Es ist nicht alles klar an dieser Affäre, am wenigsten die Frage, warum der Telegram-Gründer Pawel Walerjewitsch Durow überhaupt nach Paris flog, wo er am Samstag am Flughafen Le Bourget festgenommen wurde. Er war mit seinem Privatjet aus dem Kaukasus angereist, und auch um diese Reise im Umkreis Russlands wird einiges gemunkelt. Aber warum überhaupt war er nach Paris geflogen? Hatte er nicht von den Umtrieben jenes EU-Kommissars Thierry Breton, eines Macron-Vertrauten, gehört, der dem „Kollegen“ Elon Musk mit halb-privaten Briefen und offiziellen Verfahren droht? Wie kam Durow darauf, dass Frankreich, wo Vorwürfe gegen ihn im Schwange waren, ein sicherer Hafen für ihn sein könnte?
Dem Telegram-Gründer Durow wird mangelnde Zusammenarbeit mit den französischen Ordnungskräften vorgeworfen, angeblich namentlich in Fällen von Drogenhandel, Betrug und bei Vergehen im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch. Durow habe seine Anwendung zum „bevorzugten Wohnzimmer von Dealern, Drogenhändlern und Übeltätern aller Art“ gemacht, fasst der Parisien die Vorwürfe zusammen. Auch der Islamische Staat (IS) habe den Dienst ausgiebig genutzt. Es handele sich um „eine undurchsichtige Anwendung, die alle Arten von Missbrauch zulässt“. Der Eindruck stellt sich ein, dass es auch für die französischen Behörden um sehr offizielle Dinge geht. Sind vielleicht auch französische Auslandsinteressen berührt?
In der Tat soll das „Büro für die Bekämpfung von Gewalt gegen Minderjährige“ einen Ermittlungsantrag gegen Durow gestellt haben. Mit den Ermittlungen ist nun aber die Nationale Cyber-Einheit (UNC) der Gendarmerie betraut. Ist der Kinderporno-Vorwurf nur ein Smokescreen, um die Ermittlungen weniger angreifbar zu machen? Generell ist einzuwenden, dass Telegram weitaus schwächer gegen Einsichtnahme von außen geschützt ist als etwa WhatsApp. Chats sind nicht regulär Ende-zu-Ende-verschlüsselt. Es bleibt der Verdacht, dass es eher darum geht, Durow zu Eingriffen in die Rede- und Ausdrucksfreiheit zu bewegen, die die breite Masse der Nutzer beträfen.
Dazu passen Meldungen seit 2017, dass das alternative Neu-Links-Twitter Mastodon von Kinderpornos geradezu geflutet wurde. Doch keine Ermittlungen, auch kein politischer Druck gegen Mastodon ist bekannt, auch nicht gegen Facebook und Instagram, wo es ähnliche Probleme geben soll.
Für Elon Musk ist die Erklärung einfach: Mark Zuckerberg zensiere Beiträge und gebe Regierungen Einblick in Nutzerdaten über eine sogenannte „Hintertür“ (backdoor).
Rumble-Gründer flieht aus Europa
Inzwischen ist auch der Gründer des kanadischen Videoportals Rumble, Chris Pavlovski, überstürzt aus Europa nach Kanada abgereist. Auf X schrieb Pavlovski am Sonntag, dass auch Rumble schon von Frankreich bedroht worden sei. Jetzt hätten die Behörden des Landes aber „eine rote Linie überschritten“, als sie den Telegram-CEO verhafteten, „weil er Redebeiträge nicht zensiert“.
Rumble werde sich ein solches Verhalten nicht gefallen lassen und „mit allen rechtlichen Mitteln für das Recht auf freie Meinungsäußerung, ein universelles Menschenrecht, kämpfen“. Auch der Video-Dienst steht in der Kritik, weil er anders als Youtube auf die Unterdrückung von politisch missliebigen Videos verzichtet. Er hat sich so als alternatives Videoportal etabliert. Derzeit kämpfe auch sein Unternehmen, so Pavlovski, „vor den Gerichten in Frankreich“. Daneben hoffe man auf die „sofortige Freilassung von Pawel Durow“.
Im November 2022 soll die französische Regierung von Rumble verlangt haben, russische Quellen zu blockieren. Pavlovski ordnet sich in eine Front nicht nur mit Durow ein, sondern auch mit Elon Musk. Gemeinsam mit ihnen will er an der Meinungsfreiheit als „Pfeiler“ der eigenen Kultur festhalten. Auf X (ehemals Twitter) wurde eine Liste aktualisiert, auf der bisher nur TikTok ausgestrichen war, ein Dienst, der in den USA inzwischen unterdrückt wurde. Nun also auch Telegram. Als Nummer drei und vier stehen X und Rumble auf der Liste der freiheitlichen Portale.
Aus dem US-Wahlkampf meldete sich Robert F. Kennedy zu Wort, der seine eigene Kandidatur gerade zurückgezogen und sich für die Wahl Donald Trumps ausgesprochen hat: „Die Notwendigkeit, die Redefreiheit zu schützen, war nie dringender.“
Mit der Pandemie wuchsen die wütenden Emojis
Durow, der Telegram 2013 zusammen mit seinem Bruder Nikolai gegründet hatte, hat stets Wert darauf gelegt, nicht mit Staaten und Regierungen zusammenzuarbeiten, ganz im Unterschied zu anderen Plattformen wie Facebook oder dem alten Twitter (vor Musk). Aber auch Telegram hat – auf äußeren Druck hin – in seiner Geschichte einzelne Kanäle gesperrt, etwa solche, die mit dem IS oder der Stürmung des Kapitols im Januar 2021 zusammenhingen. „Terroristische Inhalte, Betrug, illegale Pornografie oder die Förderung von Gewalt“ sind gegen die Nutzungsregeln von Telegram und können daher entfernt werden.
In einer aktuellen Mitteilung des Unternehmens Telegram auf dem eigenen Portal heißt es: „Telegram hält sich an die Gesetze der EU, einschließlich der Verordnung über digitale Dienste (DSA). Seine Moderation entspricht dem Branchenstandard und verbessert sich stetig.“ Pawel Durow habe nichts zu verbergen, und „er reist häufig nach Europa“. Es sei absurd, eine Plattform oder deren Eigner für „Missbrauch auf dieser Plattform“ verantwortlich zu machen.
Die Antipathie westlicher Regierungen gegen Telegram ist dabei nicht ganz neu. Während die Plattform früher als Freiraum der russischen oder auch weißrussischen Opposition geschätzt wurde, war man weniger erfreut, als sich die Kraft zur Abweichung auch im Westen zeigte. In der Coronazeit wuchs Telegram stark – und damit angeblich auch der „Hass“ auf der Plattform. Dazu existieren Auswertungen, die nicht wirklich ernst zu nehmen sind. So wurde ein starker Anstieg der „Hass-Emojis“ etwa seit Beginn der Impfkampagne gemessen. Das sollte nicht verwundern, wenn immer mehr Nutzer anderer Meinung waren, als ihnen die damals weitverbreitete Propaganda für staatliche Maßnahmen und der konkrete Impfdruck vorgeben wollten.
Hinweis aus der Nähe des Kremls: Du bist keiner von ihnen
In Russland ist Telegram noch immer einer der größten Anbieter, mit Kanälen mit hunderttausenden Abonnenten. Die Kreml-Sprecherin Maria Wladimirowna Sacharowa sagte, die russische Botschaft in Paris habe „sich umgehend an die Arbeit gemacht“, wie es in solchen Fällen üblich sei, in denen ein russischer Staatsbürger im Ausland inhaftiert wird. 2018 hatte freilich der Kreml versucht, Telegram zu blockieren, und war auf breiten Protest internationaler NGOs gestoßen. Letztlich ließ Russland von seinem Versuch ab. Schon 2014 hatte der Kreml Zugang zu Nutzerdaten von Durows älterem Plattform-Projekt VKontakte (deutsch „In Verbindung“) verlangt, einer russischen Version von Facebook. Es ging vor allem um das Profil von Alexei Nawalny, der damals die russische Opposition organisierte. Durow weigerte sich und ging nach Dubai.
Nun verspottete ihn der ehemalige Präsident Dmitri Anatoljewitsch Medwedew dafür in einer Wortmeldung und scheint ihn zur Rückkehr in die alte Heimat aufzufordern:
„Vor einiger Zeit fragte ich Durow, warum er bei schweren Verbrechen nicht mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeiten wolle. ‚Das ist eine Frage des Prinzips‘, sagte er. Ich sagte ihm: ‚Das würde in jedem Land ernsthafte Probleme verursachen.‘
Er glaubte, dass seine größten Probleme in Russland lägen, also verließ er das Land und erhielt schließlich die Staatsbürgerschaft oder den Wohnsitz in anderen Ländern. Er wollte ein glanzvoller ‚Weltbürger‘ sein, der auch ohne Heimatland gut leben kann. ‚Ubi bene, ibi patria!‘ (Wo es gut ist, da ist mein Land!)
Er hat sich verkalkuliert. Für alle unsere gemeinsamen Feinde ist er immer noch ein Russe – und damit unberechenbar und gefährlich, von anderem Blut. Definitiv kein Musk oder Zuckerberg (der übrigens aktiv mit dem FBI zusammenarbeitet). Durow muss endlich begreifen, dass man sich seine Heimat, ebenso wie seine Zeit, nicht aussuchen kann.“
Warum flog Durow nach Paris?
So wenig Medwedew auch als wirklicher Machtfaktor in Russland und darüber hinaus gilt, so charakteristisch ist doch seine Sichtweise. Russland kann es sich in dieser Lage bequem machen und mit dem Finger auf andere zeigen, die auch nicht rechtsstaatlicher seien als es selbst. Nun gibt es die Hoffnung, dass sich das als falsch erweisen wird, und in der Tat, mit dem Tod Durows in französischer Haft würde man nicht rechnen. Aber die neuen Online-Gesetze in der EU, die ihren Anfang mit dem deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetz nahmen, berauben auch die EU-Europäer zunehmend ihrer Freiheit.
Jüngst soll Durow nach Baku gereist sein, wo er vielleicht sogar versucht hat, Wladimir Putin zu treffen, der zur gleichen Zeit zu einem Staatsbesuch in Aserbaidschan war. Es kam aber zu keinem Treffen. Angeblich war es Durows Absicht, Putin um weiterhin freien Betrieb von Telegram in Russland zu bitten. Die russische Regierung hat nach der ukrainischen Offensive gegen die Region Kursk den Zugang zu amerikanischen Plattformen wie Youtube und WhatsApp eingeschränkt.
Durows anschließender Flug von Baku nach Paris gibt insofern Rätsel auf, als er von dem seit längerem bestehenden französischen Haftbefehl wusste. Wollte sich Durow dadurch aus einer akuten Gefahr befreien oder unterschätzte er die Konsequenz der französischen Behörden? Und wird ihm sein erst 2021 im Expressmodus gewährter französischer Pass nun nützen oder schaden? Angeblich ließ sich Durow unter einem franzisierten Namen einbürgern: Paul du Rove. Der 39-jährige Telegram-Gründer besitzt daneben noch einen Pass von St. Kitts und Nevis in der Karibik und einen der Vereinigten Arabischen Emirate.
Am 14. August feierte er in seinem privaten „Du Rove’s Channel“ den elften Geburtstag von Telegram und erinnerte an einen Vorsatz, den er angeblich an seinem elften Geburtstag gefasst habe: Durow wollte von da an jeden Tag „klüger, stärker und freier“ werden. Dasselbe sollte auch von Telegram gelten, der technologische Fortschritt sich also mit Erkenntnisgewinn und Freiheitsgewinn verbinden. Nun sitzt der Gründer in einer Pariser Zelle, und die Zahl von 20 Jahren möglicher Haft macht die Runde, ohne das klar wäre, auf welcher Grundlage sie genannt wird.