Bündnis Sahra Wagenknecht und Alternative für Deutschland. So heißen die beiden politischen Erfolgsgeschichten des Jahres 2024. Beide tragen eine individuelle Person in ihrem Namen. Beim Bündnis Sahra Wagenknecht ist das offensichtlich. Der Name „Alternative für Deutschland“ ist eine unmittelbare Reaktion auf Altkanzlerin Angela Merkel (CDU), die ihre Politik immer wieder als „alternativlos“ pries – etwa in Sachen Euro-Rettung: Der ursprüngliche Anlass für die Gründung der AfD.
Über die Rolle des Individuums in der Politik streiten gleich mehrere Wissenschaften. Es gibt gute Gründe, an die Grenzen dieser Rolle zu glauben. Institutionelle und historische Rahmen engen das Individuum in der Politik ein. Doch ganz beliebig austauschbar ist das politische Personal eben doch nicht. Das haben nicht erst die letzten drei Wochen bewiesen. Glaubt eine Partei, sie müsse nicht mehr auf die Außenwirkung ihrer Kandidaten achten, legt sie die ersten, entscheidenden Meter ihres Niedergangs zurück.
Zum Beispiel die CDU Baden-Württemberg. Das Ländle galt in der Bundesrepublik als die uneinnehmbare Hochburg der Christdemokraten. Dazu trugen auch sehr beliebte Ministerpräsidenten bei. Der Letzte dieser Art war Lothar Späth. Das „Cleverle“ hielten viele in dessen ersten beiden Amtszeiten sogar potentiell für den besseren Kanzler als Helmut Kohl (CDU). Doch nach Späth ging es bergab mit der CDU in Baden-Württemberg.
In Brandenburg trat in Dietmar Woidke ein hochbeliebter Ministerpräsident gegen einen Herausforderer Jan Redmann (CDU) an, dessen Stärken im innerparteilichen Apparat liegen müssen – denn sein Außenauftritt ist eine Katastrophe. Mit diesem Ungleichgewicht im Rücken konnte sich Woidke überhaupt erst die Strategie leisten, ein stärkeres Ergebnis der SPD als das der AfD zur Bedingung zu machen, selbst im Amt zu bleiben.
Wobei Charisma ein seltenes Gut geworden ist. Franz Müntefering war nie Spitzenkandidat der SPD. Doch wenn er einen Raum betrat, egal wie groß der war, war das Charisma mit Händen zu greifen. Das Publikum bemerkte ihn, noch bevor es ihn gesehen oder gehört hatte. Ähnliches galt für Gerd Schröder, Kurt Beck oder Joschka Fischer. Der erste grüne Außenminster spielte im November 1994 keine Rolle in der Partei. Der Bundesvorstand ermahnte Fischer vor dem Kölner Parteitag, sich dort entsprechend zu verhalten. Sprich: dem Bundesvorstand nicht die Show zu stehlen.
Fischer hielt sich daran. Auf seine Weise. Er betrat die Sporthalle auf dem Messegelände mit mehreren Stunden Verspätung. Die war bereits gut gefüllt, vorne kämpften sich die Redner am Mikrofon ab. Fischer ging alleine, still und leise in die allerletzte Reihe der Halle, wo er Platz nahm. Drei Dutzend leere Stuhlreihen zwischen ihm und dem restlichen Parteitag. Ganz leise war Fischers Auftritt – und trotzdem drehte sich der versammelte Parteitag nach Fischer um. Das ist Charisma.
Persönlichkeit ist in der Politik selten geworden. Sonst wären Karrieren wie die von Saskia Esken, Kevin Kühnert (beide SPD), Ricarda Lang, Omid Nouripour (beide Grüne), Janine Wissler, Martin Schirdewan (beide Linke), Friedrich Merz, Hendrik Wüst, Daniel Günther (alle CDU) oder Marco Buschmann (FDP) nicht denkbar. Eskens Auftreten ist so erschreckend, dass ihre Parteifreunde mittlerweile öffentlich zugeben, der SPD-Vorsitzenden ihre Auftritte in Talkshows verbieten zu wollen.
Das Fehlen von Charisma ist kein Zufall. Die bisher regierenden Parteien von Linke über die Ampelparteien bis hin zur Union haben die Außenwirkung als Aspekt ihrer Elitenauswahl aufgegeben. Wichtig ist, sich in der Partei durchsetzen zu können. Wie einst Stefan Mappus in der CDU Baden-Württemberg. Gewählt werde man dann schon. Wen sollen die Bürger denn sonst wählen? Es passt, dass die Ampel eine Wahlrechtsreform beschlossen hat, die das Direktmandat schwächt. Der Kandidat, den die Bürger kennen, mögen und wählen, gilt kaum noch etwas – stattdessen dominiert der Parteisoldat, den die Partei über eine Liste ins Parlament zwängt, über den meist vorab in Hinterzimmern entschieden wird. So lässt sich dann eine Elitenauswahl erklären, deren Ergebnis Esken, Lang, Wissler, Wüst oder Buschmann heißt.
Doch wie schon in der CDU Baden-Württemberg geht das nur eine zeitlang gut. Eine Partei kann sich vielleicht einen Günther Oettinger erlauben, aber halt keinen Stefan Mappus. Nicht dauerhaft. Und so schrumpfen denn die Parteien von Linke über Ampelparteien bis hin zur Union. Vor fünf Jahren kamen sie bei Wahlen zusammen noch auf über 90 Prozent. Nun erreichen AfD und BSW in Thüringen zusammen eine theoretische Mehrheit und in Brandenburg ein Patt. 40 Prozent Verlust in wenigen Jahren. Die Alarmglocken sollten läuten.
Das Bündnis Sahra Wagenknecht verfügt über eine der letzten Charismatikerinnen in der Politik. Die AfD räumt selbst ein, dass sie in der Personalauswahl noch Luft nach oben hat. Doch das Bündnis wird von einer 55-Jährigen getragen, die als One-Woman-Show auftreten muss. Das zehrt schnell an den Kräften. Dass sie am Brandenburger Wahlabend aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen kann, dürfte ein leiser Vorgeschmack auf mögliche Ermüdungserscheinungen sein.
[innner_post 4] Die Parteien von Linke über Ampel bis hin zur Union treten also nicht gegen übermächtige Einzelkandidaten an. Trotzdem ist ihre eigene Kandidatenauswahl so schlecht, dass sie in den letzten Jahren zwischen 20 und 40 Prozentpunkten an Boden verloren haben. Wie wichtig gute Kandidaten sind, zeigt sich bei den Grünen. In der Opposition bildeten Annalena Baerbock und Robert Habeck ein geniales Führungsduo. Das trat nur in günstigem Umfeld auf und wurde von willigen Journalisten ins richtige Licht gesetzt. Seitdem sich das Wirken der beiden kaum noch schönreden lässt und immer mehr Deutschen bewusst wird, mit wem sie es da zu tun haben, brechen die Wahlergebnisse der Grünen massiv ein.
Linke, Ampelparteien und Union müssen an die Personalauswahl ran. Dass es egal sei, wen sie als Kandidat aufstellten, sollten sie als Gedanken rasch streichen. Jemand mit der Ausstrahlung einer Saskia Esken sollte sich mit der zweiten Reihe begnügen. In der zahlt der Steuerzahler ja immer noch auskömmlich. Pfeifen diese Parteien weiter auf die Außenwirkung als Kriterium, gehen die Ergebnisse weiter nach unten. Wie schwer es dann ist, verloren gegangenen Boden zurückzugewinnen, davon kann die CDU Baden-Württemberg so manches erzählen.