Tichys Einblick
Irrer geht’s nimmer

Ab 2025 höhere Kassenbeiträge bei niedriger Wahlbeteiligung?

Um die Verteilung der Finanzmittel auf die Krankenkassen „gerechter“ zu machen, will das Bundesamt für Soziale Sicherung regionale Wahlbeteiligungen berücksichtigen. Die Idee stammt aus dem Instrumentenkasten von Phantasten oder Ignoranten – abgesehen von der Absurdität des undemokratischen Ansatzes. Von Lothar Krimmel

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Zugegeben: den „morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich“ in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) verstehen nur wenige Experten. Der von diesen Eingeweihten fast schon liebevoll „Morbi-RSA“ genannte Mechanismus verteilt die im sogenannten „Gesundheitsfonds“ bundesweit gesammelten Kassenbeiträge der Versicherten auf die einzelnen Krankenkassen. In der Theorie sollen auf diese Weise die unterschiedlichen Risikostrukturen der einzelnen Krankenkassen ausgeglichen werden. Zum Beispiel erhalten Kassen mit höheren Anteilen von alten oder kranken Versicherten entsprechend höhere Ausgleichszahlungen aus dem Gesundheitsfonds.

Seit Begründung des Gesundheitsfonds im Jahr 2009 wurde versucht, durch immer neue Modifikationen und Ergänzungen die Verteilung der Finanzmittel aus dem Gesundheitsfonds noch „gerechter“ zu machen, also die Unterschiede in den Risikostrukturen der fast 100 Krankenkassen noch besser zu berücksichtigen. Seit 2021 sollen auch regionale Unterschiede in diese Ausgleichsrechnungen einbezogen werden.

Wie nunmehr bekannt wurde, hat sich das hierfür zuständige „Bundesamt für Soziale Sicherung“ (BAS) für 2025 einen besonderen Clou ausgedacht. Erstmals sollen für dieses sogenannte „Fein-Tuning“ der Finanzmittel-Verteilung auch die Unterschiede in der Wahlbeteiligung auf Landkreisebene berücksichtigt werden, und zwar in Bezug auf die Bundestagswahlen 2021.

Bundesamt beklagt „Majestätsbeleidigung“

Erstaunt nimmt man jetzt in den Bonner Amtsstuben zur Kenntnis, dass dieses absurde Vorhaben hohe Wellen schlägt. In einer „Klarstellung“ vom 9. September geht man in die Offensive und verurteilt die anscheinend als Majestätsbeleidigung wahrgenommene Kritik. Wörtlich heißt es dort, das Amt komme seinem gesetzlichen Auftrag „fehlerfrei“ nach. Die Diskussion solle daher „faktenorientiert geführt“ und nicht „interessengeleitet missbraucht“ werden. Ansonsten bestehe die Gefahr, „das BAS in unredlicher Weise zu diskreditieren.“

Und dann wird der spätestens seit den Klima- und Corona-Turbulenzen sattsam bekannte „Folgt-der-Wissenschaft“-Hammer ausgepackt, um die vermuteten Querdenker und Verschwörungstheoretiker zum Schweigen zu bringen: Die Einbeziehung der Wahlbeteiligung sei – so heißt es – „auf Grundlage von wissenschaftlichen Studien erfolgt“.

Schaut man aber nun in das damit gemeinte Gutachten des „Wissenschaftlichen Beirats“ von 2018, so werden dort auf Seite 135 äußerst steile Thesen zum Zusammenhang von Wahlbeteiligung und Gesundheitsausgaben ausgebreitet. Erstens könne das sogenannte „regionale Sozialkapital“ mit der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen assoziiert sein. Und zweitens stehe die Wahlbeteiligung in einem engen Verhältnis zu diesem „Sozialkapital“ in Gestalt von „sozialer Vernetzung, Kooperationsbereitschaft und Vertrauen in der Bevölkerung“.

„Wissenschaft“ zerlegt sich selbst

Mit anderen Worten: Wo die Wahlbeteiligung niedrig ist, gibt es wenig „Sozialkapital“, also wenig soziale Vernetzung, wenig Kooperationsbereitschaft und wenig Vertrauen in der Bevölkerung. Dies wiederum habe Auswirkungen auf die regionalen Gesundheitsausgaben, da die „wenig Vernetzten“ und die „wenig Kooperationsbereiten“ auch weniger Gesundheitsleistungen in Anspruch nähmen. Daher bräuchten ihre Krankenkassen dann auch weniger Mittel pro Versicherten.

Doch für die erste These, also dass überhaupt ein Zusammenhang zwischen „Sozialkapital“ und Gesundheitsausgaben besteht, wird nur eine einzige Quelle aus dem Jahr 2009 angegeben. Dort allerdings kamen die beiden Autorinnen nach Auswertung von fast 2.400 Studien zu dem Ergebnis, dass eben gerade keine klaren Schlussfolgerungen hinsichtlich solcher Zusammenhänge möglich sind. Dies ist auch nicht verwunderlich, weil „gut vernetzte“ und „kooperationsbereite“ Bürger vielleicht eine geringere Krankheitslast aufweisen, aber andererseits besseren Zugang zu Gesundheitsleistungen und vielleicht auch höhere Ansprüche haben.

Und bei der zweiten These, dass eine niedrige Wahlbeteiligung auf ein niedriges „Sozialkapital“ hinweise, wird es noch absurder. Die einzige vom „Wissenschaftlichen Beirat“ hierzu genannte Arbeit belegt nämlich exakt das Gegenteil. Denn die Studie von Atkinson und Fowler aus dem Jahr 2014 weist anhand der sozialen Aktivitäten zu den über das Jahr verteilten Heiligenfesten in Mexiko nach, dass die enorme Zunahme solcher sozialer Aktivitäten und damit des „Sozialkapitals“ anlässlich dieser Heiligenfeste zu einer Reduzierung der Beteiligung an den im zeitlichen Zusammenhang stattfindenden Wahlen in der Größenordnung von etwa drei Prozent führen. Die Autoren wollen damit gerade denjenigen entgegentreten, die ein hohes „Sozialkapital“ mit einer hohen Wahlbeteiligung in Verbindung bringen wollen. Mit anderen Worten: Im Gutachten des „Wissenschaftlichen Beirats“ wird exakt das Gegenteil von dem behauptet, was die zum Beleg genannte Studie aussagt.

Unwillkürlich fühlt man sich an den amtierenden Gesundheitsminister erinnert. Karl Lauterbach schafft es bekanntlich in unnachahmlicher Manier, nicht nur im selben Satz sowohl für als auch gegen etwas zu sein. Er liest auch aus den von ihm zitierten Studien stets etwas heraus, was kein anderer so verstanden hat und was teilweise sogar im diametralen Gegensatz zum tatsächlichen Studienergebnis steht.

Wahlbeteiligung folgt eigenen Regeln

Nun ist unbestritten, dass die bundesweiten und regionalen Ausgleichsmechanismen beim Morbi-RSA nicht unmittelbar zu Leistungskürzungen bei einzelnen Krankenkassen führen. Da liegt das Bundesamt in seiner Pressemitteilung richtig. Dennoch kann der neue Faktor „Wahlbeteiligung“ erhebliche Verwerfungen mit sich bringen. Die AOK Sachsen-Anhalt hat errechnet, dass den Krankenkassen in Sachsen-Anhalt auf diese Weise 50 Millionen Euro pro Jahr entzogen würden. Damit würde die Berücksichtigung dieses absurden Kriteriums zwangsläufig zu Erhöhungen des Zusatzbeitrags für die Versicherten in Sachsen-Anhalt führen.

Und es kann noch schlimmer kommen: Denn natürlich stehen die Krankenkassen im Wettbewerb um Versicherte und konzentrieren sich in ihren Werbebotschaften vor allem auf „gute Risiken“. Künftig wären also „gut vernetzte“ Versicherte in Regionen mit hohen Wahlbeteiligungen noch attraktiver für die Kassen. Denn sie kassieren Ausgleichszahlungen für solche wahlaffinen Versicherten, obwohl diese vielleicht so gesund sind, dass sie sogar eher weniger Leistungsausgaben verursachen. Dann wiederum würden die Gern-Wähler auch noch mit sinkenden Zusatzbeiträgen belohnt. Ein einfacheres Bonus-System fürs Wählengehen kann man sich kaum vorstellen.

Und das „Feintuning“ muss ja nicht bei der schlichten Wahlbeteiligung stehenbleiben. Sicher gibt es bald die ersten Studien, die bestimmte Parteipräferenzen mit der Höhe von Gesundheitsausgaben in Verbindung bringen. Wer AfD wählt, hat bestimmt ein niedriges „Sozialkapital“, ist also „nicht kooperativ“ gegenüber dem Verfassungsschutz und hat wenig bis „kein Vertrauen“ in die Ampel. Also: Folgt der Wissenschaft und lasst die Kassen für ihre AfD-Wähler bluten!

Scherz beiseite: Mit der Wahlbeteiligung in einzelnen Landkreisen wird erstmals ein Kriterium aus der politischen Ebene in die Steuerung von Finanzströmen der gesetzlichen Krankenversicherung eingeführt. Aber Wahlbeteiligungen folgen – im Gegensatz zu den absurden Annahmen des „Wissenschaftlichen Beirats“ – in der Regel völlig anderen Gesichtspunkten jenseits aller Korrelationen mit Gesundheitsausgaben. Gerade in Ostdeutschland war eine geringere Wahlbeteiligung 2021 dadurch erklärbar, dass die potenziellen Wähler von den „Altparteien“ komplett bedient waren, aber der vom Mainstream unisono verfemten AfD dann doch nicht ihre Stimme geben wollten. Nicht wenige Politiker der Altparteien riefen potenzielle AfD-Wähler sogar zur Wahlenthaltung auf.

Die Landtagswahlen vom 1. September 2024 haben dann aber gezeigt, dass sogar ein gegenteiliger Effekt möglich ist. Der unbedingte Wille, der Berliner Ampel einen Denkzettel zu verpassen und eventuell sogar die verhasste Grünen-Partei aus den Parlamenten zu kegeln, hat zu einer Rekord-Wahlbeteiligung geführt. Das würde in der Logik der „Wissenschaftler“ des BAS dazu führen, dass die Sachsen und Thüringer künftig mit sinkenden Zusatzbeiträgen belohnt würden. Irrer geht´s nimmer.

Gerade diese letzten Wahlen haben bewiesen, dass die Idee, das Kriterium der Wahlbeteiligung zum „Feintuning“ des Morbi-RSA heranzuziehen, aus dem Instrumentenkasten von Phantasten oder Ignoranten stammen muss. Wer auch immer aus dem Kreis des „Wissenschaftlichen Beirats“ dafür verantwortlich ist: Er sollte entweder sofort freiwillig seinen Hut nehmen oder umgehend von den aufsichtsführenden Ministern, Karl Lauterbach und Hubertus Heil, gefeuert werden. Und Frank Plate, der Chef des BSA, am besten gleich mit. Denn wer dermaßen unsensibel in einer ebenso überheblichen wie uneinsichtigen Diktion wissenschaftlich absurde und letztlich auch unethische Maßnahmen verteidigt, hat auf diesem Posten nichts verloren.

Es stellt sich die Systemfrage

Dieser neuerliche Skandal um die immer komplizierter werdende Verteilung der Finanzmittel für die Krankenversorgung ist auch geeignet, das System der gesetzlichen Krankenversicherung zu diskreditieren. Mit anderen Worten: Es stellt sich die Systemfrage. Über viele Jahrzehnte galt in Deutschland als gesichert, dass eine gesetzliche Krankenversicherung einer staatlichen Gesundheitsversorgung überlegen ist, da in einem reinen Staatssystem die Gesundheit in permanenter Konkurrenz zu anderen staatlichen Aufgaben wie Verteidigung, Bildung oder Straßenbau steht. Die Berichte über Auswüchse rationierter Krankenversorgung in nationalen Gesundheitssystemen wie Großbritannien, Italien oder Spanien waren und sind abschreckend.

Doch inzwischen verschwimmen diese Unterschiede zusehends. Denn der deutsche Staat greift via Gesetzgebung immer tiefer in das bislang selbstverwaltete GKV-System ein. Bestes Beispiel ist Karl Lauterbachs neueste Erfindung eines „Gesundes-Herz-Gesetz“, mit dem er allen Ernstes die 734 Mitglieder des Deutschen Bundestags über bestimmte Risiko-Grenzwerte für die Verordnung von Arzneimitteln und über das Screening auf bestimmte Laborparameter des Fettstoffwechsels abstimmen lassen will. Und auch auf der Finanzierungsseite driftet das System durch den wachsenden Anteil des Bundeszuschusses immer stärker in Richtung staatliches Gesundheitswesen.

Gleichzeitig wird die Verwaltung eines Systems mit Dutzenden unterschiedlicher Krankenkassen immer komplexer. Mit anderen Worten: Die Steuerung dieser überkomplexen Struktur verbraucht stetig steigende finanzielle und personelle Ressourcen. Mit dramatischen Folgen für die Präferenzen angehender Mediziner. Immer mehr junge Ärzte fliehen aus einer komplett überregulierten Krankenversorgung und wechseln in den sich immer weiter aufblähenden Regulierungs- und Kontrollapparat. Dort darf man dann als Schreibtisch-Arzt mit geregelten Arbeitszeiten die Daumenschrauben noch weiter anziehen für diejenigen ärztlichen Kollegen, die sich noch immer dem täglichen bürokratischen Wahnsinn in Klinik und Praxis aussetzen. Auf diese Weise steuert das System in einer sich beschleunigenden Abwärtsspirale unaufhaltsam in Richtung Implosion.


Dr. med. Lothar Krimmel, Facharzt für Allgemeinmedizin, war von 1992 bis 2000 Geschäftsführer der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und ist damit ein genauer Kenner des Medizinsektors.

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