Tichys Einblick
Das demokratische Missverständnis

Demokratie heißt, den Widerspruch einüben und aushalten

Das Ausgrenzen, das «Keine-Bühne-Bieten», das Ausladen und «Nicht-zu-Wort-kommen-Lassen» ist nicht Demokratie, es ist demokratieverachtend. Diktatoren können missliebige Meinungsmacher kaltstellen. Demokraten nicht. Demokratie braucht Spannkraft.

Die bundesweiten Großdemonstrationen Anfang 2024 waren ein demokratischer Irrtum. Der wichtigste Grund: Man kann schwerlich gleichzeitig «für Demokratie» und «gegen rechts» demonstrieren. «Rechts» gehört schlichtweg zur Demokratie dazu, sonst würde nur «links» übrigbleiben. Und eine freiheitliche, plurale Demokratie mit nur einer Meinung bzw. mit nur einem Flügel ist keine. So kann der Adler nicht fliegen.

Dabei offenbart die inflationäre Verwendung des Begriffs «Demokratie» ein fundamentales Missverständnis: Viele ihrer Verteidiger verstehen unter Demokratie die Dominanz ihres eigenen, links-liberalen Weltbildes, in der alles, was ihm widerspricht, eine Art Fremdkörper ist. Das ist kurzsichtig, denn Demokratie heißt, den Widerspruch einzuüben und auszuhalten. Es braucht den Andersdenkenden als Gegenüber und Mitbewerber.

Demokratie ist auch die Methode der politischen Kompromissfindung. Sie ist aber kein programmatischer Kanon einer ganz bestimmten politischen Richtung. Demokratie ist das Haus, in dem Demokraten wirken und wohnen. Bekämpft werden darf nur, wer das Haus abreißen will. Die Beweisführung, dass die neuen «Populisten» in Deutschland genau das vorhaben, steht allerdings noch aus und ist komplizierter, als viele ihrer Gegner es sich vorstellen. Bloße Verdächtigungen, Antipathie und Verachtung genügen nicht.

Wenn es um die Ursachen für den Siegeszug des Populismus geht, ist die anmaßende Überhöhung der selbsternannten Sachwalter der Demokratie ein weiterer zentraler Punkt. In einem Selbstverständnis, bei dem man sich selbst als Verkörperung des demokratischen Systems versteht, kann jeder im Grunde normale und legitime parteipolitische Gegner zum Systemfeind werden. Der Aufstieg des Rechtspopulismus ist demnach vermutlich auch eine Reaktion auf die Umdeutung der Demokratie zum Besitzstand linksliberaler Eliten. Ein Phänomen, das auch in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts steckte. Auch deshalb sind die Großdemonstrationen in Deutschland «gegen rechts» einen näheren Blick wert.

Mitlaufen
Eine Bestandsaufnahme zum Stand der Konformität
Anfang 2024 «waren in Deutschland nach Angaben der Veranstalter etwa dreieinhalb Millionen, nach Angaben der Polizei etwa zwei Millionen Menschen an Demonstrationen ‹gegen rechts› beteiligt», schreibt der frühere Bundesbanker und ehemalige Berliner SPD-Finanzsenator Thilo Sarrazin in der «Weltwoche» (9/24). «Nur ein politischer Narr kann sich von der schieren Teilnehmerzahl nicht beeindruckt fühlen. Es waren die größten massenhaften Demonstrationen seit dem Untergang der DDR 1989 – vergleichbar allenfalls den westdeutschen Massenaufmärschen im Kampf gegen die atomare Nachrüstung 1982/83.»

Der vordergründige Anlass für die bundesweit von ganz unterschiedlichen, zumeist von linken Gruppen organisierten Aufmärsche war das «Treffen von Potsdam», bei dem rechtskonservative und rechtsextreme Akteure über mögliche Maßnahmen gegen die massenhafte Migration nach Deutschland gesprochen hatten. Bei dieser Gelegenheit hatte ein Bericht des Recherche-Kollektivs «Correctiv» die Überlegungen zur Rückführung von Migranten («Remigration») als «Massendeportation» interpretiert und damit all jene alarmiert, die konservative und «rechte» Meinungen ohnehin als eine Vorstufe zur Rückkehr von Nationalsozialismus und Untermenschentum betrachten.

Sarrazin beschreibt die Demonstrationen wie folgt: «Die Anziehungskraft der heutigen Demonstrationen ‹gegen rechts› besteht in der Unschärfe des Feindbildes, verbunden mit dem angenehmen Gefühl, in jedem Fall zu ‹den Guten› zu gehören. Die große Teilnehmerzahl zeigt aber auch eine emotionale Dringlichkeit in Teilen der Gesellschaft an, die man nicht einfach wegreden kann.»

Seine Analyse sieht vor allem zwei grundlegende Denkrichtungen, die sich bei den Demonstranten und jenen zeigen, gegen die demonstriert wurde: «Entkleidet man die Motivation für diese Demonstrationen und das ihnen innewohnende Feindbild von jeder Polemik, so geht es im Kern um den Umgang mit Migration: Wollen wir in Deutschland als Deutsche und Europäer leben, so wie dies Polen, Franzosen, Italiener oder Dänen in ihren Ländern tun, dann müssen wir Einwanderung von außerhalb Europas grundsätzlich steuern und gegebenenfalls auch begrenzen. Die Folge: Nicht jeder, der dies möchte, darf auch zu uns kommen.»

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Oder: «Sehen wir aber den Nationalstaat und auch den Schutz der europäischen Außengrenzen als historisch obsolet an und glauben wir an die historisch unaufhaltsame Entwicklung zu einer Weltgesellschaft, dann sollten wir unsere Außengrenzen mehr oder weniger bedingungslos offenhalten und grundsätzlich jeden willkommen heißen und in unseren Sozialstaat aufnehmen, der auf irgendeine Weise seinen Weg nach Deutschland findet.»

Ganz gleich, wie man zum Thema Migration steht: Entscheidend ist, dass beide Standpunkte demokratisch legitim und zulässig sind. Wer also gegen die migrationspolitischen Ansichten, die hier der Auslöser waren, auf die Straße geht, kann das gern tun. Das ist legitim und Teil unserer Demokratie. Er kämpft dann aber nicht «für Demokratie», sondern für seine Meinung.

Wer sich «für Demokratie» im abstrakten Sinne einsetzt, müsste sich dafür stark machen, dass auch die Gegenrede gegen die eigenen Ansichten möglich ist. Um das Fundament in unserem demokratischen Haus zu stärken, müssen wir ganz offensichtlich wieder neu lernen, dass das kraftvolle Kämpfen für unsere Meinung zusammengehört mit dem bedingungslosen Einstehen dafür, dass die Meinung der Andersdenkenden ergänzender Teil des demokratischen Prozesses ist. Einzige Ausnahme: wenn der politische Sparringspartner zu erkennen gibt, dass er selbst Andersdenkende eliminieren, mundtot machen oder sonst irgendwie verfolgen will.

Wie weit das Spektrum reicht, das Demokraten erdulden müssen, haben die Richter des Bundesverfassungsgerichts mit – wie ich finde – wohlüberlegten Worten in ihrer sogenannten «Wunsiedel-Entscheidung» vom 4. November 2009 formuliert. Damals ging es darum, ob alljährliche Gedenkmärsche für den NS-Funktionär Rudolf Hess am Haus von dessen Familie im oberfränkischen Wunsiedel der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit unterfielen oder verboten werden könnten, wogegen der Kläger Einspruch erhoben hatte. Das Gericht bestätigte das Verbot wegen der außergewöhnlichen Verbrechen des Nationalsozialismus, machte aber in der Urteilsbegründung klar, wie umfassend die Meinungsfreiheit im Sinne des Grundgesetzes garantiert ist:

INTERVIEW
„Man muss für seine Meinungsfreiheit kämpfen!“
«Das Grundgesetz gewährt Meinungsfreiheit im Vertrauen auf die Kraft der freien öffentlichen Auseinandersetzung vielmehr grundsätzlich auch den Feinden der Freiheit. Der Parlamentarische Rat bekannte sich hierzu auch gegenüber dem soeben erst überwundenen Nationalsozialismus. In den Art. 9 Abs. 2, Art. 18 und Art. 21 Abs. 2 GG legte er fest, dass nicht schon die Verbreitung verfassungsfeindlicher Ideen als solche die Grenze der freien politischen Auseinandersetzung bildet, sondern erst eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Entsprechend gewährleistet Art. 5 Abs. 1 und 2 GG die Meinungsfreiheit als Geistesfreiheit unabhängig von der inhaltlichen Bewertung ihrer Richtigkeit, rechtlichen Durchsetzbarkeit oder Gefährlichkeit. Art. 5 Abs. 1 und 2 GG erlaubt nicht den staatlichen Zugriff auf die Gesinnung, sondern ermächtigt erst dann zum Eingriff, wenn Meinungsäußerungen die rein geistige Sphäre des Für-richtig-Haltens verlassen und in Rechtsgutverletzungen oder erkennbar in Gefährdungslagen umschlagen.»

Das ist in verschiedener Hinsicht bemerkenswert. Es ist  selbstverständlich jedem unbenommen, «für Demokratie und gegen rechts» zu demonstrieren. «Richtigkeit, rechtliche Durchsetzbarkeit oder Gefährlichkeit» spielen für die Meinungsfreiheit keine Rolle. Allerdings gilt das eben für alle politischen Player. Demokratie besteht also nicht darin, missliebige Meinungen zu vertreiben, zu verbieten (wie mehr als eine Million Menschen dies in einer Petition gegen die AfD an den Deutschen Bundestag fordern) oder mundtot zu machen. Solche Maßnahmen sind erst demokratisch legitimiert, wenn die inkriminierten Meinungsäußerungen «die rein geistige Sphäre des Für-richtig-Haltens verlassen», Recht verletzen oder zur Gefahr werden.

Und noch ein Satz der Verfassungsrichter von 2009 ist von beeindruckender Schärfe und demokratischer Klarheit: «Das Grundgesetz gewährt Meinungsfreiheit im Vertrauen auf die Kraft der freien öffentlichen Auseinandersetzung vielmehr grundsätzlich auch den Feinden der Freiheit.» Die Richter benennen klar das Mittel, mit dem die demokratische Ordnung des Grundgesetzes aufrechterhalten wird: «im Vertrauen auf die Kraft der freien öffentlichen Auseinandersetzung». Mit anderen Worten: Das Ausgrenzen, das «Keine-Bühne-Bieten», das Ausladen und «Nicht-zu-Wort-kommen-Lassen» ist nicht Demokratie, sondern ihr Gegenteil. Es ist demokratieverachtend.

Hier braucht es dringend ein Aufwachen und ein Umdenken. Demokratie braucht Spannkraft. Diktatoren können missliebige Meinungsmacher kaltstellen und exekutieren. Man kann auch sagen: In keiner anderen Regierungsform ist die Feindesliebe so vorgesehen und verankert wie in der Demokratie unserer grundgesetzlichen Prägung.

Auszug aus:
Ralf Schuler, Der Siegeszug der Populisten. Warum die etablieren Parteien die Bürger verloren haben. Fontis-Verlag, Hardcover, 304 Seiten, 24,99 €.


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