Tichys Einblick
Nach Thüringen, Sachsen und Brandenburg

Der Osten ist nicht rot

Nach den Landtagswahlen im Osten: Stoischer Gleichmut im Niedergang ist trotz eines halb siegreichen Rückzugsgefechtes in den Marken alles, was der Regierung bleibt.

picture alliance/dpa | Bernd von Jutrczenka

Im Juni fanden in Frankreich EU-Wahlen statt. Der französische Präsident erlitt angesichts des schlechten Abschneidens seiner Partei und des Erfolgs des Rassemblement National eine Art Nervenzusammenbruch und löste überstürzt das Parlament auf. Das war offensichtlich eine Kurzschlusshandlung – mit fast niemandem abgesprochen. Das Resultat war katastrophal. Die jetzt neugebildete französische Regierung muss mangels ausreichender Unterstützung in der Kammer jederzeit damit rechnen, durch ein Misstrauensvotum gestürzt zu werden, und ob Macron als Präsident eine solche Niederlage politisch überleben würde, ist durchaus ungewiss, denn das Parlament kann frühestens im Juni 2025 erneut aufgelöst werden. Im Vergleich zu Macron demonstriert unser eigener Bundeskanzler hingegen eine Standhaftigkeit, die wahrhaft heroisch, ja übermenschlich wirkt. Die Stimmung im Land ist katastrophal schlecht, aber Scholz verzieht keine Miene und scheint wirklich zu glauben, er werde seine politischen Gegner noch besiegen können, wenn er einfach so weiter macht wie bisher, wenn auch mit etwas veränderter Rhetorik, ein paar gut inszenierten Scheinlösungen und diversen Wahlgeschenken, für die freilich leider das Geld fehlt.

Dabei wird auch der Streit zwischen den Koalitionspartnern immer schriller, zumal der FDP immer klarer wird, dass es für sie wohl kein Rettungsboot mehr geben wird, wenn das Regierungsschiff im Herbst des nächsten Jahres endgültig auf den Eisberg des Wählerwillens stößt. Bei den Freidemokraten, die in vielen Bundesländern als Partei faktisch unsichtbar geworden sind, herrscht Verzweiflung oder das, was man im Englischen „the horrible sinking feeling“ nennen würde. Nur die Grünen sind noch leidlich frohen Mutes, sind sie sich doch sicher, für das Gute und die Rettung der Welt zu kämpfen. Leute, die das nicht verstehen, sind entweder Rechtsradikale, denen man das Wahlrecht entziehen sollte, oder Opfer russischer Propaganda, die in Deutschland schlechte Nachrichten verbreitet, ohne die sicherlich die meisten Leute fröhlich und optimistisch wären, wie die Grünen selbst (außer im Blick auf den Klimawandel, da ist natürlich die Apokalypse angesagt).

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Dem Luxus solcher Illusionen kann sich die SPD eigentlich nicht hingeben, Immerhin war die SPD mal Volkspartei und über die Gewerkschaften und die Kommunalpolitik durchaus in der Realität geerdet, auch wenn der Niedergang schon vor 20 Jahren, also lange vor dem Auftauchen von AfD und BSW begann. Sicher, in Brandenburg ist es der SPD jetzt gelungen, dank der Popularität des dortigen Ministerpräsidenten Woidke, der den Bundeskanzler klugerweise konsequent aus dem Wahlkampf rausgehalten hat, und dank einer scharfen politischen Polarisierung eine alte Hochburg im Osten noch einmal knapp zu halten. Die SPD bleibt vor der AfD knapp stärkste Partei und gewinnt sogar Stimmen hinzu. Ihr Erfolg ging allerdings auf Kosten der CDU sowie der Grünen, die jeweils beide katastrophal schlecht abschnitten. (Die FDP spielte in Brandenburg schon 2019 bei der letzten Wahl keine Rolle mehr.)

Der Bundeskanzler, der an diesem für die SPD isoliert betrachtet respektablen Ergebnis freilich keinen Anteil hatte, wird sicherlich versuchen, die Landtagswahl dennoch als großen Erfolg der Bundesregierung hinzustellen. Der Ausgang der Wahlen wird ihn in seiner Entschlossenheit bestärken, der Realität auszuweichen und größere politische Kurskorrekturen, die in der Koalition freilich auch kaum durchsetzbar wären, zu vermeiden. Das ändert nichts daran, dass in Brandenburg AfD und BSW als Parteien des radikalen Protestes gegen die Berliner Politik, erneut zusammen gut 40 % der Stimmen (in Thüringen waren es sogar annähernd 50 %) gewonnen haben, obwohl namentlich die AfD von den regierungsnahen Medien wie dem ÖRR als Verkörperung des Bösen schlechthin dargestellt wurde und wird. Das sollte eigentlich der Bundesregierung und überhaupt den etablierten Parteien zu denken geben, aber dieser Moment der Selbstkritik wird wohl weitgehend ausbleiben, besonders im Regierungslager.

Man wird versuchen, alles auf Spezifika der politischen Kultur in den neuen Bundesländern zurückzuführen. Die geringe Verankerung der alten westdeutschen Parteien in der Bevölkerung, ein allgemeines Fremdeln mit der parlamentarischen Demokratie westlichen Zuschnitts, und womöglich auch ein gewisses Stockholm-Syndrom gegenüber den einstigen russischen Besatzern, mit denen man sich vor 1989 arrangieren musste, da die USA Ostmitteleuropa einschließlich Mitteldeutschlands der Sowjetunion 1945 bedingungslos überlassen hatten, wird man hier anführen.

Manches davon mag zutreffen, aber es spielt eben auch eine Rolle, dass im Osten die Erinnerung an staatlich verordnete Sprachregelungen und eine allgemeine Bevormundung noch nicht verblasst ist. So wie man nicht von der Mauer in Berlin sprechen durfte, sondern nur vom anti-faschistischen Schutzwall, so soll man heute nicht über Ausländerkriminalität sprechen, und soll sogar den Ausdruck Migrationshintergrund nicht mehr verwenden dürfen.

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Bei solchen Versuchen, die Denk- und Meinungsfreiheit zu beschränken, schrillen im Osten die Alarmglocken schneller und lauter als im Westen. Ein anderer Faktor mag hinzukommen, trotz der Besatzungsherrschaft der UdSSR blieb die DDR bis 1989 in gewisser Weise kulturell „deutscher“ als der Westen, wo der massive kulturelle Einfluss der USA weitgehend akzeptiert und sogar als liberalisierender Fortschritt begrüßt wurde. In der DDR blieb man hingegen wie im 19. und frühen 20. Jahrhundert überzeugt, dass man kulturell den Russen und anderen Osteuropäern überlegen sei; eine kulturelle Russifizierung fand kaum statt, auch wenn man an der Schule Russisch lernte. In der Alltagskultur, aber auch im Erscheinungsbild der Städte, die trotz der Plattenbauten und einiger sozialistischer Prestigeprojekte weniger stark städtebaulich und architektonisch modernisiert wurden als im Westen, blieben ältere deutschen Traditionen aus der Vorkriegszeit stärker und sichtbarer präsent.

Überdies gab es von einigen Vietnamesen abgesehen keine massive Einwanderung von „Gastarbeitern“ wie im Westen. Umso stärker wird jetzt von der Bevölkerung der Schock einer von oben verordneten multikulturellen Gesellschaft empfunden, deren Exponenten eben auch weniger dringend benötigte Facharbeiter oder, sagen wir, freundliche Krankenschwestern und Altenpfleger sind, sondern, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung, orientierungslose junge Männer aus einer ganz anderen Kultur, von denen nicht wenige eher aggressiv und fordernd auftreten, wozu sie ja auch von der Politik bewusst ermutigt werden. Auch die Europabegeisterung mit ihrer absoluten Sakralisierung der EU, des Euro und der segensreichen Brüsseler Postdemokratie, die die politische Kultur Westdeutschlands prägte und prägt, schlug in den neuen Bundesländern bis heute kaum Wurzeln.

Die Wahlresultate im Osten sind Symptom einer allgemeinen Krise, die auch im Westen präsent ist

Das alles erklärt die Wahlresultate im Osten zum Teil. Aber es wäre ein Fehler, das alles nur als rein ostdeutsches Phänomen zu betrachten. Eher sind Bundesländer wie Thüringen, Sachsen und, in leicht abgemilderter Form, auch Brandenburg der Kanarienvogel in der Kohlemine, denn auch im Westen sind die Umfragewerte der Ampelparteien im Keller, und daran ändert der relative Erfolg von Ministerpräsident Woidke in Brandenburg auf Kosten der CDU und der Grünen so gut wie nichts. Auch wenn BSW und AfD gemeinsam im Westen nicht auf 40 % kommen wie in der Mark Brandenburg, an die 25 % erreichen sie in Ländern wie Baden-Württemberg und Hessen in den Umfragen zur Zeit durchaus und die Ampelparteien kommen auf nationaler Ebene, folgt man den Demoskopen, gerade mal auf ca. 30 %.

Eigentlich müsste die Regierung sich zu einem politischen Befreiungsschlag aufraffen, oder mindestens ehrlich genug sein, einzugestehen, dass sie nicht mehr weiterweiß, um so einer neuen Regierung Platz zu machen. Stattdessen wird nur über neue Subventionen und Wahlgeschenke etwa in Gestalt eines höheren Mindestlohnes nachgedacht, um auf diese Weise Stimmen im Grunde genommen zu kaufen. In Italien, wo mit Ausnahme weniger Perioden größerer Stabilität die Regierungen seit dem zweiten Weltkrieg im Schnitt mindestens alle zwei Jahre wechselten, würde man angesichts der Lage, mit wir hier konfrontiert sind, einen Schlussstrich ziehen, und Neuwahlen ausrufen. Sicher, damit ist Italien politisch auch nicht glücklich geworden, aber wenn ein politisches System schon per se weitgehend dysfunktional ist, und das ist in Deutschland, wie man meinen könnte, mittlerweile durchaus der Fall, ist ein größeres Maß an Flexibilität und Improvisationskraft in der Dauerkrise unter Umständen auch ein Vorteil. Und dass wir heute noch besser regiert würden als Italien, kann man kaum behaupten, zumal Frau Meloni zur Zeit eher fest im Sattel sitzt und migrationspolitisch jedenfalls mehr erreicht als die Bundesregierung, ohne das Land deshalb gegen qualifizierte Migration abzuschotten.

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Ob ein Kanzler Merz, mutmaßlich an der Spitze einer neuen Groko, Probleme wie die unkontrollierte Migration, den wirtschaftlichen Niedergang, der ja zum Teil auch von der EU durch widersinnige Vorschriften bewusst gefördert wird, oder die wachsende Kriminalität in den Griff bekäme, ist, man muss es zugeben, höchst ungewiss. Aber selbst begrenzte Teilerfolge könnten die öffentliche Stimmung verändern, könnten die bleierne Hoffnungslosigkeit, die sich im Land allenthalben angesichts des Niedergangs an allen Fronten ausbreitet, eindämmen. Auch personell wäre es ein Gewinn, wenn man einem Herrn Habeck wieder mehr Zeit geben würde, Kinderbücher zu schreiben und Frau Faeser sich endlich um ihren SPD-Kreisverband in Hessen kümmern könnte, während Annalena Baerbock vielleicht eine Chance hätte, eine Dozentur für feministisches Völkerrecht und intersektionales Trampolinspringen an einer renommierten Fachhochschule anzunehmen, und sich damit einen Lebenstraum erfüllen könnte.

Wir brauchten vor allem eine Regierung, die signalisiert, dass ihr die Interessen des eigenen Landes und der eigenen Bevölkerung wirklich am Herzen liegen und sie nicht im Gegenteil der Überzeugung ist, dass die Existenz dieses Landes eigentlich schon per se zutiefst illegitim ist, wie das nicht wenige Grüne, aber auch Vertreter des linken Flügels der SPD tun. Es ist diese Nie-Wieder-Deutschland-Gesinnung, die zeitweilig subkutan auch schon auf Teile der CDU übergegriffen hatte, die die AfD groß gemacht hat und von der jetzt auch Wagenknechts quasi linkspatriotische Gegen-Bewegung profitiert. Eine Bundesregierung, die diesen Namen verdient, müsste es wagen, deutsche Interessen offen und klar zu artikulieren, gegenüber Brüssel und Paris genauso wie gegenüber den USA, aber auch gegenüber jenen Immigranten, die nicht wirklich bereit sind, sich auf dieses Land innerlich einzulassen, und auch keine plausiblen Fluchtgründe aufweisen können.

Das heißt ganz sicher nicht, dass man sich in die Arme Putins stürzen sollte, wie das manche im Milieu der Protestparteien in der Tat wünschen, – das wäre ein fataler Fehler – aber es würde doch bedeuten, dass man zu einem gewissen Selbstbewusstsein als Nation findet. Solange das nicht gelingt, werden sich die Probleme weiter zuspitzen, und wenn sich das mit dem Verlust von gut bezahlten Arbeitsplätzen verbindet, wie jetzt, sollte man sich nicht wundern, wenn die jüngsten Landtagswahlen, trotz der einen oder anderen Abwehrschlacht, die die SPD unter günstigen Bedingungen noch wie in Brandenburg gewinnen mag, nur Vorbote einer immer weiter gehenden radikalen politischen Destabilisierung sind, die sich dann in der Tat nicht mehr revidieren lassen wird.

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