Tichys Einblick
Staatsversagen

Gescheiterte Abschiebung des Solingen-Attentäters: Alle sind verantwortlich – und damit keiner

Als die NRW-Integrationsministerin Josefine Paul (Grüne) am Donnerstag im Ausschuss formulierte, der Fall der gescheiterten Abschiebung des Solingen-Attentäters sei „eher die Regel und nicht die Ausnahme“, war das nicht weniger als eine Selbstoffenbarung des deutschen Asylsystems.

picture alliance/dpa | Christoph Reichwein

Am Donnerstag und Freitag saßen sie alle zusammen im Landtag von Nordrhein-Westfalen: Erst in einer gemeinsamen, rund dreistündigen Sitzung des Innen- und des Integrationsausschusses anlässlich des Anschlags von Solingen. Dann in einer zweistündigen Sondersitzung im Plenum des Parlaments. Alle – das meint alle, die für das Desaster verantwortlich sind: CDU, SPD, Grüne und FDP. Alle sind sie verantwortlich – und damit dann am Ende aber auch irgendwie keiner.

Das jedenfalls ist der Eindruck, der sich in diesen Tagen aufdrängt. Das „Blame Game“ – es ist längst in vollem Gange. Beispiel: Die Sozialdemokratin Lisa-Kristin Kapteinat ging am Donnerstag im Landtagsausschuss gleich zu Beginn die anwesende Integrationsstaatsministerin Josefine Paul von den Grünen schroff an. Die steht in der Kritik, weil ihr Ministerium die gescheiterte Abschiebung des Solinger Täters nach Bulgarien zu verantworten hat, und Paul sich überdies tagelang überhaupt nicht zum Attentat äußerte.

Die SPD-Frau warf der Ministerin nun vor, ihr Verhalten sei „nicht nur schwach“, sondern „feige“. Das „Desinteresse“ Pauls an der Materie habe die Ministerin „in völlige Ahnungslosigkeit geführt“. Die Grüne sei „der Kopf des Systems“. Das klang beinahe schon wie eine Wortmeldung von der AfD. Die Antwort der Grünen ließ nicht lange auf sich warten: Die Einlassung der Sozialdemokratin sei „ein ganz schön starkes Stück“ gewesen, meldete sich die Grünen-Abgeordnete Julia Höller zu Wort. Die SPD sei es doch, „die dieses System im Bund verantwortet und der eigentliche Kopf des Systems ist“.

„Das System“ meint in diesem Fall nicht zuletzt das sogenannte Dublin-System. Demzufolge muss der Antrag eines Asylbewerbers eigentlich in dem Land bearbeitet werden, in dem er zuerst gestellt wurde. Im Falle des Solinger Attentäters war das Bulgarien. Die Abschiebeverfahren in das EU-Mitgliedsland lief 2023 auch bereits an. Am Tag der geplanten Ausweisung wurde der Syrer von den zuständigen Beamten allerdings in der Flüchtlingsunterkunft nicht angetroffen – und die Abschiebung dann nicht mehr weiterverfolgt.

Das Entlastungsnarrativ der grünen Ministerin

Im Entlastungsnarrativ der nordrhein-westfälischen Integrationsministerin Paul ist genau dies der Dreh- und Angelpunkt. Seit Tagen versucht sie, ausgerechnet das Scheitern in ihrem Verantwortungsbereich in ein Argument zur eigenen Schuldabwehr umzukehren. So auch in der Ausschusssitzung am Donnerstag. Dort erklärte die 42-Jährige einmal mehr wortreich und detailliert, wie und warum die Abschiebung im konkreten Fall ins Leere lief.

Die Erzählung geht so: Im Januar 2023 stellte der tatverdächtige Syrer – Jahrgang 1998 – einen Asylantrag in einer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Bielefeld. Bald stellte sich heraus, dass er schon in Bulgarien einen Antrag gestellt hatte. Im Februar 2023 stimmte Bulgarien daher im Rahmen des Dublin-Verfahrens einer Überstellung des Syrers zu. An diesem Punkt begann eine sechsmonatige Frist zu laufen, innerhalb derer die Rückführung zu erfolgen hatte.

Bis das BAMF tatsächlich die Abschiebung anordnete, vergingen 24 weitere Tage. Nun buchte die Zentrale Ausländerbehörde in Bielefeld ein Flugticket für die Abschiebung – allerdings erst für den Beginn des Monats Juni. Bis dahin gingen weitere 11 Wochen ins Land. In der Nacht auf den 5. Juni schlugen die Beamten dann in der Flüchtlingsunterkunft auf, um den Syrer mitzunehmen – fanden ihn allerdings nicht vor.

Abschiebung an zu wenigen Flugtickets gescheitert?

Am Mittag desselben Tages, nur einige Stunden später also, tauchte der Mann wieder zum Mittagessen in der Unterkunft auf. Das Ticket für den gebuchten Abschiebeflug war da schon verfallen. Bis zum Ablauf der halbjährlichen Frist am 20. August wäre zwar noch Zeit gewesen, die Abschiebung erneut anzugehen. Ein solcher Versuch wurde aber gar nicht mehr unternommen, sodass der Syrer später ins deutsche Asylverfahren überführt und die Rückführung nach Bulgarien fallengelassen wurde.

Dazu vergrub sich die Ministerin im Ausschuss noch tiefer in die Details. Die Kurzfassung: Letztlich wäre ein zweiter Abschiebeversuch wohl in jedem Fall daran gescheitert, dass sich vor Ablauf der halbjährlichen Abschiebefrist kein Flugticket mehr besorgen ließ. Hintergrund: Bulgarien habe für die Rückführungen im Rahmen des Dublin-Systems enge Konditionen festgelegt.

Demnach dürfen die Abschiebungen zum Beispiel nur zu bestimmten Zeiten an einen bestimmten Flughafen und über bestimmte Fluglinien erfolgen. Unter dieser Bedingung hätten bundesweit für eine Überstellung nach Bulgarien zum damaligen Zeitpunkt täglich nur zehn Plätze zur Verfügung gestanden. Für einen zweiten Abschiebeflug des späteren Solingen-Attentäters wäre also vermutlich kein rechtzeitiges Ticket mehr zu haben gewesen.

Selbstoffenbarung des Asylsystems

Warum führte die Ministerin das alles so genau aus? Das dahinterstehende Narrativ gab die Grünen-Fraktionsvorsitzende Verena Schäffer in der Plenumssitzung am Freitag so wieder: Dublin sei „offensichtlich ein System, das zum Scheitern verurteilt ist“, und „was ganz Europa nicht hinbekommt, kann man einer nordrhein-westfälischen Ministerin wohl kaum zum Vorwurf machen“.

Schuld ist also das „System“ und damit alle, die daran mitwirken – was wiederum bedeutet, dass am Ende jeder den anderen (die Landesministerin das BAMF, das BAMF die Ausländerbehörde, die Ausländerbehörde die Bundesregierung, die Bundesregierung Bulgarien und so weiter) in die Verantwortung mit hineinziehen kann, am Ende aber paradoxerweise im Zweifel keiner Verantwortung übernimmt.

Auf persönlicher Ebene mag diese Strategie der Selbstentlastung für die Ministerin aufgehen. Gleichzeitig legt sie damit aber schonungslos offen, wie morsch die Gesamtstruktur ist: Als Paul am Donnerstag im Ausschuss formulierte, der Fall der gescheiterten Abschiebung des Solingen-Attentäters sei „eher die Regel und nicht die Ausnahme“, war das nicht weniger als eine Selbstoffenbarung des deutschen Asylsystems. Von einem „Staatsversagen“ sprachen daher zu Recht Vertreter von FDP und AfD.

Ministerin nennt weitere irrsinnige Details

Paul nannte im Ausschuss auch noch weitere irrsinnige Details, die diesen Eindruck bekräftigen. So erklärte sie zum Beispiel, dass die Polizei zum damaligen Zeitpunkt nicht berechtigt war, am Tag der Abschiebung auch nur in anderen Räumen der Flüchtlingsunterkunft nach dem Syrer zu suchen.

Ebenso konnte die Abschiebebehörde nicht auf ein System zugreifen, das in Echtzeit erfasst, ob ein Flüchtling an- oder abwesend ist – was den Zugriff natürlich erheblich erleichtert hätte. Die Unterkunft musste die Ausländerbehörde nicht einmal informieren, als der Syrer nach der gescheiterten Abschiebung in die Einrichtung zurückkehrte. Nichts von alledem lässt sich mit gesundem Menschenverstand nachvollziehen.

Mittlerweile doktern die Verantwortlichen mit einzelnen Veränderungen an diesen Stellen herum. 2015 hätte man damit vielleicht noch etwas retten können. Dieser Zug ist aber längst abgefahren. Zugleich ist die Politik zu einem radikaleren Einschnitt nicht bereit. NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst beschwor den Anschlag von Solingen am Freitag zwar als „Wendepunkt“. Allerdings nur, um dann im braven Merkel-Ton auszuführen: „In Nordrhein-Westfalen gilt weiter: Das Individualrecht auf Asyl bleibt gewahrt. Das ist ein Gebot der Menschlichkeit.“

Im Ausschuss hatte sich ein Vertreter seiner Partei am Vortag noch dafür ausgesprochen, die Zuwanderung „massiv zu begrenzen“: Da Deutschland von sicheren Drittstaaten umgeben ist, bestehe „eigentlich gar kein Grund“, dass überhaupt Asylsuchende ins Land kommen.

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