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Pharmagewinne über Kindswohl?

Lauterbach, Lipobay und das „Gesundes-Herz-Gesetz“

Gegen den Widerstand von Ärzten und Krankenkassen treibt Lauterbach das „Gesundes-Herz-Gesetz“ voran – ein Gesetz, das absehbar dazu führen wird, dass Kinder unnötigerweise Medikamente mit möglichen schädlichen Nebenwirkungen verabreicht bekommen. Ein Minister mit Nebenberuf Pharmavertreter? Von Norbert Häring

picture alliance / Chris Emil Janßen | Chris Emil Janssen

Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat seine überaus erstaunliche Teflon-Karriere mit einem Skandal begonnen, dem Lipobay-Skandal um einen Blutfettsenker von Bayer, der wegen Todesfällen vom Markt genommen werden musste. Jetzt wurde bekannt, dass Lauterbach dabei offenbar gegen das Gesetz verstoßen hat. Doch völlig unbeirrt von seiner unrühmlichen Vorgeschichte treibt der Minister gegen den Widerstand von Ärzten und Krankenkassen ein Gesetz voran, das absehbar dazu führen wird, dass viele Kinder unnötigerweise blutfettsenkende Medikamente mit möglichen schädlichen Nebenwirkungen verabreicht bekommen.

So wird berichtet, dass Karl Lauterbach 1999 als Professor der Universität Köln Leiter einer klinischen Studie des Bayer-Medikaments Lipobay war, obwohl er damals keine Approbation hatte, also die staatliche Erlaubnis, eine ärztliche Tätigkeit selbstständig und eigenverantwortlich auszuüben. Diese erwarb er erst 2010, also elf Jahre später. Damit habe er gegen das Arzneimittelgesetz verstoßen, das vorschrieb, dass der Leiter einer klinischen Studie Arzt sein muss, eine Berufsbezeichnung, die die Approbation voraussetzt. Lipobay war ein Statin, ein Medikament zur Senkung des Blutfettspiegels (Lipidsenker) zur Vorbeugung gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

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Autor Thomas Kubo hat nun recherchiert, dass die Prüfunterlage der Firma Bayer, die im April 1999 beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eingereicht wurde, Karl Lauterbach als zuständigen „Prüfleiter“ nennt. Das BfArM habe das auf Nachfrage bestätigt, Karl Lauterbach ließ sich in einem Forschungsbericht auch als „Leiter“ der Studie bezeichnen und ist Erstautor eines wissenschaftlichen Aufsatzes über die Studie.

Dieser mutmaßliche Rechtsverstoß durch Bayer und Lauterbach ist keinesfalls eine veraltete Petitesse. Denn Lipobay musste wegen schwerer Nebenwirkungen mit vielfacher Todesfolge vom Markt genommen werden. Die Anforderung, dass ein Studienleiter Arzt sein muss, dient auch dazu sicherzustellen, dass der Studienleiter die Aufgabe gut bewältigen kann, bei gesundheitlichen Problemen von Probanden das Problem korrekt zu diagnostizieren und festzustellen, ob es sich um Nebenwirkungen des Medikaments handeln könnte. Diese Qualifikation hatte Lauterbach nicht erworben, obwohl sie gesetzlich gefordert war.

Das macht den Skandal, dass Bayer die Nebenwirkungen lange herunterspielte, noch größer, und die unrühmliche, mutmaßlich ungesetzliche Rolle Lauterbachs dabei ebenfalls. Wichtig zur Einordnung ist allerdings, dass es sich bei Lauterbachs Studie um eine von vielen handelte, mit denen festgestellt werden sollte, ob es eine Rechtfertigung dafür gab, Lipobay nicht nur allgemein zum Senken des Blutfettwertes, sondern auch konkret gegen bestimmte Krankheitsrisiken zu verschreiben. Lauterbach untersuchte auch die Verminderung von Schlaganfällen bei älteren Menschen durch Lipobay. Es soll durch Obiges nicht impliziert werden, dass Lauterbach im Rahmen seiner Teilstudie die Gefährlichkeit von Lipobay hätte feststellen können, sondern nur, dass er die dafür vom Gesetz geforderte Qualifikation nicht hatte.

Ausgeprägte Lernresistenz

Ein normal vorsichtiger und gewissenhafter Mensch wäre nach dieser Vorgeschichte bei allem, was mit Lipidsenkern zu tun hat, bis ans Lebensende besonders vorsichtig. Nicht so Karl Lauterbach, dessen Handeln schon in der Corona-Zeit eher an einen Minister mit Nebenberuf Pharmavertreter erinnerte.

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Lauterbach hat ein „Gesundes-Herz-Gesetz“ auf den Weg und am 28. August durch das Kabinett gebracht, gegen den entschiedenen Widerstand von Ärzteverbänden und Krankenkassen. Er hätte es auch „Gesundes-Herz-durch-mehr-Medikamente-Gesetz“ nennen können. Wenn es die parlamentarischen Hürden nimmt, wird es absehbar und ausdrücklich gewollt dazu führen, dass sehr viele Kinder Lipidsenker (Statine und verschiedene andere, neue Medikamente) mit möglichen schädlichen Nebenwirkungen verabreicht bekommen, die sie vielleicht nicht wirklich brauchen.

Von Nebenwirkungen ist in Gesetz und Begründung jedoch nicht die Rede, nur vom Nutzen bei der Senkung des Risikos von Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch Lipidsenker. In Anbetracht von Lauterbachs unrühmlicher Geschichte mit Lipobay ist die Nichtauseinandersetzung mit möglichen Nebenwirkungen der (schon im Kindesalter beginnenden) langfristigen Behandlung mit Lipidsenkern, über die man noch wenig weiß, sehr bedenklich.

Lauterbachs Gesetzentwurf sieht vor, dass möglichst alle Kinder im Rahmen bestehender Vorsorgeuntersuchungen auf die familiäre Hypercholesterinämie (FH) untersucht werden. Das ist eine erbliche Neigung zu stark erhöhten Blutfettwerten, die die Anfälligkeit für Herz-Kreislauf-Krankheiten stark erhöht. Auch auf sonstige Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen sollen sie untersucht werden. Ursprünglich wollte er laut einem Bericht des Ärzteblatts (Heft 19) sogar gleich einen Blutfett-Grenzwert (Lipid-Grenzwert) ins Gesetz schreiben, ab dem Lipidsenker verordnet werden sollen. Im aktuellen Entwurf wird stattdessen der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) beauftragt, einen Grenzwert festzulegen. Der G-BA ist das Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen in Deutschland.

Widersprüchliche und falsche Behauptungen

Lauterbach schreibt in der Begründung des Gesetzentwurfs:

„Zur Vorbeugung schwerer kardiovaskulärer Ereignisse wie Herzinfarkte oder Schlaganfälle soll daher die Verordnungsfähigkeit von Statinen auf der Grundlage aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse und medizinischer Leitlinien in bestimmten Risikokonstellationen gestärkt werden. Dafür wird ein gesetzlicher Anspruch auf Versorgung mit Lipidsenkern geregelt.“

Insbesondere Kinder, bei denen er gezielt nach erhöhten Lipidwerten fahnden lassen will, sollen bei Überschreiten eines bestimmten Lipidwerts einen Anspruch auf Lipidsenker bekommen. Bei Kindern wurden diese mit beträchtlichen Nebenwirkungsrisiken behafteten Medikamente bisher nur unter Aufsicht von Experten nach gründlicher medizinischer Abwägung im individuellen Fall eingesetzt. Diese Abwägung des behandelnden Arztes oder des zugezogenen Kardiologen will Lauterbach durch einen Grenzwert für das Blutfett ersetzen, ab dem die Gabe von Lipidsenkern die Norm sein soll.

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Im Widerspruch dazu behauptet Lauterbach in der Begründung, wo es um die Kosten geht, den Krankenkassen entstünden aus der Verordnung von Lipidsenkern durch die gesetzliche Regelung keine Mehrausgaben. Denn verschreibungspflichtige Arzneimittel seien jetzt schon grundsätzlich verordnungsfähig im Rahmen der Zulassung. Die Neuregelung habe daher lediglich „deklaratorischen Charakter“. Wenn ein Karl Lauterbach schreibt, ein Gesetz solle dafür sorgen, dass mehr und früher Lipidsenker verschrieben werden, und gleichzeitig, dass daraus keine zusätzlichen Kosten entstünden, dann festigt er damit nur seinen wohlverdienten Ruf als Lügenminister.

Falsch ist auch die Behauptung, das solle „auf Basis aktueller Leitlinien“ geschehen. Die passenden Leitlinien will er durch das Gesetz erst in Auftrag geben. Aktuelle Leitlinien in Deutschland und anderen Ländern sehen das generelle Screening symptomfreier Kinder nicht vor, das er vorhat. Daran ändern die „wissenschaftlichen Erkenntnisse“ vom Nutzen von Lipidsenkern bei festgestellter FH nichts, die Lauterbach anführt. Darüber herrscht Konsens. Doch dieser Nutzen ist das eine. Die Frage, ob man deshalb bei sehr vielen Kindern nach den wenigen (ca. 1 von 300) mit FH fahnden sollte, ist eine ganz andere, für die es keinen Konsens und keine Leitlinie gibt.

Votum und Wissen der Ärzte missachtet

Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) hat vor kurzem angekündigt, bis August 2025 die Leitlinien zur „Diagnostik und Therapie von Hyperlipidämien bei Kindern und Jugendlichen“ zu überarbeiten. Aber darauf will Karl Lauterbach nicht warten, der meint, es besser zu wissen als die ärztlichen Fachgesellschaften, sondern diesen per Gesetz vorgreifen.

Unter „Alternativen“ legt Lauterbach offen, dass er mit seiner Gesetzesinitiative in selbstherrlicher Manier die eigentlich zuständigen und fachkundigen Institutionen übergeht und sie absichtsvoll vor vollendete Tatsachen stellt:

„Die erweiterten Leistungen im Rahmen der Gesundheitsuntersuchungen könnten zwar grundsätzlich in den entsprechenden Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses verankert werden. Eine Festlegung könnte aber erst mittelfristig oder langfristig in den entsprechenden Richtlinien erfolgen. Aufgrund der besonderen Bedeutung der Früherkennung und Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen für Leben und Gesundheit der Betroffenen sollten die erweiterten Leistungen schnellstmöglich in der Versorgung greifen. Daher schafft der Gesetzgeber nun unmittelbar die entsprechenden gesetzlichen Ansprüche für gesetzlich Versicherte.“

Keine wissenschaftliche Evidenz für Lauterbachs Vorhaben

Zwei Tage, bevor Lauterbach seinen Gesetzentwurf unbeirrt durch das Kabinett brachte, hatte ihm das vom G-BA beauftragte Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) ein Gutachten vorgelegt, das sich gegen ein generelles Screening auf familiäre Hypercholesterinämie aussprach. Stattdessen sollten nur Kinder mit bekannter Familienhistorie untersucht werden. Lauterbach beharrte jedoch auf seinen „offensiveren und umfassenderen“ Ansatz, wie er es nannte.

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Das Gutachten befasst sich mit der wissenschaftlichen Studienlage und stellt fest, dass es keine belastbare wissenschaftliche Evidenz dafür gibt, dass ein generelles Screening mehr Nutzen als Schaden bringt. Zu den von Lauterbach vernachlässigten Nachteilen zählt es etwa, dass „über die eigentliche Intention des FH-Screenings hinaus auch eine hohe Zahl an nicht FH-bedingten Lipiderhöhungen dauerhaft nachverfolgt und therapiert werden“ könnten.

Mit dieser Einschätzung sind die deutschen Gutachter nicht allein. Für die USA hat die zuständige Preventive Services Task Force (USPSTF) im vergangenen Jahr nach einer „systematischen Untersuchung von Nutzen und Schaden eines Screening auf Blutfett-Störungen in asymptomatischen Kindern und Jugendlichen“ die Empfehlung veröffentlicht, ein solches Screening zu unterlassen. Es gebe nicht genug Evidenz um zu beurteilen, ob der erwartete Nutzen den zu befürchtenden Schaden überwiegt. Es fragt sich schon, welche wissenschaftliche Evidenz es ist, die Karl Lauterbach zu einem gänzlich anderen Ergebnis bringt.

Zusammenfassende Bewertung

Gesundheitsminister Karl Lauterbach, der offenbar in jungen Jahren rechtswidrigerweise als Nicht-Arzt eine klinische Studie zu einem Statin leitete, das wegen lange verharmloster schwerer Nebenwirkungen vom Markt genommen werden musste, will nun per Gesetz ohne wissenschaftlichen Konsens und gegen das Votum der Ärzteverbände den Absatz von Blutfettsenkern fördern, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. Mögliche Nebenwirkungen ignoriert er.

Die Pharmabranche hätte nicht nur gern zusätzliche Absatzmärkte für ihre Lipidsenker, die zu den meistverschriebenen Medikamenten gehören. Wichtiger noch dürfte ihr sein, neue Bevölkerungsgruppen für klinische Studien zu erschließen, um neue, patentgeschützte und damit lukrative Lipidsenker marktreif machen zu können. Von sehr vielen der jetzigen Statine ist der Patentschutz abgelaufen. Patienten für klinische Studien zu gewinnen ist schwierig, weil fast jeder Erwachsene, der eine Indikation hat und bereit ist, solche Medikamente zu nehmen, bereits auf Statinen ist. Da wäre es Gold wert, wenn durch Erweiterung des Einsatzes auf Kinder und Jugendliche eine in Sachen Lipidsenker noch weitgehend jungfräuliche Population erschlossen werden könnte. Dieses Bedürfnis befriedigt Lauterbach, ob zielstrebig oder unbeabsichtigt, soll hier dahingestellt bleiben.

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Die meisten Ärzteverbände sind aus gutem Grund dagegen, dass ein Blutfett-Richtwert für den Einsatz von Statinen bei Kindern festgelegt wird. Denn Blutfettwerte sind nur einer von etwa zehn wichtigen Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Bewegungsmangel, ungesunde Ernährung, Bluthochdruck und Übergewicht gehören dazu. Gibt es den Richtwert, so müssen Ärzte sich aufwendig rechtfertigen, wenn sie trotz Grenzwertüberschreitung keine Lipidsenker verschreiben. Das Sicherere und Einfachere ist, der Empfehlung zu folgen, auch wenn es sich um ein sportlich aktives Kind mit gesunder Ernährung und ohne erbliche Belastung handelt und die Grenzwertüberschreitung mäßig ist.

Neben den möglichen und noch wenig erforschten medizinischen Nebenwirkungen beim Langzeiteinsatz zählt zu den Risiken des von Lauterbach vorgesehenen umfassenden Screenings, gesunde Kinder durch Diagnose eines Herz-Risikos und Medikamentenverschreibung zu vermeintlich kränklichen Kindern zu machen, die vorsichtig sein und sich nicht übermäßig anstrengen sollten. Welch schädliche Wirkungen solcher Psycho-Druck auf Kinder haben kann, haben die Nachwirkungen der Corona-Maßnahmen und der zur Unterfütterung angewendeten Angststrategie gezeigt. Auch hier scheint Lauterbach komplett lernresistent.

Wenn Lauterbach wirklich etwas gegen Herz-Kreislauf-Risiken für Kinder und Jugendliche tun wollte, würde er viel mehr Augenmerk auf deren Ernährung (Schulessen), Bewegungsangebote und Freizeitverhalten (Bildschirme) legen. Das sind Einflussfaktoren, die in seinem Gesetz durch weitgehende Abwesenheit glänzen. Auch würde er etwas gegen den eklatanten Mangel an Kinderärzten tun, anstatt den ohnehin überlasteten Praxen in hoheitlicher Manier hunderttausendfach zusätzliche Leistungen mit zweifelhaftem Nutzen abzuverlangen.

Der Beitrag erschien zuerst auf dem Blog von Norbert Häring.

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