Es gilt als Duell zwischen einem der reichsten Technologie-Unternehmer der Welt und einem brasilianischen Bundesrichter, der Einschätzungen zufolge die graue Eminenz seines Landes ist. Dieser Zweikampf dauert schon Monate an und erreichte in dieser Woche einen Gipfelpunkt. Am Freitag hat Alexandre de Moraes, geboren 1968 in São Paulo, seit 2017 Richter am Obersten Bundesgericht in Brasilia, entschieden, dass die Mikroblogging-Plattform X in Brasilien zu sperren sei. Der nationalen Agentur für Telekommunikation (Anatel) ließ er 24 Stunden, um die Sperre durchzuführen, von der 20 Millionen Nutzer betroffen wären. Brasilien ist der viertgrößte Markt für X (ehemals Twitter) weltweit.
Zugleich wurden die brasilianischen Bankkonten von Musks Satelliten-Internetdienst Starlink auf Beschluss von Moraes hin eingefroren. Musk teilte mit, dass Space X (zu dem Starlink gehört) und X „zwei völlig unterschiedliche Unternehmen mit unterschiedlichen Aktionären“ seien und verwahrte sich auch gegen diese Maßnahme.
Das zweite Mal innerhalb einer Woche geht damit ein Justizsystem in massiver Weise gegen ein digitales Medium vor. Erst vor einer Woche war Pawel Durow, der Mitgründer von Telegram, in Frankreich festgenommen worden. Beide Plattformen, Telegram wie X.com, dienen insbesondere dem Austausch, Weiterleiten und Kommentieren von politischen Nachrichten und Neuigkeiten.
Bundesrichter verlangte die Sperrung von Profilen
Der Konflikt zwischen Elon Musk und dem brasilianischen Bundesrichter zieht sich nun schon seit Monaten hin. US-Journalist Glenn Greenwald berichtet, dass Moraes von Musk verlangt habe, die X-Profile brasilianischer Senatoren und Abgeordneter zu sperren. Es soll dabei um hunderte Profile gehen. Als Musk sich mit Hinweis auf die Gesetzwidrigkeit des Anliegens weigerte, habe Moraes mit der Verhaftung von Mitarbeitern gedroht. Die von Moraes verhängte Geldstrafe zahlte Musk nicht. Mitte August zog Elon Musk alle Mitarbeiter aus Brasilien ab und schloss die X-Büros in dem Land. Musk wirft dem Richter vor, konservative Stimmen auf X zensieren zu wollen.
Moraes selbst ist dabei durchaus nicht unumstritten: Politiker und Privatleute werfen ihm Vetternwirtschaft, politische Einmischung, Machtmissbrauch, sogar die Errichtung einer „konstitutionellen Diktatur“ vor. So habe er willkürliche Festnahmen wegen Social-Media-Postings angeordnet. Laut Greenwald regiert Moraes im Grunde Brasilien („essentially runs the country“).
Am Mittwoch verlangte Moraes von Musk, binnen 24 Stunden einen neuen gesetzlichen Vertreter in Brasilien zu benennen. Falls dies nicht geschehe, werde er die „unmittelbare, vollständige und integrale“ Sperrung von X in Brasilien anordnen. Eigentlich wollte Moraes auch die Nutzung von VPN (Virtual Private Network) unter Strafe stellen, durch die eine solche Sperre umgangen werden kann. Selbst die New York Times fand das Vorgehen „vollkommen unüblich“. 50.000 Reais (etwa 8000 Euro) pro Tag sollte die Strafe sein. Doch diese Anordnung musste Moraes zurückziehen, genauso die Anweisung an Google und Apple, die X-App binnen fünf Tagen aus ihren App-Stores zu entfernen, wurde zurückgenommen, um „anderen Unternehmen … Unannehmlichkeiten“ zu ersparen.
Moraes: Digitale Milizen verbreiten „antidemokratische Inhalte“
Laut seiner Urteilsbegründung befürchtet Moraes eine Instrumentalisierung der Plattform X durch „extremistische Gruppen und digitale Milizen“, die „massiv“ zur „Verbreitung von nazistischen, rassistischen, faschistischen, hasserfüllten und antidemokratischen Inhalten“ beitragen könnten, auch im Vorfeld der Kommunalwahlen von 2024. Das berichtet die brasilianische Zeitung O Globo. Es sind inzwischen übliche Vorwürfe, die wohl nur schwer gerichtsfest zu beweisen wären. Bombastisch genug formuliert sind sie aber, und so weiß man nun immerhin, wo Moraes politisch steht.
Musk – so Moraes weiter – beabsichtige zudem, „sein Verhalten zu wiederholen, indem er die massive Verbreitung von Desinformationen, Hassreden und Angriffen auf den demokratischen Rechtsstaat zulässt“, was einen Verstoß gegen die „freie Wahl der Wähler“ darstellen würde. Im Oktober finden in Brasilien Kommunalwahlen in zwei Runden (6. und 27. Oktober) statt. Deutlich wird, wie de Moraes im Umfeld dieser Wahlgänge Einfluss auf die Plattform X nehmen will.
Staatspräsident Luiz Inacio Lula da Silva, der seinerseits 2017 wegen Geldwäsche und Korruption zu zwölf Jahren Haft verurteilt wurde, forderte Musk auf, die Entscheidungen des Gerichts zu akzeptieren. Lula fügte die unorthodoxen Worte hinzu: „Er kann nicht weiterhin Präsidenten, Abgeordnete, den Senat, die Abgeordnetenkammer und den Obersten Gerichtshof beleidigen. Für wen hält er sich?“
Musk: Freie Rede erlaubt es, Greuel zu benennen
Musk hatte X einst mit dem Ziel übernommen, die Plattform zu einem Hort der unumschränkten Meinungsfreiheit zu machen, mit Ausnahme gesetzeswidriger Inhalte, die man auch nicht auf X zulasse. Konkret zu den Entscheidungen des Bundesrichters schrieb Musk: „Die Redefreiheit ist das Fundament der Demokratie, und ein nicht gewählter Pseudo-Richter in Brasilien zerstört sie für politische Zwecke.“
Der Unternehmer teilte zudem ein älteres Interview mit Ben Shapiro auf X. Darin hatte er wiederum von der „freien Rede“ als dem „Fundament der Demokratie“ gesprochen. Die Redefreiheit erlaube, dass „Greueltaten benannt werden und die Menschen sich ihrer bewusst werden“. Zudem sei X derzeit die beliebteste Nachrichtenquelle in Brasilien, noch vor den großen Zeitungen wie O Globo oder auch der New York Times. Das „unterdrückerische Regime in Brasilien“ habe Angst davor, dass die Wahrheit bekannt werde. Musk kündigte an, die „lange Liste der Verbrechen“ von Richter Alexandre de Moraes zu veröffentlichen. Moraes sei „ein Diktator und ein Betrüger, kein Richter“.
Chris Pavlovski, der Chef von Rumble, schrieb, dass sein Videodienst in Brasilien bereits gesperrt sei: „Große Mächte wollen Rumble nicht, sie wollen X nicht, sie wollen Telegram nicht. Sie wollen Informationen kontrollieren, und unsere Unternehmen erlauben ihnen das nicht. Es gibt keine anderen großen Unternehmen, die so für die Freiheit kämpfen wie wir. Wir setzen dafür alles aufs Spiel, ein CEO sitzt im Gefängnis.“ Damit spielte Pavlovski offenbar auf Paul Durow an, der inzwischen unter Auflagen von den Pariser Behörden entlassen wurde.
Als einer der wenigen Politiker reagierte Geert Wilders auf den Schritt mit einem Tweet: „Die Sperrung von X in Brasilien ist inakzeptabel und ein Beweis für Totalitarismus. Eine Nation ohne Meinungsfreiheit ist eine Diktatur.“
Wer sich aber freut, das ist Renate Künast, einst Agrarministerin und grüne Spitzenkandidatin in Berlin. Doch sie hat Recht: Laut der Digitale-Dienste-Verordnung der EU (Digital Services Act, DSA) kann die Kommission nicht nur „empfindliche Strafen“, vor allem Geldbußen von bis sechs Prozent des weltweiten Jahresumsatzes, anordnen, sondern auch eine Sperre über ganze Plattformen verhängen.