges Resümee über die Ergebnisse des jüngsten, vielschichtigen Nahost-Krieges zu früh. Aber schon jetzt zeichnen sich Erkenntnisse und Einsichten eines leidvollen, dramatischen Kriegsjahres ab, die zumindest teilweise überraschen.

1) Israel setzt auf Krieg – wie seine Feinde

Der Kampf gegen die islamistische Terrororganisation Hamas im Gazastreifen, die gezielte Tötung führender Terroristen in Syrien, Iran und Libanon, die Pager-Attacken gegen die Hisbollah und der aktuelle Einmarsch israelischer Truppen in den Libanon belegen eindeutig den Willen der israelischen Führung, die Hamas und die Hisbollah zu zerschlagen, zumindest aber nachhaltig zu schwächen. Israel verfolgt unbeirrt vom internationalen Druck diese Kriegsziele.

Der Iran will erklärtermaßen Israel von der Landkarte tilgen, wenngleich die Mullahs die direkte Auseinandersetzung wegen der deutlichen Überlegenheit des israelischen Militärs noch meiden – die Gotteskrieger wollen sichtlich warten, bis sie Atombomben haben. Das erklärt auch den jüngsten, ineffizienten Raketenangriff auf Israel, der nur der Gesichtswahrung dienen sollte. Alle großen Palästinenserorganisationen befürworten mehr oder minder offen den Kampf gegen Israel und den Wunsch nach einem Palästina „From the river to the sea“ – also die Vernichtung des jüdischen Staates.

Israels Führer allerdings demonstrieren seit Oktober 2023 der Welt mit unerwarteter Wucht und Erfolgen an allen Fronten, dass sie sich in ihrem Existenzkampf nicht beirren lassen. Israel zeigt, „dass es einen hohen Preis für den Versuch gibt, das jüdische Volk auszulöschen“, so der britische Publizist Douglas Murray.

2) Israelis und Palästinenser wollen den Krieg

Nicht nur die politischen Führer der Nahost-Parteien, auch die jeweilige Bevölkerung unterstützt weitgehend den Krieg. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ist im eigenen Land wahrlich nicht unumstritten; letztendlich trägt er auch die politische Verantwortung für die schreckliche Fahrlässigkeit der Geheimdienste und des Militärs, das größte Massaker an Juden seit dem Holocaust nicht verhindert zu haben.

Aber Meinungsumfragen belegen, dass die große Mehrheit der Israelis das militärische Vorgehen in Gaza und im Libanon befürwortet. Selbst Israels Friedensbewegung „Peace Now“ rechtfertigte den Krieg in Gaza. Die Israelis werden der Realität gewahr, wie sie die frühere Premierministerin Golda Meir vor Jahrzehnten skizziert hatte: „Wenn wir die Wahl haben, tot und bemitleidet zu sein oder lebendig mit einem schlechten Image, dann sind wir lieber lebendig und haben ein schlechtes Image.“

Weder die internationalen Forderungen an Israel, sich zurückzuhalten, noch die Parolen der israelischen Linken für Friedensgespräche und eine baldige Zwei-Staaten-Lösung finden in Israel viel Widerhall. Die meisten Israelis stimmen mit Netanjahu überein, der glaubt, dass derzeit jeder palästinensische Staat zu einem Hort des Terrorismus gegen Israel werden würde.

Auch die meisten Palästinenser in Gaza und im Westjordanland setzen auf Gewalt und unterstützen den Kampf gegen Israel. Ihr Jubel und die Freudenfeste ihrer zahllosen Freunde weltweit nach dem barbarischen Hamas-Angriff vor einem Jahr ebenso wie aktuelle Meinungsumfragen belegen, dass die überwältigende Mehrheit der Araber den Kampf und den Terror gegen Israel gutheißen. Die angeblich „gemäßigte“ PLO im Westjordanland unterscheidet sich nur in Nuancen von den anderen Extremisten, auch die PLO feiert und ehrt Terroristen und ihre Familien. Arabische Frauen betonen gerne, dass sie viele Söhne gebären wollen, damit sie „Märtyrer“ werden können.

Es sind marxistisch gefärbte Märchen, dass die Völker sich stets nach Frieden sehnten, nur die wahnhaften Politiker oder das „Kapital“ kriegslüstern wären. Die Hamas-Kämpfer wären verloren, würden sie sich in der Bevölkerung nicht wie Fische im Wasser bewegen können. Selbst brutalste, mörderische Regime brauchen Unterstützung im Volk. Sogar zum Ende des entsetzlichen Zweiten Weltkriegs (und sogar danach) unterstützten in Deutschland und Japan breite Kreise der Bevölkerung die jeweiligen Führer. Japan musste mit Atombomben zur Aufgabe gezwungen werden, in Deutschland wurden große Städte teilweise dem Erdboden gleich gemacht, um den Sieg gegen das Verbrecherregime Hitlers zu sichern. Was Menschenverachtung und Grausamkeit angeht, spielt die Hamas in der gleichen Spielklasse wie die deutschen Nazis.

3) Wirre und irre Signale aus Berlin

Außenministerin Annalena Baerbock demonstriert ein um das andere Mal das Ausmaß von Inkompetenz und Wirrnis ihrer „feministischen Außenpolitik“. Einerseits betont sie klarer als viele andere, oft offen Israel-feindliche EU-Politiker (Spanien, Irland u.a.) Israels Recht auf Verteidigung. Alle paar Wochen reist die Grünen-Politikerin in die Region, um zu „vermitteln“ und zu „mahnen“ – ohne den Hauch eines irgendwie gearteten Erfolgs. Andererseits verweigert sie bei UN-Abstimmungen die Solidarität mit Israel (wie es die USA und Ungarn demonstrieren) und glänzt mit abstrusen Gaga-Thesen, über die man lachen könnte, wäre diese unsichere, unbeholfene Frau nicht die offizielle Stimme Deutschlands in der Welt.

Die Tötung des schiitischen Hisbollah-Chefs Hassan Nasrallah, einer der mörderischsten Terroristen der letzten Jahrzehnte, liege „nicht im Sicherheitsinteresse Israels“, warnte Baerbock; nach seiner Ausschaltung „droht eine Destabilisierung des gesamten Libanons“ – als ob Nasrallah und die Hisbollah, die die Libanesen brutal für ihre Interessen (und die Politik des Iran) einspannten, je ein Stabilitätsfaktor gewesen wären.

Immer wieder fabuliert Baerbock über die „brandgefährliche Lage“, die „drohende Gewaltspirale“ oder eine angeblich falsche „Militärlogik“. Unterstützt und ernst genommen werden ihre unrealistischen Gedankenfetzen – zum Beispiel über eine „Schutztruppe“ für Gaza mit deutscher Beteiligung – zumindest von den meisten öffentlich-rechtlichen Journalisten. Die können in der Regel ihren stets israel-feindlichen Zungenschlag ohnehin kaum verbergen.

Die Israelis sehen zudem erstaunt, dass die Zahl der glühenden Hamas- und Hisbollah-Fans in wenigen Ländern größer ist als in Deutschland. „Die Follower-Zahlen von Islamisten und Juden-Hassern in sozialen Medien offenbaren: Es gibt Hunderttausende solcher Terror-Unterstützer in Deutschland“, betonte die Ethnologin Prof. Susanne Schröter (Goethe-Universität Frankfurt) in der BILD-Zeitung. Seit dem 7. Oktober 2023 registrierten deutsche Behörden viele tausend antisemitische Vorfälle.

4) Der Islam ist im Westen eine Großmacht.

Die entsetzlichen Grausamkeiten der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 lösten eine enorme Welle an öffentlicher und politischer Unterstützung für die „Sache der Palästinenser“ aus. Die islamistischen Strategen des barbarischen Angriffs auf Israel können sich bestätigt fühlen. Die Täter-Opfer-Umkehr gelang weltweit erschreckend leicht. Auf den Straßen und Plätzen in aller Welt hallte der Ruf nach mehr Rechten für die Palästinenser. Universitäten allerorten erklärten sich mit Terrororganisationen wie Hamas und Hisbollah solidarisch. Die Welle anti-israelischer Proteste erfasste weltweit weite Teile der Kultur.

EU-Regierungen traten für eine umgehende Anerkennung eines palästinensischen Staates ein. In der UN überschlugen sich die Bestrebungen, Israel zu verurteilen und die Palästinenser zu unterstützen. Selbst der wichtigste Verbündete, die USA suchten Israel zu bremsen. Denn für die US-Demokraten von Präsident Joe Biden droht die Unterstützung Israels zu einem Problem zu werden; sie bangen bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen um die gewichtigen pro-palästinensischen Wähler, vor allem in den „Swing-States“, den besonders umkämpften Bundesstaaten.

Alle diese Phänomene erklären sich zum einen mit dem enormen Einfluss von inzwischen starken muslimischen Minderheiten in westlichen Ländern und zum anderen mit dem perfiden Einfluss „postkolonialer“ Geschichtsinterpretation und moderner „Identitätspolitik“ im Westen; für diese radikal anti-westlichen Ideologen ist der „globale Süden“, zu dem die Palästinenser gezählt werden, lediglich Opfer des Imperialismus, Kolonialismus und Kapitalismus.

Israel ist aus dieser eindimensionalen Sicht nur ein zu spät gekommener Imperialist und Kolonialist. So vereinen sich linker „Anti-Kolonialismus“, westlicher Selbsthass und traditioneller Antisemitismus zu einem fruchtbaren Nährboden für die hemmungslose, zornige Feindseligkeit gegen den jüdischen Staat – und auch gleich alle Juden in der Welt.

5) Bitteres Erwachsen der Juden weltweit

Die Ereignisse seit dem 7. Oktober 2023 haben die Welt der Juden verändert. Wachsender Antisemitismus in Europa – besonders in Frankreich, Belgien und Großbritannien – hatten schon in den Jahren zuvor die „Alija“ (Einwanderung in Israel) deutlich verstärkt. Allein aus Frankreich strömten etwa 80.000 Juden ins Gelobte Land. Inzwischen spüren die Juden weltweit den wachsenden antisemitischen Hass.

„Die Anschläge vom 7. Oktober haben grundlegend verändert, was es bedeutet, jüdisch zu sein“, schrieb der Medienmanager Nachum Kaplan (Singapur). Jüdische Intellektuelle berichten, dass sie sich noch nie zuvor so sehr ihrer Wurzeln bewusst geworden sind wie seit dem Hamas-Massaker. Vor allem in Wissenschaft und Kultur haben die Ereignisse in Nahost unerwartete Auswirkungen auch auf Juden, die mit Israel rein gar nichts zu tun haben.

Aber nicht nur jüdischen Wissenschaftlern und Künstlern, sondern auch jüdischen Kindern, Studenten und Bürgern schlägt vielerorts eine Welle der Ablehnung und Ausgrenzung entgegen. Nie mussten jüdische Einrichtungen in aller Welt so stark geschützt werden wie in den vergangenen zwölf Monaten.

„Mit großer Traurigkeit stelle ich fest, dass wir Juden uns wieder in einer Welt befinden, die der ähnlicher ist, in der meine Eltern, beide über 80, geboren wurden“, schreibt Kaplan. „Das bedeutet, dass der Fortschritt, den wir über mehrere Generationen hinweg gemacht zu haben glaubten, eine Illusion war.“ Der Antisemitismus lebt wie eh und je.

6) Israel wird Frontstaat der freien Welt

Der Hass auf Israel hat keineswegs nur etwas mit dem israelisch-arabischen Konflikt zu tun. Vor allem die islamistischen Kräfte verdammen die „Dekadenz“ und „Gottlosigkeit“ der freien Welt ebenso wie sie den jüdischen Staat verabscheuen. Nicht nur für die Ayatollah im Iran ist Israel „der kleine Satan“ und die USA „der große Satan“. Europa wird von Islamisten traditionell als Ziel von Missionierung und Eroberung angesehen.

Sowohl der globale Süden als auch die um Vormacht kämpfenden Imperien China und Russland stehen Israel feindlich gegenüber. Vor allem Schwellenländer wie Brasilien und Südafrika sehen in ihrer Feindseligkeit gegenüber Israel die billige Chance, ihren Widerwillen gegen die reichen Länder des Nordens auszuleben und sich gleichzeitig die islamische Welt mit ihren Ölvorräten und Dollar-Milliarden gewogen zu machen. Peking und Moskau interessieren kaum die „Rechte der Palästinenser“; vielmehr identifizieren sie zu Recht die hochgerüsteten und extrem effizienten Streitkräfte Israels als Alliierte des freien Westens.

Die aktuellen Kämpfe im Nahen Osten können als Bestandteil des „Clash of civilizations“ (Kampf der Kulturen) angesehen werden, wie sie der Politologe Samuel Huntington in den 1990er-Jahren voraussagte. Der dritte Weltkrieg hat wohl schon längst begonnen, auch wenn es keine direkte Auseinandersetzung zwischen den Atommächten ist, sondern ein vielschichtiger, komplexer, teilweise asymmetrischer Krieg. Insofern hängen der Ukraine-Krieg und die Waffengänge in Nahost durchaus zusammen.

7) Islamisten können sich auf Linke verlassen

Das Massaker an israelischen Zivilisten, die Vergewaltigung und Verstümmelung von Frauen, das Niedermetzeln junger Besucher eines Rave-Konzerts oder die Geiselnahmen von Kindern, Frauen und Greisen ist im freien Westen für Linke, Feministinnen oder „Anti-Faschisten“ nicht vieler Rede wert gewesen. Umso lauter und fanatischer war ihr Aufschrei wegen der militärischen Antwort Israels. „Für viele sind die zu Tode Gefolterten und Vergewaltigten heute keine Menschen mehr, sondern Scheinargumente des politischen Gegners, die es um jeden Preis zu widerlegen gilt“, schrieb empört der Schriftsteller Boris Schumatsky.

Israels Streitkräften steht mit der Hamas ein menschenverachtender Feind gegenüber, der Schulen und Krankenhäuser, Frauen und Kinder bewusst als Schutzschilder gegen israelische Angriffe missbraucht. Israel sucht in diesem asymmetrischen Krieg gegen eine hochgerüstete Terroristen-Armee in vielfältiger Weise die Zivilbevölkerung zu warnen und zu verschonen; die Hamas hat daran nicht das geringste Interesse.

Für die internationale Linke – aber auch viele Israel-feindliche Politiker in Europa – begehen die Israelis „Völkermord“, herrschen in einem „Apartheid-System“ und „kolonialisieren“ arabisches Land. Viele linke Ideologen seien von dem Massaker vom 7. Oktober 2023 begeistert gewesen, schreibt Jens Balzer in seinem Buch „After Woke“.

Kann es für diese grandiose Realitätsblindheit, diese himmelschreiende Verfälschung der Geschichte, diese maßlosen Anwürfe eine andere Erklärung geben als den guten, alten Antisemitismus? Die historische Neuigkeit ist, dass es die Juden in der Welt nicht mehr ganz so viel scheren muss, was Judenhasser behaupten. Weil es ein starkes Israel gibt.


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