Tichys Einblick
„Le centreville, c’est ailleurs“

Karim Mokhtari – Stimme der Anderen

In Frankreich entfernen sich immer mehr Migrantenviertel von der Mehrheitsgesellschaft. Jugendkriminalität ist das Symptom für einen Zwiespalt, der dort sehr viel tiefer sitzt.

Screenshot: Youtube

Wie Kinder der zweiten und dritten Migrantengeneration zum Scheitern der Integration beitragen, zeigt sich am Beispiel der Lebensaufgabe des „gewendeten“ Sozialaktivisten Karim Mokhtari.

Das Markenzeichen einer ganzen Gruppe von Tätern: Jung, ungebildet, desillusioniert, Hass auf die Mehrheitsgesellschaft, Drogenkarriere, Gefängnisaufenthalt. Sie liefern durch ihre Wut und ihre Taten das schrille, offenkundige Indiz dafür, dass etwas faul ist in Europa. Denen, die einer neuen „Rassentrennung“ das Wort reden, liefern sie immer neue Argumente.

Er hat es geschafft. Karim Mokhtari, Kind einer Affäre zwischen einem Algerier und einer weißen Französin, ist vom Ex-Knacki und kleinen Ganoven zum Sozialarbeiter aufgestiegen, betreibt eine eigene Website und wird auch zum Elend und Abrutschen der französischen Vorstädte interviewt. Vom weißen Stiefvater gedemütigt und zum Dieb erzogen, führte ihn der Weg über eine Beteiligung an einem Raubmord direkt in eine 10-jährige Gefängnisstrafe. Redemption (Erlösung) heisst seine Internet-Seite, mit der er besonders auf die enormen Defizite der Gefängnisse in Frankreich aufmerksam machen will, denen er knapp entrinnen konnte.

Der Geläuterte, der sechs Jahre in französischen Gefängnissen absaß, verhehlt nicht, wie seine kriminelle Karriere verlief. Heute würde er vor staunenden Jugendlichen in den Gefängnissen Vorträge für die Wärter halten. Die „réinsertion“, also seine Wiedereingliederung in die Gesellschaft als Coach und Berater der Vollzugsorgane und Sozialexperten, sei gelungen, so sagt er. Dazu hat sicher auch sein familiäres Glück mit Ehefrau und zwei Kindern erheblich beigetragen. Er ziehe die Motivation für seine Kampagne gegen die unhaltbaren Zustände in französischen Gefängnissen und die Jugendkriminalität aus der Liebe zu seinen Kindern, denen so ein Schicksal niemals zu Teil werden solle.

Augen zu
Paris brûle
Es beginne damit, dass man nicht dazugehöre, vorgeblich weil man nicht genug Geld habe, weil die Anderen einen immer schneiden würden, oder weil man keine ordentliche Ausbildung erhalten habe. Dann folge der Abstieg, befördert von einem bildungsfernen, prekären Milieu der Gelegenheitsdiebe, Arbeitslosen und Hilfsarbeiter, häufig mit Migrationshintergrund. Frankreich hat das, was Deutschland noch bevorstehen mag, bereits durchgemacht: Den Versuch, eine enttäuschte Gruppe von Zuwanderern in eine weiße Mehrheit zu integrieren oder einzubürgern. Damit ist die Grande Nation bis heute gescheitert, bestenfalls hat man das Problem in die „bidonvilles“ abgeschoben (siehe die Grafik im Link).

Die gemeinsame Geschichte der Franzosen und ihrer Zuwanderer begann denkbar schlecht. Nach der Implosion des französischen Kolonialreichs in Nordafrika Ende der 50er und zu Beginn der 60er Jahre gab es eine gewaltige Bevölkerungsverschiebung. Einerseits die großteils weißen, seit 1830 ansässigen Eliten, die des Landes verwiesen wurden (Koffer oder Sarg lautete die Drohung), andererseits viele loyal gebliebene dunkelhäutige Nordafrikaner, die sich vor der Rache der Revolution ins alte Mutterland retteten. Der (1.) Algerien (Bürger)Krieg war eine ungeheuer grausame Auseinandersetzung, die Fronten nach über 100 Jahren „Algérie Francaise“ sehr verschwommen.

Francois Mitterand war der Präsident, der sich mit dem Aufruhr in den Banlieues, den no-go-Gegenden, zuerst in der Hauptstadt Frankreichs konfroniert sah. Von den kaum als „Speckgürtel“ zu bezeichnenden Vorstädten um Paris herum, weit entfernt von den auf den Champs d’Elysée flanierenden Touristen, ziehen sich die Risse in der Gesellschaft bis in die beschaulichen Orte am Mittelmeer.

Es sieht nach den regelmäßig wiederkehrenden Unruhen dort aus wie in manchen Teilen Syriens, nur Schüsse sind bisher nicht gefallen. Der Staat verliert den Kampf auf der Straße gegen die Jugendbanden, denen die Gewalt nur noch grössere Kräfte zu verleihen scheint.

Karim Mokhtari’s radikale Forderung: die ideelle Rückeroberung der Stadtteile, in denen heute nicht mehr das Gesetz, die Regeln und die Werte der Französischen Republik, sondern die Rechtlosigkeit regiere, in der der Islam nun als ordnender Faktor übernehme. Er thematisiert die tiefe Kluft, die sich zwischen den Ethnien in Frankreich inzwischen gebildet hat, selten auf seiner Website oder in Interviews mit der Schriftpresse. Ihm liegen die sozialen Unterschiede am Herzen. In diesem Interview mit einer Elsässer PR-Agentur, die sich eigentlich um die Zustände in französischen Gefängnissen und die Wiedereingliederung von Häftlingen drehen soll, wird er allerdings sehr deutlich.

Karim Mokhtari sieht, dass die Jugendlichen mit arabischen Wurzeln sich völlig aus der französischen Gesellschaft zurückziehen und in den neuen Elendsvierteln einer immer mehr vom Islam beeinflussten Lagermentalität anheimfallen. Die, die die gesamte französische Indentität ablehnten, würden davon ausgehen, dass ihnen zwar nicht die französische Justiz, „aber Allah allemal ihre Vergehen vergebe“, so erklärt er deren einfache Logik.

In den ethnisch weitgehend homogenen Vierteln der Migranten lässt es sich leicht in einer selbstgesponnenen, abgetrennten Scheinwelt leben. „Le centreville, c’est ailleurs“. Das Stadtzentrum, das ist woanders, laute die Devise dort. Die andern mögen wegbleiben, man schaffe sich seinen eigenen Platz. Die Rückkehr zum Nationalstaat ist offenbar auch ein tief gehegter Wunsch derer, die die politischen Grenzen der Herkunftsstaaten lange hinter sich gelassen haben.

Die koloniale Vergangenheit lastet schwer wie Blei auf den Beziehungen. Algerier seien sie, die Jungen, die Geschichtsbücher seien alle gefälscht, der Imam sage dies und das, man (der „Bio-Franzose“) möge sie nicht, usw. So stricke man an einer eigenen Legende der Unterdrückung, erklärt Mokhtari.

Er suche oft das Gespräch mit den harten 14 – 18-Jährigen, die weiße Omas im Hausflur erschreckten, harten Rap hörten, shit rauchten und Alkohol tränken. Er habe, da er selbst zu denen gehörte, die mal „eben jemandem auf den Kopf springen und sich dabei nur darüber Sorgen machen, wie man die Schuhe hinterher wieder sauber bekommt“, keine Angst, in die dunklen Hausflure zu gehen, wo die Jugend, die erst um 14 Uhr aufsteht und Drogen vertickt, in den Vorstädten abhängt. Er kenne diese Typen, und wisse, wie er sie ansprechen müsse. Gefragt, was er denn diesen Jungen sage, entgegnet Mokhtari:

„Ihr seid hier, anders als eure Eltern, geboren und bekommt all diese Chancen geboten, dieses Erbe eurer Eltern an neu erschlossenen Möglichkeiten, und ihr werft das einfach weg.“

„Eure Eltern haben die halbe Welt durchquert, um hier ein neues Heim zu finden, warum entehrt ihr ihre Mühe und Arbeit dadurch, daß ihr dieses Land nun ablehnt ?“

„Ihr sagt, dass ihr Euch um Eure Familien kümmern und deshalb mit Drogen handeln müsstet, um am Abend 200 Euro auf den Kühlschrank bei Mama legen zu können – macht ihr Euch keine Gedanken darüber, wieviel Euch die Geldstrafen, Rechtsanwälte und Gerichtskosten später kosten werden ?“

„Ihr seid soviel schlauer als ich, könntet die Bill Gates des Verbrechens sein, baut grosse Netzwerke auf, nur um Blödsinn zu machen, warum widmet ihr diese Fähigkeiten nicht einer sinnvollen, und der Gesellschaft dienenden Tätigkeit ? Die Gesellschaft braucht Euch, und Ihr könntet immer noch im Porsche fahren, der wäre aber ehrlich verdient.“

„Wenn Du glaubst, dass Du nicht gebraucht wirst, kannst Du Zivildienst leisten, in einem Kinderkrankenhaus z.B., dann könntest Du einem Kind helfen, das behindert ist und nicht wie normale Kinder leben kann. Dann würdest Du sehen, dass Du gebraucht wirst.“

Manchmal, wenn er einen der Jungs wiedersähe, Jahre später, wären einige dabei, die ihm zurückschauend Recht gegeben hätten und nun in einem ehrlichen Beruf arbeiten würden.

Aber von sich selbst beklagt er: „La délinquance était non seulement mon mode de vie, mais aussi mon savoir-faire, ma meilleure compétence.“ Kriminalität war meine Lebensweise, beste Fähigkeit, mein know-how.

Der Migrationsmythos, Teil VI
Afrika-Migration: Lernen von Frankreich
In seiner Autobiographie „Rédemption, itinéraire d’un enfant cassé“, die er zusammen mit Charlie Carle verfasst hat, beschreibt Mokthari sehr anschaulich, wie ihn die 6 Jahre, die er in nur 9 qm zubringen musste, fast dazu gebracht hätten, sich vor Verzweiflung einer salafistischen Gruppe anzuschliessen. Das Gefängnissystem Frankreichs sei jedenfalls nicht geeignet, jemanden zu „erretten“. Die Gruppen religiöser Eiferer mit ihren Ritualen sind die wenigen Ruhepunkte, an denen ein junger Häftling Halt und Orientierung im brutalen und entmenschlichten Alltag der Gefängnisse finden kann.

Die salafistischen Insassen erkennen die potentiellen Opfer und benutzen deren Schwäche, um sie für ihre Zwecke gegen einen verhassten westlichen „Feind“ zu rekrutieren. Nur die Verlegung der salafistisch eingestellten Gefangenen in eine andere Anstalt habe Mokhtari vor dem Einstieg in die Szene bewahrt.

Karim Mokhtari anlässlich der Pariser Attentate: « La jeunesse, la drogue, les armes, c’est une réalité dans les banlieues. On fait appel à des marchés parallèles d’armes en provenance des pays de l’Est, d’Afrique… » Jugendliche, Drogen, Waffen – das sei eine Realität in den Vorstädten. Man versorge sich auf illegalen Waffenmärkten mit Ursprung Osteuropa und Afrika.

Mokhtari, der die kommenden Herausforderungen für Frankreich klar wie kein Anderer erkennt, hält zur Entschärfung der Problematik nur mehr staatliches Engagement und Betreuung für effektiv: den Jugendlichen müssten mehr Sozialarbeiter, mehr Jobs und mehr Leistungen angeboten werden, um sie vor dem Abgleiten zu bewahren. In die Zuwanderungsdebatte mischt er sich wohlweislich nicht ein.

Viele „Bio“-Franzosen – aber nicht nur – haben ihre Wahl der Abwehr gegen die ausgemachte Bedrohung bereits getroffen: Marine Le Pen und den FN. Der standhaften Sprachlosigkeit des französischen Staates zum Ausmass der Entfremdung anhand religiöser Linien entziehen sich die englischsprachigen Medien.

Mit einer etwa sechs Millionen zählenden, in Ihrer überwältigenden Mehrheit friedlichen und gesetzesfürchtigen muslimischen Minderheit, aus der aber stellenweise bis zu 70 % der Häftlinge kommen, hat Frankreich ein brennendes und hochaktuelles Problem. Zitat: “France stands out because over half its inmates are estimated to be Muslim, many from communities blighted by poverty and unemployment.”

Emil Kohleofen ist freier Publizist.

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