Tichys Einblick
"Sturmgeschütz der Zensur"

Das Zerrbild im Spiegel

Vom Sturmgeschütz der Demokratie zum Sturmgeschütz der Zensur: Beim einstigen Vorzeigemedium von Rudolf Augstein kracht es intern im Gebälk und die einst prägenden Enthüllungen sucht man mit der Lupe. Stattdessen kämpft man an vorderster Front für die Zensur.

IMAGO, Screenprint via X - Collage: TE

Ein Leitartikel im Spiegel, das hatte mal Gewicht. Und auch wenn man inhaltlich mit der linkslastigen Tendenz schon in der Vergangenheit so seine Probleme haben konnte, bestand wenig Zweifel über die Notwendigkeit solcher Meinungen für eine pluralistische Gesellschaft. Aber wie steht es darum, wenn Leitartikel de facto die Abschaffung des Meinungspluralismus fordern?

So geschehen dieser Tage, als der Spiegel eifrig Applaus spendete für die Abschaltung von X in Brasilien sowie für die Verhaftung des Telegram-Gründers Pawel Durow in Frankreich. Die vorgetragenen Argumente dafür haben mittlerweile allesamt einen Bart: X tue nicht genug zur Bekämpfung von Hassrede und Desinformation, Telegram ermögliche Kindesmissbrauch, und so weiter, und so fort.

Wer aber journalistische Integrität beanspruchen möchte, der sollte nicht auf einem Auge blind sein. Die Tatsache, dass Mark Zuckerberg vor allem auf seiner Plattform Instagram ein massives Problem mit dem „Grooming“, also der gezielten Kontaktaufnahme Erwachsener mit Minderjährigen in Missbrauchsabsicht, hat, wird vom Spiegel nie thematisiert, hatte sich Zuckerberg in der Vergangenheit doch als williger Vollstrecker progressiver Zensur gezeigt.

Auch Gedächtnislücken stehen einem Journalisten nicht gut zu Gesicht, denn während der Spiegel Telegram noch 2021, zur Zeit der Proteste in Weißrussland, als wichtiges Mittel der Zivilgesellschaft zur unabhängigen Vernetzung pries, so geht es Durow 2024 laut Spiegel nur um die „schnöden Geschäftsinteressen“ eine Tech-Milliardärs, der glaubte, über dem Gesetz zu stehen.

Einschränkungen der Meinungsfreiheit durch den Digital Services Act (DSA) werden vom Spiegel nicht abgewogen, sondern beklatscht, die Richter in Brasilien und Frankreich für ihre „neue Entschlossenheit“ gelobt.

Massiver Rückgang der Auflage

So groß die Nähe des Spiegel zum zensurfreudigen Staat auch ist, sie vermag das seit Jahren laufende Rückzugsgefecht des ehemaligen „Sturmgeschützes der Demokratie“ nicht zu kaschieren. Den Relotius-Skandal 2018 versuchte man zwar noch im Spiegel-eigenen Jargon als Einzelfall abzuspielen, doch bereits damals zeigte sich, dass im Zeitalter des Haltungsjournalismus das Stricken von Narrativen schon längst das Zepter von der gründlichen Recherche übernommen hat.

Das Problem ist dabei allerdings, dass man sich auf dieser schiefen Bahn in einer permanenten Stromverschnellung befindet. Wenn es nur gilt, die Realität schönstmöglich umzudeuten, begibt man sich in Konkurrenz mit neuen Formen der Meinungsbildung, im Vergleich zu denen ein Konstrukt wie der Spiegel veraltet und plump erscheint. Wer benötigt noch eine erfundene Spiegel-Reportage, wenn man das Ganze auf sozialen Netzwerken in wesentlich kompakterer und schnellerer Form konsumieren kann?

Das schlägt sich, wie bei fast allen etablierten Medien, mittlerweile auch deutlich in den Auflagen nieder. Im Vergleich zum Höchststand im Jahr 1991, als die Auflage 1,2 Millionen Exemplare betrug, ist man mit knapp 674.000 mittlerweile auf fast die Hälfte gesunken. Im ersten Quartal des Jahres lag man im Einzelverkauf erstmals unter 100.000 abgesetzten Magazinen pro Ausgabe. Das allein mag, angesichts von Digitalisierung, noch nicht so verwunderlich sein, aber da auch die Digitalabos langsamer als geplant wachsen, hat sich der Gewinn seit 2021 mehr als halbiert. Das Magazin Kress berichtet, dass allein in der zweiten Juliwoche nur 48 neue Abos abgeschlossen wurden, während die Zielsetzung zwischen 3000 und 4000 Neuabonemments pro Monat liegt. Auch die digitale Vermarktung vermeldet einen Rückgang von 18 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

All das lässt beim Spiegel zwangsläufig die Alarmglocken läuten, intern ist von einer Strategielosigkeit der Führung die Rede, man vermisse darüber hinaus jene Enthüllungen, die zur „DNA des Spiegel“ gehören. Das ist aber kein Novum. Bereits 2023 nahm Chefredakteur Steffen Klusmann nach einem Konflikt mit der Geschäftsführung den Hut, Nachfolger Dirk Kurbjuweit liegt sich bereits vom ersten Tag an mit seiner ambitionierten Stellvertreterin Melanie Amann in den Haaren.

Reform bedeutet: Alte Meinungen von jungen Gesichtern vortragen lassen

Kurbjuweit selbst, der für seinen „gelegentlich orientierungslosen“ Führungsstil in der Kritik steht, möchte vor allem ein jüngeres Publikum für den Spiegel gewinnen, denn da hapert es. Dabei kämpft er mit ähnlichen Problemen wie eine andere althergebrachte Institution der deutschen Nachkriegsära, die SPD. Denn es sind vor allem Ältere, die den Spiegel nach wie vor religiös konsumieren, die Jugend sucht links nach radikaleren, moderneren Quellen, oder verortet sich – wie Wähleranalysen immer wieder belegen – deutlich rechts vom Spiegel.

Der Lösungsansatz von Kurbjuweit ist dabei vor allem formaler Natur: Unter der Dachmarke „Neo“ sollen junge Redakteurinnen junge Leser für die Spiegel-Sache gewinnen. Gleicher Inhalt, etwas andere Aufmachung. Und auch bei den zu befragenden Experten geht der Mut zur Innovation aus, denn das Hauptproblem des oft im Spiegel abgebildeten Politologen Herfried Münkler ist nicht seine Position, sondern sein Alter. So kommt die Kritik nicht weiter, als die gleiche Meinung nur mit einem jungen (idealerweise weiblichen) Gesicht zu fordern. Auch das ist eine Form von Arroganz gegenüber einer jüngeren Zielgruppe, der man keine eigene Weltsicht zusteht als jene des alternden Leitmediums.

Damit wird sich aber beim Spiegel keine Trendwende hinlegen lassen. Wild um sich schlagend bleibt nur die ideologische Flucht nach vorne. Woche für Woche hangelt man sich verzweifelt von einem provokanten Cover zum nächsten, wobei wechselweise die Klimaapokalypse oder der Weltuntergang von rechts heraufbeschworen werden. Selbst das Magazin Journalist wagte beim Interview mit Kurbjuweit unlängst mehrmals nachzuhaken, ob die disproportionale Gewichtung der Klimathematik im Spiegel nicht Leser vergraule, oder ob man sich beim Spiegel, angesichts der schier unendlichen Gestaltungsmöglichkeiten in der Covergestaltung, nicht wieder eine Trump-Präsidentschaft wünschen müsse.

Doch eine kritische Hinterfragung der eigenen Position kommt natürlich nicht in Frage. Dogmen dürfen beim Spiegel nicht hinterfragt werden, sodass naturwüchsig auch keine tragfähigen Lösungen am Horizont erscheinen. Nur lauter, schriller, dem Progressivismus nach dem Maul reden, lautet die Devise. 1962 legte sich der Spiegel im Rahmen der gleichnamigen Affäre erfolgreich mit dem Staat selbst an und stärkte damit die Pressefreiheit. 62 Jahre später hat sich der Spiegel in das genaue Gegenteil verkehrt und ist zum undifferenzierten Sprachrohr des progressiven Meinungsapparats geworden.

Wenn die Geschäftsführung des Spiegel den einst so prägenden Enthüllungsjournalismus vermisst, dann wird sie diesen nicht ohne eine ideologische Aufweichung der Redaktion zurückgewinnen. Denn es gäbe genügend Skandale aufzuarbeiten, nur liegt dieser Stapel auf der linken Seite des Schreibtisches, die geflissentlich ignoriert wird. Wer stattdessen glaubt, die Leserschaft warte noch immer auf die Vermittlung korrekter Haltung und eines gesellschaftlichen Zerrbilds – in welch jugendlicher Form auch immer –, sollte sich anschnallen, denn die Talfahrt des einst so prestigeträchtigen Mediums wird sich unvermindert fortsetzen.

Mit dem Blick auf internationale Medien, sonst auch voll der Kritik an Elon Musk, zeigt sich sehr deutlich, auf welchem Holzweg der Spiegel sich befindet:

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