Tichys Einblick
Neue EU-Kommission

Ursula von der Leyen: Die Sonnenkönigin

Die EU-Kommissionspräsidentin ist auf dem Gipfel ihrer Macht: Die einflussreichsten Kontrahenten sind sämtlich ausgebootet, die aktuellen Kommissare sind schwach. In Brüssel spielten Inhalte noch nie eine große Rolle. Doch jetzt entwickelt sich die Eurokratie zu einer echten Autokratie – Hofstaat inklusive.

IMAGO / ABACAPRESS

„Ursula von der Leyen hält sich offenbar für Ludwig XIV.“

So schimpft der EU-Abgeordnete Fabio de Masi von der Wagenknecht-Partei BSW. Nun wissen wir nicht, ob die Deutsche tatsächlich insgeheim meint, jemand anderes zu sein. Was wir aber wissen: Die 65-Jährige hätte derzeit ein paar ganz gute Gründe, sich für den französischen Herrscher zu halten, den man den „Sonnenkönig“ nannte.

Um zu verstehen, was gerade bei der EU in Brüssel mit der neuen Kommission und deren Präsidentin Ursula von der Leyen passiert, sollten wir uns ganz kurz noch einmal daran erinnern: Die EU ist ein zentralistisches Imperium.

Die Bürokratie sitzt in einer hermetisch abgeschotteten Blase in Brüssel: weit weg von den Menschen und deren Problemen – und weit davon entfernt, etwas von den Verhältnissen vor Ort, von regionalen Unterschieden und von lokalen Besonderheiten zu verstehen. Die Eurokraten in der fernen Zentrale tragen nicht selbst die Folgen ihres Handelns: Ausbaden müssen das immer die betroffenen Menschen anderswo. So geht Zentralismus.

Imperial ist die EU, weil sie den Mitgliedsstaaten überall (und weit über ihre vertraglich festgelegten Befugnisse hinaus) hineinregiert. Brüssel macht für alle und für alles Vorschriften und trifft Entscheidungen noch für die kleinsten Kleinigkeiten. Die vielbeschworene nationale Souveränität in der EU ist wie die Freiheitsstatue in New York: außen eindrucksvoll, innen hohl.

Wir sind in wenigen Augenblicken wieder bei Ursula von der Leyen, versprochen.

Zentralistische Imperien neigen historisch zur Machtkonzentration in den Händen eines Alleinherrschers. Meist passiert das nicht über Nacht. Es kann Jahre dauern, manchmal auch Jahrzehnte, in denen die Ehrgeizigen in der imperialen Zentrale um mehr und immer noch mehr Einfluss ringen.

Dieser Machtkampf in Endlosschleife führt nahezu unweigerlich dazu, dass man sich in der Zentrale immer weniger um die echten Aufgaben im Imperium kümmert. Das Ringen um Einfluss und dann dessen Verteidigung bindet alle Kräfte. Irgendwann geht es überhaupt nicht mehr um die Lösung tatsächlicher Probleme, sondern nur noch um den Erhalt und den Ausbau der eigenen Position. Politik als Selbstzweck.

Damit sind wir wieder bei Ursula von der Leyen.

Ihr Vater, Ernst Albrecht, war Ministerpräsident von Niedersachsen. Der CDU-Mann galt zu seiner Zeit als kompetenter Landesvater, aber es fehlte ihm der letzte Wille zur Macht. Deshalb wurde er zwar immer wieder als möglicher Kanzler gehandelt, parteiintern durchgesetzt hat sich dann aber Helmut Kohl.

Politisch segelte von der Leyen stets im Windschatten von Angela Merkel. Aus den Erlebnissen ihres Vaters und aus dem Aufstieg von Merkel hat sie dann ganz offenkundig den Schluss gezogen, dass Macht wichtiger ist als Inhalt. Das hat sich gelohnt.

Nicht für Europa und nicht für Deutschland. Aber für sie.

Mit der neuen EU-Kommission, die die Deutsche jetzt zusammengebastelt hat, hat sie kaum bestreitbar den Gipfel ihres bisherigen Schaffens erreicht. Noch nicht einmal ihr berüchtigt gewiefter Vorgänger als Kommissionspräsident in den 1980er-Jahren, der Franzose Jacques Delors, hatte es geschafft, seine Kommissare so virtuos zu entmachten – und dadurch alle Fäden selbst in der Hand zu behalten.

Seit Monaten arbeitet die von Freund und Feind kurz „VdL“ genannte von der Leyen konsequent und unermüdlich daran, erklärte und mögliche Gegner loszuwerden. Es ist gelungen.

Den machtbewussten Niederländer Frans Timmermans hatte sie schon 2023 aus der Kommission geekelt, er kehrte zurück in die holländische Landespolitik. Bei der nicht minder machtbewussten Dänin Margarethe Vestager hatte VdL etwas Glück: Deren Partei „Radikale Venstre“ gehört nicht mehr der dänischen Regierung an, weshalb Kopenhagen Vestager auch nicht wieder als EU-Kommissarin nominierte.

Bei ihrem Intimfeind Thierry Breton griff VdL zum politisch bewährten Instrument der klassischen Intrige: Obwohl Paris Breton schon offiziell erneut als Kommissar nominiert hatte, machte von der Leyen Frankreichs innenpolitisch schwer angeschlagenem Präsidenten Emmanuel Macron ein unmoralisches Angebot: Er möge Breton zurückziehen und einen anderen Kandidaten nominieren. Der würde dafür dann eine Art Super-Ressort in der neuen Kommission bekommen.

Macron nahm an. Das hätte er besser nicht getan. Denn im neuen Organigramm der EU-Kommission findet er sich jetzt unversehens bei den Verlierern wieder. Wobei er da nicht allein ist: Denn im Prinzip haben alle verloren – außer Ursula von der Leyen.

Frankreichs Breton-Ersatz Stéphane Séjourné führt zwar den klangvollen Titel „Vizepräsident für Wohlstand und Industriestrategie“. Bei genauem Hinsehen stellt sich aber heraus: Der Mann hat jetzt nicht etwa mehr, sondern sogar weniger Kompetenzen als vorher Thierry Breton. Zudem muss er alle wichtigen Entscheidungen künftig auch noch von einer anderen Vizepräsidentin gegenzeichnen lassen: der Spanierin Teresa Ribera.

Das liegt daran, dass von der Leyen die Ressorts der Kommissare radikal neu zugeschnitten hat. Jetzt gibt es viele Überlappungen bei den Kompetenzen. Nicht wenige Kommissare wissen immer noch nicht so ganz genau, wofür sie eigentlich zuständig sind. Das ist durchaus gewollt. Denn unklare, nicht trennscharf voneinander abgegrenzte Zuständigkeiten bedeuten, dass bei sehr vielen Entscheidungen mindestens zwei Kommissare sich einigen müssen. Und im Streitfall entscheidet: Ursula von der Leyen.

Divide et impera.

Timmermans, Vestager und Breton hatten große und kohärente Ressorts – und haben die zu echten alternativen Machtzentren ausgebaut. Dadurch konnten sie sehr selbstständig und unabhängig von der Kommissionspräsidentin handeln und auftreten. Das soll nicht wieder vorkommen.

Auch Rumänien schwant gerade, dass man sich hat leimen lassen. Bukarest hatte, wie Paris, schon einen Mann nominiert. Von der Leyen bat darum, stattdessen eine Frau zu benennen. Die sollte im Gegenzug ein bedeutendes Ressort bekommen. Rumänien lieferte – von der Leyen nicht: Roxana Mînzatu ist jetz zwar Vizepräsidentin für „Menschen, Kompetenzen und Vorsorge“ und verwaltet damit viele schöne sozialistische Schlagwörter. Ihre konkreten Zuständigkeiten liegen aber in der Nähe des Nullpunkts.

Machtmenschen sind ja selten gutmütig und meist nachtragend bis rachsüchtig. Der Inselstaat Malta hatte sich konsequent von der Leyens Vorgabe verweigert, für jeden Kommissar einen Mann und eine Frau zu nominieren. Der Malteser Glenn Micallef ist nun zur Strafe zuständig für „Generationengerechtigkeit, Jugend, Kultur und Sport“. Echte Kompetenzen: Fehlanzeige. Und für den ungarischen Kommissar Olivér Várhelyi, einen Vertrauten von Viktor Orbán, hat VdL sogar das völlig neue Ressort „Gesundheit und Tierschutz“ erfunden, um das chronisch widerspenstige und zunehmend Brüssel-kritische Budapest vor aller Augen zu demütigen.

Auch inhaltlich ist die VdL-Truppe ein Gruselkabinett.

Der Niederländer Wopke Hoekstra soll Steuerkommissar werden. Das ist ein tatsächlich wichtiger Job – und deswegen bemerkenswert, weil sein Name ausgerechnet in Verbindung mit einer Briefkastenfirma auf den Virgin Islands auftauchte. Böse Zungen meinen nun, der Mann habe damit immerhin eine gewisse Expertise bewiesen. Ganz ohne Sarkasmus hat die Personalie natürlich mehr als nur ein wenig „Gschmäckle“.

Leider bestätigt sich auch die Befürchtung, dass Vertreter von traditionell eher ausgabefreundlich und dirigistisch ausgerichteten Ländern die neue Kommission dominieren würden. Die Spanierin Teresa Ribera wird Vizepräsidentin für Klima und Wettbewerb, der schon erwähnte Franzose Stéphane Séjourné für Binnenmarkt und Industrie, Raffaele Fitto aus Italien für Kohäsionspolitik. Und mit dem Polen Piotr Serafin wird ausgerechnet ein Mann aus einem Nettoempfängerland für das Budget und für den demnächst auszuhandelnden neuen Finanzrahmen zuständig sein.

Nichts Gutes verheißt auch das Trio, dass künftig Sicherheit und Verteidigung verantworten soll: neben der Außenbeauftragten Kaja Kallas aus Estland noch Henna Virkkunen aus Finnland und der neue Verteidigungskommissar Andrius Kubilius aus Litauen. Alle drei kommen aus Ländern mit einer Grenze zu Russland, alle drei plädieren seit langem für einen noch härteren Kurs gegenüber Moskau.

Die Stimmen der Mäßigung in der EU werden es nun noch schwerer haben.

Ursula von der Leyen dürfte das völlig wurscht sein. Sie hat alle ihre persönlichen Ziele erreicht: Sie ist weiter Kommissionspräsidentin, und sie hat eine deutlich geschwächte Kommission. So schnell dürfte ihr also erstmal niemand am Zeug flicken.

Daraus erwächst der Dame offenkundig ein Selbstverständnis, das sie dann gleich mal am vergangenen Dienstag demonstrierte. Im für die Brüsseler Blase traditionell wichtigen Treffen der Kommissionspräsidentin mit den Vorsitzenden der Fraktionen im EU-Parlament stellte VdL zwar den neuen Zuschnitt der Kommissariate vor. Aber auch auf drängendste Nachfragen weigerte sie sich eine volle Stunde lang beharrlich, irgendwelche Namen zu nennen.

Die Abgeordneten verließen den Saal mit dem festen Eindruck, dass von der Leyen da wohl noch einige wichtige Gespräche führen müsse, bevor sie dann in ein paar Tagen das komplette Tableau präsentieren würde.

Falsch gedacht.

Es dauerte nicht ein paar Tage, sondern ein paar Minuten. Direkt nach dem Ende ihrer Unterredung mit den Fraktionsvorsitzenden stellte VdL nämlich im Raum nebenan der versammelten Brüsseler Presse die

neue Kommission vor – inklusive aller Namen und mit einer aufwändigen, also lange vorbereiteten Power-Point-Präsentation.

„Ein bezeichnendes Bild für ihre Verachtung unseres Parlaments“, schäumte Manon Aubry, die Vorsitzende der „Linke“-Fraktion. Und ausnahmsweise stimmten ihr in diesem Punkt auch die Vertreter aller anderen Fraktionen zu, von ganz links bis ganz rechts.

Was soll’s? Ludwig XIV. kam ja auch ohne Parlament aus.

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