Tichys Einblick
Thüringen

Politische Selbstermächtigung mit juristischen Mitteln, zweiter Teil

In Thüringen zeigt sich die Zuspitzung der politischen Auseinandersetzung: Das Recht dient nur noch dem Zweck, dem Feind zu schaden. Parlamentarische Gebräuche werden über Bord geworfen, und selbst das Verfassungsgericht offenbart sich als fragwürdig.

IMAGO / Funke Foto Services

Heute ging die wahrscheinlich längste konstituierende Sitzung eines deutschen Parlaments zu Ende. Sie dauerte in Thüringen von Donnerstag bis Samstag. Die Umstände der Sitzung von Donnerstag wurden schon erläutert. Positiv ist anzumerken, dass ein Vorschlag des Parlamentarischen Geschäftsführers der CDU-Fraktion nicht umgesetzt wurde. Andreas Bühl wollte den Alterspräsidenten Jürgen Treutler durch das zweitälteste Mitglied des Thüringer Landtags ersetzen. Der folgte diesem Ansinnen nicht, womit die Frage nicht geklärt werden musste, wie das umgesetzt werden sollte. Rechtlich war gleichzeitig unklar, ob es sich überhaupt um einen Antrag gehandelt hat. Oder war es nur ein Zwischenruf des kurzzeitig indisponierten Bühls? Wir wissen es nicht. Es wird ein Rätsel bleiben, genau wie diese Mischung aus rechtlicher Beurteilung und politischer Opportunität, die diese konstituierende Sitzung zum Desaster werden ließ.

„Originäres Recht des Parlamentarismus“

Erfurter Theater
Politische Selbstermächtigung mit juristischen Mitteln
Nur noch einmal zum Hintergrund. Es gab zwei konkurrierende Rechtsauffassungen über die Gültigkeit der seit Jahrzehnten etablierten Geschäftsordnung. Der Alterspräsident war anderer Meinung als die Mehrheit des Thüringer Landtages. Dabei ist es unerheblich, wie diese juristisch bewertet werden. Es war ein klassischer Konflikt, den die Akteure im Landtag auf drei Wegen lösen konnten: Sie einigen sich einvernehmlich auf eine Tagesordnung. Sie beschließen, sich wenigstens auf ein Verfahren zu einigen, diesen Streit zu entscheiden. Oder eine Seite setzt mit Gewalt ihre Rechtsauffassung durch, wie es die logische Konsequenz gewesen wäre, wenn Bühl einen Antrag gestellt hätte, der mit Zustimmung der Mehrheit der Abgeordneten angenommen worden wäre. Die Begründung lieferte nachträglich der Verfassungsblog mit einem bemerkenswerten Rückgriff auf historisches Gewohnheitsrecht, oder wie man das zu nennen gedenkt: „Alle demokratischen Fraktionen klopften laut auf ihre Tische. In diesem Moment hatte der Thüringer Landtag sein Recht zum originären Parlamentarismus ausgeübt. Mehrheit durch Akklamation, auch das reicht aus, wenn ein geordnetes Abstimmungsverfahren wegen autoritär-populistischer Blockade aus der Minderheit heraus nicht möglich ist.“

Immerhin dämmerte den kreativen Juristen dann doch das Problem, wie man das hätte durchsetzen wollen. Treutler und Braga, Parlamentarischer Geschäftsführer der AfD-Fraktion, haben „die Stille“ ausgesessen: „Nach langen Sekunden der Schritt zurück: Die Fraktionen forderten, dass Treutler die Sitzung fortsetze.“ Womit das selbst erfundene „originäre Recht des Parlamentarismus“ nicht angewandt wurde. Der für seine Reduzierung der Politik auf das Freund-Feind-Verhältnis berühmt gewordene Staatsrechtler Carl Schmitt hätte an dem Begriff „autoritär-populistische Blockade“ seine Freude gehabt. Das Recht dient nur noch dem Zweck, dem Feind zu schaden. Das hätte Schmitt vollumfänglich begrüßt, um das einmal in indisponiertem Deutsch zu formulieren.

Vater und Sohn

Am Ende einigte man sich am Donnerstag, den Konflikt mit Hilfe eines Antrages der CDU-Fraktion an den Verfassungsgerichtshof aufzulösen. Ob sich die Richter ebenfalls dem Kampf des Verfassungsblogs gegen die „autoritär-populistische Blockade“ verschrieben haben, soll zu ihren Gunsten nicht angenommen werden. Dessen Mitglieder werden zwar von den politischen Parteien im Landtag bestimmt, bisher ohne Berücksichtigung der AfD, aber richterliche Unabhängigkeit findet bekanntlich im Kopf statt. Verstehen sich die Richter als Kämpfer gegen oder für irgendwas, oder wollen sie die Legitimation des demokratischen Verfassungsstaates erhalten? Letzteres ist immer möglich, wobei der Richter Jörg Geibert darüber mit seinem Sohn Lennart Geibert am sonntäglichen Mittagstisch diskutieren kann. Der Rechtsanwalt und frühere CDU-Innenminister in Thüringen trifft dann auf einen gerade erst in den Landtag gewählten CDU-Abgeordneten. Der in der Wählerschaft umstrittene CDU-Vorsitzende Mario Voigt hat seinem Prozessbevollmächtigten zwar schon einen Tag vor dem Beginn der konstituierenden Sitzung eine Prozessvollmacht ausgestellt, was aber niemanden beunruhigen sollte. Der kluge Mann baut vor. Aber warum Andreas Brühl diese erst einen Tag später ausstellte, ist unter Umständen dem nachgewiesenen Chaos dieser Landtagssitzung geschuldet, oder Brühl war schon einen Tag vorher indisponiert. Das müssen Historiker klären.

Auf jeden Fall hat der Weimarer Verfassungsgerichtshof in den wenigen Stunden zwischen Antrag und Beschluss eine beeindruckende Leistung vollbracht. Die Richter mussten nicht nur den Sachverhalt diskutieren, sondern haben den Beschluss auch auf 36 Seiten ausformuliert. Erfahrene Juristen finden das sicherlich genauso bemerkenswert wie der Autor dieser Zeilen. Ob der Richter Geibert auch noch die Zeit fand, mit seinem Sohn über diesen aufregenden Tag zu reden, ist nicht bekannt. Jeder Vater hätte dafür Verständnis. Dafür hatte der einstimmig gefasste Beschluss ein Ergebnis: Er gab dem Alterspräsidenten einen Fahrplan mit, wie die Fortsetzung dieser konstituierenden Sitzung zu verlaufen hat. Daran hat sich Tritschler gehalten. Zudem musste der Gerichtshof diese Entscheidung begründen. Die juristischen Details werden sicherlich noch in der Fachwelt ausführlich diskutiert werden, der Tenor dieser Entscheidung lässt sich aber so zusammenfassen: Entgegen dem Wortlaut und der bisherigen Praxis kann jeder neue Landtag seine Geschäftsordnung schon vor seiner vollzogenen Konstituierung verändern. Dem Grundsatz der Diskontinuität steht kein Gewohnheitsrecht entgegen. Die Richter mussten sich allerdings nicht damit beschäftigen, ob das beim vom Verfassungsblog erfundenen „originären Recht des Parlamentarismus“ anders zu beurteilen wäre. Es genügt in Zukunft die Mehrheit im Landtag, um eine Geschäftsordnung auf deren politische Bedürfnisse abzustellen.

Bräuche und Konventionen

Inhaltlich hat sich der Landtag mit Billigung des Verfassungsgerichtshofes von einer Konvention verabschiedet. Bisher stellte immer die stärkste Fraktion den Parlamentspräsidenten. Wie das bei solchen jahrzehntealten Konventionen ist, werden die Begründungen im Laufe der Zeit meistens vergessen. Sie entzogen die Besetzung dieses Amtes den parteipolitischen Kalkülen der jeweiligen Parlamentsmehrheit. Der Parlamentspräsident brauchte das Vertrauen der Mehrheit der Abgeordneten. Braga zitierte heute den früheren CDU-Vorsitzenden Mike Mohring, der mit dem Ablauf der vergangenen Legislaturperiode aus dem Landtag ausgeschieden ist. Das Vorschlagsrecht für den Präsidenten des Thüringer Landtags liege bei der stärksten Landtagsfraktion, so Mohring im November 2018 nach einer gescheiterten Wahl eines CDU-Kandidaten für das Amt des Landtagspräsidenten. Es sei ein „gemeinhin akzeptierter Brauch in allen Parlamenten“, dass der vorgeschlagene Kandidat auch gewählt werde. Für Mohring „untergräbt es die parlamentarischen Spielregeln“, wenn sich die damalige „Linkskoalition … ein Auswahlrecht anmaße, welche Abgeordneten die CDU-Fraktion vorschlagen dürfe.“ Dieser Brauch hat seit heute keine Bedeutung mehr, die die Parteien als Selbstverpflichtung empfinden. Das Amt des Landtagspräsidenten wird zur zusätzlichen personalpolitischen Spielmasse bei Bildung einer Koalition. Schließlich kann man Bräuche nicht wieder einführen, wenn es einem gerade wieder passt. Sie funktionieren nur so lange, wie sich alle daran halten.

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Das alles wird nicht folgenlos bleiben. Der Kommunikationsberater Hasso Mansfeld hat das heute gut auf den Begriff gebracht, was das heißt, wenn sich manche im Kampf gegen eine „autoritär-populistische Blockade“ sehen: „Änderungen der Geschäftsordnungen und Satzungstricks waren und sind immer Instrumentarien zur Machterhaltung der Nomenklatura. Auch wenn es jetzt gegen die AfD geht: sie sind die Seuche und ich habe es auch schon immer an meiner eigenen Partei gehasst.“ Mansfeld ist Mitglied der FDP, womit man Kummer gewohnt sein sollte. Die AfD hatte zu keinem Zeitpunkt die Chance für eine solche Blockade, vielmehr war das Gegenteil der Fall. In Erfurt ging es die vergangenen drei Tage, um die Machterhaltung der gegen die AfD verbündeten Parteien. Mario Voigt hat seine Erkenntnisse über diese Tage in Erfurt so zum Ausdruck gebracht: „Wenn dieser so schwer zu ertragende Donnerstag im Landtag dennoch ein Gutes hatte, dann, dass alle sehen konnten, was passiert, wenn die AfD auch nur ein kleines bisschen Macht besitzt. Es ist ein Schaden und eine Gefahr für jeden.“ Das ist der Irrtum: Die AfD hatte keine Macht, die lag zu jedem Zeitpunkt woanders. Aber was passiert, wenn die AfD die neu gewonnenen rechtlichen Gestaltungsspielräume bei einer eigenen Mehrheit nutzen wird? Sie ihre politischen Kalküle in gleicher Weise durchsetzen sollte, wie es die Koalition von CDU, BSW, Linke und SPD praktiziert hat. Auf Bräuche und Konventionen muss niemand Rücksicht nehmen, das haben die Bürger gelernt. Hier gilt ein Satz, der in keiner Verfassung oder Geschäftsordnung steht, aber über den alle Parteien neu nachdenken dürfen: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“

Carl Schmitt hätte ihn für sentimentales Gerede gehalten. Er war immer ein Anhänger der politischen Selbstermächtigung mit juristischen Mitteln.

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