Vor ein paar Monaten erschien ein Sachbuch, das aus mehreren Gründen herausragt aus den Neuerscheinungen des Jahres 2024. Es heißt „Verachtung nach unten“ und stammt aus der Feder von Alexander Wendt. Wendt beschäftigt sich darin einerseits mit der Ideologie und den politischen Methoden der neuen, tonangebenden Klasse in diesem Land, also mit dem „Wokeismus“ (auch „Wokeness“ genannt).
Er beschreibt und erklärt, warum dahinter weit mehr steckt als eine übergriffige Marotte von zumeist links-grünen Journalisten und NGO-Vertretern, sondern eine Art politisches Glaubenssystem, das sich anschickt, viele Errungenschaften der Moderne, der Aufklärung, rückabzuwickeln, den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu beschädigen und letztlich die Demokratie auszuhöhlen.
Die Verfechter dieses Projekts bedienen sich dabei eines wilden Mixes englischer Begriffe, die zumeist menschenfreundlich, sensibel und inklusiv klingen. Letztlich meint dieses schwer zu greifende, neue Denglisch-Vokabular der woken Aktivisten allerdings das glatte Gegenteil dessen, was die Akteure vorgeben, erreichen zu wollen. Nicht zu Unrecht hat der britische Historiker Niall Ferguson das Konzept von „DEI“ (Abkürzung für Diversity, Equity & Inclusion, zu deutsch: Vielfalt, Gerechtigkeit und Inklusion) mit Blick auf den Alltag an westlichen Universitäten als Ideologie zur Erzwingung von Einförmigkeit, Ungleichheit und Ausgrenzung bezeichnet.
Das betrifft mittlerweile nicht nur Universitäten. Immer häufiger sollen Fakten, unliebsame Meinungen oder legitime Kritik am Regierungshandeln aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen werden. Die gezielte Umdeutung von Begrifflichkeiten ist dabei zentral (aus illegal eingereisten jungen Männern werden zum Beispiel „Schutzsuchende“ — selbst von Asylbewerbern spricht niemand mehr). Doch es geht nicht nur um Begriffe: Die Bedrohung der Bürgergesellschaft, so Wendt, erfolgt auch durch die immer deutlicher werdende ideologische Beherrschung wichtiger halbstaatlicher Institutionen, Lobby- und Nichtregierungs-Organisationen durch Aktivisten, die die Ideologie der Wokeness zum neuen Normal erklären. Kritik gilt dann als illegitim oder „rechts“, Argumente werden als „verstörend“ oder „verletzend“ weggedrückt.
Alexander Wendt nähert sich dem Thema lebensnah und grundsätzlich. Er trifft zum Beispiel ausgewählte Personen: Aktivisten und Betroffene, Intellektuelle und Normalbürger — und vergleicht das, was er erfährt, mit den programmatischen Schriften und Behauptungen der woken Wortführer. Wendt hat 25 Jahre lang für das Magazin Focus gearbeitet. Das merkt man dem Buch an, denn der Autor weiß, was eine seriöse Reportage ist und wie man sie in ein Buch einfließen lässt.
Und er tut dies sprachlich wie inhaltlich auf sehr elegante Weise. Alexander Wendt schimpft nicht, er ereifert sich nicht und er verurteilt nicht. Seine Erkenntnisse sind in klarem Deutsch verfasst. Wenn man so will, ist Wendts Buch schon stilistisch ein Gegenentwurf zum Wortgeklingel vieler woker Aktivisten. Darüber hinaus sind seine Buchkapitel immer auch historische Exkursionen: Wendt stellt das, was er beschreibt, stets in einen größeren kulturhistorischen Zusammenhang.
Acht Kapitel — jedes eine essayistische Perle voller Hintergründe und Zusammenhänge
Gegliedert ist „Verachtung nach unten“ in acht Kapitel. Im ersten Kapitel begegnen uns Vertreter sehr verschiedener Lebensentwürfe und Lebenswirklichkeiten: Wirtschaftsmigranten von den Kapverdischen Inseln, die in einem halblegalen Hüttendorf in der Nähe von Lissabon hausen und vom wirtschaftlichen Aufstieg träumen. Syrische Flüchtlinge in Berlin. Wendt trifft den linksradikalen Klima-Aktivisten Tadzio Müller, der zu den Mitgründern der Bewegung „Ende Gelände“ gehört und früher zu den Mitarbeitern der Rosa-Luxemburg-Stiftung zählte. Und er besucht einen typisch ostdeutschen Normalo, der als Schweißer arbeitet, mit Frau und drei Kindern in der Nähe von Leipzig lebt, sein Häuschen abbezahlt — und mächtig enttäuscht ist von der Politik und der gesellschaftlichen Entwicklung des Landes.
Kapitel Drei widmet sich den „Techniken der Verachtung“. Schon der kleine historische Schwenk am Kapitelanfang zum Thema „kulturelle Verachtung“ bringt zutage, dass die Idee, niedere Klassen würden sich auch durch moralische Minderwertigkeit auszeichnen, nicht erst von Hillary Clinton erfunden wurde. Neu sei allerdings, so Wendt, dass kulturelle Verachtung seit ein paar Jahren als „progressiv“ durchgeht.
Menschen, die gerne von „Diversität“ und „Inklusion“ schwadronieren und die unbedingte Gleichheit aller im Munde führen, haben kein Problem damit, Bauern für geistig minderbemittelt zu erachten, weil sie Traktor fahren, oder über Ostdeutsche zu ätzen, weil sie die Distinktions-Regeln von Berlin-Mitte und Hamburger Szenevierteln nicht kennen. „Verachtung spürt jeder, wenn sie ihn trifft. Sie schneidet tiefer ein als materielle Armut. Sie reißt heftiger am sozialen Gewebe als Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen.“ Wendt bringt es auf den Punkt.
Interessant ist in diesem Kontext der Rückblick Wendts auf ein Gespräch mit dem damaligen Finanzminister Olaf Scholz, den er mit anderen Journalisten auf einer Auslandsreise begleitete. Schon damals sprach Scholz von Respekt. Nur: staatliche Transferleistungen schaffen weder Respekt noch Anerkennung. Sprachliche Bevormundung auch nicht.
Kapitel Vier („Ankläger“) widmet sich der Tatsache, dass wir es immer öfter zulassen, dass Leute wegen Nichtigkeiten oder auch aufgrund falscher Verdächtigungen denunziert werden, ihre Jobs verlieren und sozial geächtet werden. Wendt schildert eine Reihe von Fällen und beschreibt beklemmend, wohin dieser neue Jakobinismus führt. Das Kapitel ist eines der aufschlussreichsten, aber auch beklemmendsten des Buches.
Kapitel Sechs widmet sich der Frage, warum Manager, Bankiers und die Chefs der großen Social-Media-Plattformen sich so gut mit den Woken zu verstehen scheinen. Und wie sich die Ideologie der „Diversity, Equity & Inclusion“ mit seinen sprachpolizeilichen Vorschriften in das Innenleben von Großkonzernen hineinfrisst.
Das siebte Kapitel schließlich ist eine kulturhistorische Abhandlung über die Idee des Bürgers und der Bürgergesellschaft. Diese zutiefst abendländische Idee von Autonomie und Bürgerrechten gab es weder im Mongolenimperium noch im chinesischen Kaiserreich, weder im arabischen Kalifat noch im osmanischen Sultanat. Weshalb die Abschaffung und Ächtung der Sklaverei auch vom Westen ausging. Und nur von dort. Trotzdem behaupten die Woken, dass der Westen schuld an allem Übel der Welt sei — und diskreditieren die kulturellen Grundlagen unserer Demokratie.
In seinem letzten, dem achten Kapitel versucht Alexander Wendt so etwas wie Regeln zu formulieren, auf die sich alle einigen könnten und deren Befolgung den bedrohten gesellschaftlichen Frieden sichern würde. Das ist aller Ehren wert und konstruktiv. Trotzdem lässt es den Leser kopfschüttelnd zurück, denn diese Regeln sind eigentlich Selbstverständlichkeiten und sollten zum Kleinen Einmaleins unserer Republik gehören.
Offensichtlich haben wir alle nicht wirklich bemerkt, wie weit wir mit der Rückabwicklung der Aufklärung bereits gediehen sind. Und wie gefährdet unser westlicher Lebensentwurf ist.
Nach der Lektüre fragt man sich unwillkürlich, wann endlich der bürgerliche Teil des Parteienspektrums von klugen Büchern wie dem von Alexander Wendt nicht nur Kenntnis nimmt, sondern auch politisches Handeln ableitet, sobald die Möglichkeit dazu besteht. Was setzen bürgerliche Parteien der Wokeness politisch entgegen?
Dieser Beitrag von Jörg Hackeschmidt erschien zuerst auf der Webpräsenz von Republik21, dessen Gründungsmitglied er ist.
Alexander Wendt, Verachtung nach unten. Wie eine Moralelite die Bürgergesellschaft bedroht – und wie wir sie verteidigen können. Lau-Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 372 Seiten, 26,00 €.
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