Tichys Einblick
George Orwells „1984“ als Gebrauchsanleitung

„Bürgerrat“ empfiehlt Meinungskontrolle – und Nancy Faeser dankt

Ein dubios zusammengecastetes Gremium wünscht sich von der Regierung verpflichtende Bürgerbelehrung, Medienaufsicht und Internet-Kontrolle – alles in allem: einen autoritären Staat

picture alliance / dts-Agentur

Am 12. September 2024 erfuhr die deutsche Öffentlichkeit von der Existenz eines bisher weitgehend unbekannten Gremiums, das Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen will: das „Forum gegen Fakes – gemeinsam für eine starke Demokratie“. Laut Eigendefinition handelt es sich um „ein deutschlandweites Beteiligungsprojekt der Bertelsmann Stiftung in Kooperation mit dem Bundesministerium des Innern und für Heimat, der Stiftung Mercator und der Michael Otto Foundation for Sustainability. Das Projekt wird unterstützt durch das Nachrichtenportal t-online und die Initiative #UseTheNews“. Ein 120köpfiger „Bürgerrat“ des „Forums gegen Fakes“ überreichte Innenministerin Nancy Faeser in der vergangenen Woche Empfehlungen, um „Bürger über die Gefahren von Desinformation aufzuklären“. Etliche der Ratschläge richten sich an den Staat, der die Bürger über die Gefahren vorgeblich falscher Informationen zu belehren hat – was bedeutet, dass er auch offiziell entscheiden soll, was als richtig oder falsch gilt. Wer diesem Gesellschaftsbild nachhängt, will vom mündigen Bürger offenkundig nichts wissen. Die „Handlungsempfehlungen“ lesen sich folglich so, als hätte der Bürgerrat George Orwells „1984“ als Gebrauchsanleitung verstanden.

Aus der Online-Broschüre der Bertelsmann-Stiftung zu dem Rat und seinen Schlussfolgerungen geht nicht hervor, auf welchem Weg die 120 Teilnehmer zu ihrem Posten kamen, und wie der Rat genau arbeitete. Dort heißt es: „Die Losversammlung war nach den Kriterien Alter, Geschlecht, regionale Herkunft, Bildungsgrad und Migrationshintergrund ein Abbild der Bevölkerung. Der Bürgerrat hatte am 15. März 2024 seine Arbeit aufgenommen. Zusätzlich hatte der Bürgerrat die Möglichkeit, sich bei Fragen mit Expertinnen und Experten auszutauschen.“ Weder erfährt der interessierte Leser, woher die Daten zu dem Losverfahren stammen, noch gibt es einen Hinweis auf die Identität der zugezogenen Experten und zur Methode ihrer Bestellung. Das „Achimer Kreisblatt“ schreibt über den Bürgerrats-Teilnehmer Benjamin Bäuml aus Achim in NRW: „‘Das hört sich cool an!‘ – so reagiert der Vertriebsmitarbeiter eines IT-Unternehmens, als er vor wenigen Monaten einen Anruf von einem Marktforschungsinstitut bekommt. Denn die Erklärung zu dem Projekt gefällt dem Achimer. Desinformation ist in Deutschland schon lange ein Problem – und weil er sich besonders für die Arbeit der großen Medienhäuser interessiert, mischt Bäuml im Rahmen der Gruppenarbeiten in der Bundeshauptstadt zum Thema Journalismus mit.“ Anruf von Marktforschern, prompte Zusage: das klingt bemerkenswert glatt. Wie viele lehnten eine Teilnahme ab, weil sie aus Arbeits- und Familiengründen nicht ohne weiteres über mehrere Tage mit anderen beratschlagen können? Wie beeinflussten diese Umstände die Zusammensetzung des Forums? Auch dazu erfährt man nichts.

Nicht nur bei den Experten, sondern auch den Bürgerräten selbst herrscht keine Transparenz: die Bertelsmann-Stiftung veröffentlicht zwar die Namen der meisten Ratsmitglieder, allerdings ohne Angaben zu Wohnort und Beruf, teilt aber mit, dass 27 Räte ungenannt bleiben wollten. Warum mehr als 20 Prozent der beratenden Bürger die Anonymität vorziehen, dazu gibt es keine Erklärung. Noch merkwürdiger mutet die Definition des Begriffs „Desinformation“ an, wobei auch unklar bleibt, von wem sie eigentlich stammt. Beispielsweise fallen für den Bürgerrat „verkürzte Zitate“ und „fehlerhafte Statistiken“ unter „Desinformation“. Nun liegt es in der Eigenschaft eines Zitats, dass es grundsätzlich die Verkürzung eines größeren Textes darstellt. Irgendjemand kann immer der Ansicht sein, daraus hätte länger zitiert werden müssen. Was fehlerhafte Statistiken und überhaupt Zahlen angeht: hier müsste sich vor allem das öffentlich-rechtliche Fernsehen warm anziehen. Erst vor kurzem präsentierte beispielsweise der „Bericht aus Berlin“ ein Säulendiagramm zu einer Wahlumfrage, in der der 15-Prozent-Balken der SPD über den 17-Prozent-Balken der AfD deutlich herausragte. Ebenfalls zu „Desinformationen“ rechnet der Bürgerrat (oder die Bertelsmann-Stiftung?) „tendenziöse Behauptungen“. Nur: jeder Kommentar in der Presse lässt sich je nach Blickwinkel als „tendenziöse Behauptung“ einordnen. Bei Behauptungen handelt es sich in vielen Fällen schlicht um Meinungen – und die genießen bis auf sehr wenige Ausnahmen den Schutz des Grundgesetzes.

Eine etwas andere, aber kaum weniger verstörende Definition verwendet der Bürgerrat in seinem konkreten Vorschlag an die Regierung, Desinformation juristisch zu verfolgen. „Die Bundesregierung möge prüfen“, lautet die Empfehlung, „ob auf Grundlage der Definition von Desinformation eine strafrechtliche Verfolgung oder anderweitige Sanktionierung möglich ist. Desinformation wird definiert als ‚gezielte Falschinformation, die verbreitet wird, um Menschen zu manipulieren. Ziel ist es, öffentliche Debatten zu beeinflussen, die Gesellschaft zu spalten sowie den Zusammenhalt und die Demokratie zu schwächen‘. Der Rat geht offenbar ganz selbstverständlich von dem Ideal einer Gesellschaft aus, die „zusammenhält“, und in der Meinungsstreit nicht etwa als Essenz der Demokratie, sondern als „Spaltung“ gilt. Aber Desinformation als ‚gezielte Falschinformation, die verbreitet wird, um Menschen zu manipulieren“ und „öffentliche Debatten zu beeinflussen“ – diese Begriffsbestimmung passt immerhin perfekt auf die Story der teilweise staatlich finanzierten Plattform „Correctiv“ über eine angebliche Wannseekonferenz 2.0 in Potsdam. Die auf Behauptungen und Suggestionen gebaute Geschichte verfolgte ganz offen das Ziel, ihre Leser zu manipulieren und die öffentliche Debatte zu beeinflussen. Fabrikationen wie die von „Correctiv“ will der „Bürgerrat“ allerdings ausdrücklich nicht bekämpfen, wie ein anderer Vorschlag zeigt. Er lautet: „Wir empfehlen, ein Desinformationsranking von Aussagen politischer Akteurinnen und Akteure während des Zeitraums des Wahlkampfes einzuführen. Das Ranking soll von einem gemeinwohlorientierten, unabhängigen Medienhaus/Kollektiv (beispielsweise Correctiv) aus kontinuierlich gesammelten Daten erstellt werden. Dieses Ranking wird rechtzeitig (2 Wochen) vor den stattfindenden Wahlen medienübergreifend veröffentlicht. Im Ranking sollen öffentliche politische Aussagen ausgewertet werden. Diese Öffentlichkeit umfasst insbesondere Äußerungen in den Parlamenten, Print- und Sozialen Medien sowie TV und Radio.“ Die Idee, eine mit Staatsgeld versorgte Organisation, die ausweislich mehrerer Gerichtsurteile https://www.tichyseinblick.de/daili-es-sentials/oberlandesgericht-tagesschau-ndr-falschbehauptung-correctiv/ manipulative und unbelegte Behauptungen verbreitete, zum Wächter über andere Medien zu machen, zeigt schon sehr deutlich: Dem von Bertelsmann- und Mercator-Stiftung aufgebauten Gremium geht es nicht um die Bekämpfung von Desinformation, sondern um Kontrolle der öffentlichen Kommunikation.

Es kommt noch besser: eine weitere Empfehlung lautet, ein „freiwilliges Siegel für qualitativen Journalismus“ zu schaffen, wobei unklar bleibt, wer es verleihen soll. Eine „unabhängige Stelle“ jedenfalls, vermutlich so transparent und repräsentativ wie der Bürgerrat selbst. Bei einer durch „Correctiv“ erstellten Liste der Desinformation und einem Gütesiegel für Medien machen die Bürgerräte nicht halt. Sie schlagen außerdem eine ausdrücklich verpflichtende Schulung der Bürger vor, und zwar in Gestalt von Belehrungen bei Elternabenden. Zur Begründung heißt es: „Erwachsene sind besonders schwer zu erreichen, da sie oft nicht mehr zur Schule gehen und ihre Meinungen gegebenenfalls verhärtet sind. Um genau diese Bevölkerungsgruppe dennoch zu erreichen, können verpflichtende Maßnahmen dabei helfen, die Diskussionsbereitschaft zu erhöhen und gleichzeitig wichtige Kompetenzen zu vermitteln.” Auch Auszubildende und Studenten sollen künftig verpflichtende Kurse zu dem belegen müssen, was der Bürgerrat und seine Experten für „Desinformation“ halten. Auch die Journalisten selbst, so schlägt es der Bertelsmann-Rat vor, erhalten künftig Anleitung von Staats wegen: „Es wird eine Stabsstelle Desinformation in der Pressestelle des BMI eingerichtet, die den BMI-Presseverteiler nutzt, um alle Medienschaffenden regelmäßig zum Thema Desinformation zu versorgen.“

Die Ideen des Rats zum Gesellschaftsumbau beschränken sich nicht auf Journalisten und Medien. Das Gremium nimmt auch die Plattformen im Netz und damit die Mehrheit der Bürger in den Blick. Denn die sollen künftig nicht mehr einfach ihre Meinung auf X, Facebook oder Instagram veröffentlichen dürfen, sondern nur noch unter den Bedingungen eine Art Vorzensur. „Vor dem Posten soll es eine angemessene Bedenkzeit (2–5 Minuten) für alle Inhalte auf Social-Media-Plattformen geben. Innerhalb dieser Bedenkzeit überprüft eine Kl den Inhalt auf mögliche Desinformation“, so die Empfehlung, „beispielsweise im Hinblick auf Schlagwörter, welche auf sensible Themen (wie beispielsweise Wahlbeeinflussung, Migration) hinweisen.” Sollte die KI etwas Inkriminierendes erkennen, und der Nutzer es trotzdem posten, würde die Meinungsäußerung dann den öffentlichen Stempel „Desinformation“ erhalten. Migration gehört also von vornherein zu „sensiblen Themen“. Und was bedeutet „Wahlbeeinflussung“? Im Wahlkampf versuchen alle teilnehmenden Parteien und ihre Anhänger, auf Bürger und damit den Ausgang der Wahl Einfluss zu nehmen. Offenbar soll das von Fall zu Fall nicht mehr selbstverständlich sein.

Staatliche Aufsicht über Medien, Pflichtschulungen für Bürger, Künstliche Intelligenz (von wem eigentlich programmiert?), die Meinungsäußerungen bei einer bestimmten Wortwahl brandmarkt, ministerielle Anleitung für Journalisten – durch die Empfehlungen des zusammengecasteten Rats weht ein Hauch von Nordkorea.

Dass Faesers Innenministerium sich an einem Verfahren beteiligt, in dem nicht gewählte Ratsmitglieder Vorschläge ausarbeiten, die sich massiv gegen das Grundgesetz richten, wirkt allein schon skandalös. Die Ministerin hätte wenigstens bei der Übergabe der „Empfehlungen“ auf Distanz gehen können. Das tat sie allerdings nicht. „Wenn es um Maßnahmen gegen Desinformation geht, dann geht es um nichts Geringeres als um den Schutz unserer Demokratie“, erklärte sie, als sie die von der Bertelsmann-Stiftung zusammengestellte Broschüre entgegennahm: „Fremde Staaten, insbesondere Russland, versuchen mittels Desinformation und Propaganda, das Vertrauen der Bevölkerung in unser demokratisches System und seine Institutionen zu untergraben. (…) Ich danke allen Beteiligten für das freiwillige und ehrenamtliche Engagement. Wir werden die Empfehlungen jetzt auswerten und prüfen, inwieweit sie in die weitere Arbeit des BMI in diesem Themenfeld einfließen können.“

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