Steht die Sonne tief, wirft ein Zwerg auch lange Schatten. Zum Beispiel Lars Klingbeil. Wer ihn nicht kennt: Das ist einer der Vorsitzenden der SPD. Eine Äußerung von ihm nimmt Bild zum Anlass für die Schlagzeile: „Spitzengenossen zählen den Kanzler an / Jetzt entlädt sich der SPD-Frust gegen den Kanzler“. Eine Palastrevolte verspricht diese Überschrift. Gar einen Regierungswechsel.
Was hat denn der „Spitzengenosse“ gesagt, was eine solche Überschrift rechtfertigt? Es gebe „auch eine Erwartung an den Bundeskanzler“. Und: „Ich weiß, was Aufgabe des SPD-Vorsitzenden, des Bundeskanzlers, der gesamten SPD-Führung ist!“ Huiuiuiuiui. Um diese Aussage einzuordnen, sollte man wissen, dass es einen guten und einen schlechten Grund gibt, ein Ausrufezeichen zu verwenden. Der gute Grund ist das Ende eines Satzes, in dem ein Befehl ausgesprochen wurde. Der andere Grund ist der Versuch, einen schwachen Aussagesatz mit diesem starken Satzzeichen ein wenig aufzupimpen. „Ich weiß, was Aufgabe … des Bundeskanzlers … ist“, ist nun ganz sicher kein Befehl.
Schwache Aussagesätze aufzupimpen ist derzeit in Mode, wenn es um die SPD geht. Deutsche Journalisten tun dies aktuell, weil sie eine Harris-Wende heraufbeschwören wollen. Ein Kandidat, der aus dem Nichts auftritt und die überraschende Wende für die Ampel einleitet. Doch diese Versuche sind eine Mischung aus Orakel von Delphi und Gläserrücken auf Tante Ernas Küchentisch. Olaf Scholz ist der Kanzlerkandidat der SPD – und er bleibt es. Die Partei und er sind aneinander gebunden.
Oder vielmehr: wäre zu erwarten. Denn Pistorius wird nicht der Kanzlerkandidat der SPD 2025 sein. Den eigenen Anführer zu stürzen, ist schlicht nicht der Stil der SPD. Die Partei funktioniert hierarchisch: Karrieristen richten sich bedingungslos am jeweils nächst höheren Vorgesetzten aus und ganz oben in der Pyramide weilt Scholz – und nicht das tragische Dreieck der SPD-Führung: Klingbeil, Saskia Esken und Kevin Kühnert.
Die Partei verfügt auch nicht gerade über einen üppig gefüllten Geschenketeller an talentierter Führungsreserve. Vielmehr geht es um Schrottwichteln. Das hat nichts mehr gezeigt als die Direktwahl um den Parteivorsitz im Jahr 2019. Fast ein halbes Jahr hat sich die SPD die Frage gestellt, welche Person charismatisch und inhaltlich gefestigt ist, um die Partei zu führen. Die Antwort lautete Saskia Esken. Kannste nicht erfinden.
Es ist schon schlimm genug, „Spitzengenosse“ zu sein, wenn Esken diese Spitze anführt. Noch schlimmer ist es, in einer Basiswahl von Esken geschlagen zu werden. Genau das ist Olaf Scholz passiert, der zusammen mit der späteren Bauministerin Klara Geywitz auf Platz zwei gelandet war. Eigentlich hätte er da – so wie jetzt – nicht mehr für ein Amt in Frage kommen dürfen.
So hat die SPD 2021 einen überraschenden Wahlsieg eingefahren – und Wahlsiege gelten in der Partei was. Zumindest galten sie. In früheren Tagen konnte in der SPD niemand etwas werden, der nicht seinen Wahlkreis gewonnen hat. Mittlerweile sind die Genossen dazu übergegangen, an Personal festzuhalten und es sogar noch zu befördern, wenn es herbe Niederlagen zu verantworten hat: Katarina Barley, Nancy Faeser, Frank-Walter Steinmeier, Heiko Maas oder Hubertus Heil. Um nur einige zu nennen. Nicht mehr auf Sieger zu setzen, sondern Verlierer an der Macht zu halten, ist einer der wichtigsten Gründe, warum die SPD es heute als Wahlsieg feiert, wenn sie etwas mehr als halb so viele Stimmen erreicht wie 23 Jahre zuvor.
Ein bisschen Wahlsieg von 2021. Ein wenig „Wir stürzen keine Vorsitzende“ und dann noch etwas, Pistorius wird auch nicht mehr so beliebt sein, wenn er erstmal ein wenig bekannter ist. Das reicht im Prinzip schon, um Scholz an der Macht zu halten. Doch es kommt noch ein Paradox dazu: Die Stärke des Kanzlers ist seine Schwäche.
Die deutschen Kurfürsten haben sich im ausgehenden Mittelalter und in der einsetzenden Renaissance zunehmend schwache Kaiser ausgesucht. Das hat ihre eigene Macht gemehrt. Boris Pistorius wäre ein Kanzler, der strikt führen würde. In seinem Fall würde das bedeuten: ganz sicher bedingungslose Unterstützung der Ukraine, konsequente Aufrüstung und mutmaßlich auch eine konsequentere Verhinderung der illegalen Einwanderung. Das macht Pistorius zum Albtraum von Parteilinken wie Esken oder Kühnert.
Dann schon lieber Scholz, den man als mittelalterlichen Kaiser Olaf den Schwächlichen nennen würde. Ein Kanzler, der Karl Lauterbach im Amt belässt, obwohl unter dem Gesundheitsminister die Beiträge für Kranken- und Pflegeversicherung explodieren. Oder Nancy Faeser, unter der Messerangriffe und islamistischer wie linker Terror freie Fahrt haben, während sie das Vereinsrecht missbraucht, um unliebsame Medien zu verbieten. Oder Svenja Schulze, die das Geld der deutschen Steuerzahler in der Welt verteilt, um etwa Radwege in Peru bauen zu lassen.
Das alles und noch viel mehr lässt Olaf Scholz geschehen. Weil er weiß, dass seine Schwäche seine Stärke ist und ihn die Parteilinken deswegen dulden. Egoistisch, ja – aber strategisch durchaus schlau. Es gibt noch einen zweiten Grund, warum die Linken in der Partei Scholz weiterhin mittragen. Aus ihren Reihen kommen nur Kandidaten wie Saskia Esken. Die gewinnt vielleicht Direktwahlen in der SPD – aber außerhalb einer Partei, die zum Verliererkult übergegangen ist, ist Esken nicht durchsetzbar.
„Ich weiß, was Aufgabe des SPD-Vorsitzenden, des Bundeskanzlers, der gesamten SPD-Führung ist!“ Aus solchen Sätzen von Klingbeil orakeln Journalisten jetzt schon die Harris-Wende in der Bundesregierung herbei. Sie lesen zwischen den Zeilen. Suchen also im Nichts. Fair enough. Wo sollte man bei einem Lars Klingbeil sonst suchen?