Da stand er nun, der aus dem Wochenende herbeigeeilte Herbert Reul, CDU-Innenminister von Nordrhein-Westfalen, und gab ein ziemlich ausführliches Statement ab, zu dem ihn niemand verpflichtet hatte. Gewiss ist es ehrenvoll, dass Reul in solcher Lage an den Ort des Geschehens eilt, dass er sich nicht wegduckt und sich zumindest für sein NRW-Innenressort verantwortet. Er wird damit aber auch zu einer Art harmlosem Hau-den-Lukas, auf den man sich nicht einmal traut, drauf zu hauen, weil er ja nicht schuld sein soll an der Situation. Denn er hat ja nur den Job übernommen, die Scherben wegzukehren.
Ja, als Innenminister ist das Reuls Arbeit, aber als hochrangiges CDU-Mitglied trüge er Mitverantwortung, sobald sich herausstellen sollte, dass die Themen Zuwanderung und „Vielfalt“ – besser: Parallelgesellschaft – eine Rolle auch bei diesem Verbrechen gespielt haben. Laut Zeugenaussagen war der Täter von arabischem Aussehen. Doch Reul taugt zumindest als Pegelmesser, um zu erfahren: Wie weit ist diese Realität, die man in Bad Oeynhausen und Mannheim (im Mai und Juni), in Brokstedt (2023), noch früher in Illerkirchberg (2022) und Würzburg (2016 und 2021) erleben musste, schon in das Politikmilieu vorgedrungen?
Und nur zur Erinnerung: Auch in Reuls Wahlkreis flossen einst Spenden an die CDU aus undurchsichtigen Luxus-Schleuserkreisen. Ebenso hat die Solinger SPD „von Personen aus diesem Umfeld Spenden erhalten“. 48 illegale Aufenthaltsgenehmigungen wurden mutmaßlich von der Solinger Stadtverwaltung an Zuwanderer erteilt.
Der Minister beginnt in seiner hemdsärmeligen Rhetorik damit, dass er schon „im Kopf“ habe, „in welcher gefährlichen Lage wir leben“. Aber es ist offenbar schwer für ihn, sein inneres Lagebild „im Kopf“ mit der äußeren Lage zu verbinden, mit der konkreten Messertat von Solingen. Dieses „ganz schlimme Ereignis“ hat Reul daher „voll aus den Schuhen gehauen“.
Auf dem falschen Fuß erwischt
Reul wohnt „einmal um die Ecke“ vom Anschlagsort. Was er dort dann gesehen habe, das „bringt einen schwer ins Grübeln“, sagte Reul. Dass ein Messermörder plötzlich auf der weitgehend ungeschützten 650-Jahr-Feier einer Nachbarstadt auftauchen und genauso schnell wieder verschwinden kann, scheint noch am gestrigen Freitagabend irgendwie undenkbar für den CDU-Politiker gewesen zu sein. Die Tat in seinem nächsten Umfeld hat ihn erkennbar überrascht und auf dem falschen Fuß erwischt, ja – so darf man vermuten – erschüttert. Am Ende seines Statements gibt Reul zu, dass er es „im ersten Moment … gar nicht so richtig wahr haben“ wollte. Unglaube als erste Reaktion mag verständlich sein, in der deutschen Migrationspolitik ist er gewissermaßen auf Dauer gestellt.
„Aus dem Nichts“ sei der Täter gekommen, habe „wahllos“ mit dem Messer auf Menschen eingestochen und sie umgebracht. Die Gründe seien unklar. Man könne nichts zu Motiv oder Person sagen. Der Täter sei weiter unbekannt. „Der war ja dann auch relativ zügig weg“, fügt Reul wieder einmal etwas zu harmlos an. Zügig? So erledigt man eine gut gelungene Arbeit, nicht ein Schlachterhandwerk wie dies. Ein großes Nichts umgibt diese so konkrete Tat aus Reuls Sicht. Es ist ein schmaler Grat zwischen der Vorsicht der Ministers und der Verschleierung der Realität für die Bürger, die zudem dafür gelobt werden, wie ruhig sie den Festplatz im Herzen von Solingen verlassen haben.
Musste es unbedingt die „Klingenstadt“ Solingen treffen? Und musste es unbedingt auf einem „Festival der Vielfalt geschehen? Das sind schon zwei Fragen, die sich nach dem Geschehen vom Freitagabend stellen. Des weiteren: Warum geschah es kurz vor Landtagswahlen in drei Bundesländern? All diese Fragen darf man stellen und muss sie dann sorgfältig wägen. Vielleicht tragen sie zur Aufklärung der Motive des Täters bei.
Seelsorge statt politischer Führung: Reul ohne Lust auf Konsequenzen
Reul versichert: Die nordrhein-westfälische Polizei arbeite „hochprofessionell“ und „auf Hochtouren“ an der Aufklärung. Dennoch seien drei Menschen tot und sechs schwer verletzt. Das „Allerwichtigste im Moment“ ist laut Reul – der hier in manifesten Pfarrerston verfällt –, an die betroffenen Familien zu denken, „zu hoffen, dass die Verletzten das schaffen“. Kluge Worte würden ihnen und den Angehörigen auch nicht weiterhelfen. Warum aber eigentlich nicht? Was ist gegen kluge Worte einzuwenden? Gilt nun ein Schweigegebot für Beobachter und Medien?
Die Polizei solle ihre Arbeit tun, und alle, auch und vor allem die Medien, dürften nicht spekulieren, auch nicht darüber, was passieren hätte können, wenn die Voraussetzungen für diesen Abend andere gewesen wären. Ja, Reul geht noch weiter: „In der jetzigen Lage“ habe er keine Lust, darüber nachzudenken, wie solche Vorfälle in der Zukunft verhindert werden können. Da scheinen Beobachter – wie auch der fragende Journalist – weiter zu sein. Für sie passt das Geschehnis in einen gut bekannten Ablauf, es gehört von selbst in eine Kategorie, die man bereits kennt. Und daraus folgen legitime Fragen. Sicher muss ein Innenminister seine Worte zu allen Zeiten wägen. Aber das entbindet ihn nicht von seiner vordringlichen Pflicht, für die Sicherheit der Bürger zu sorgen – auch „in dieser Lage“.
Immerhin: Ein „Anschlag“ ist die Tat auch für den Minister. Das sei zwar nur eine Arbeitshypothese, aber „das Vorgehen spricht nicht dafür, dass da einer verrückt durch die Gegend gelaufen ist“. Also nicht der Amoklauf eines Irren. In dem Fall wäre der „ja auch weitergelaufen“, hätte sich also nicht gezielt entzogen. Außerdem habe der Täter „gezielt Menschen angegriffen und auch auf die Körperteile gezielt, wo das Wirkung zeigt, und ist ja dann auch verschwunden“.
Reuls Innen-Dienst ist nur das Pflaster nach dem Desaster
Ein Reporter fragt vorsichtig: „Wann spricht man von Terror?“ Reul wiegt bedächtig den Kopf, scheint ihn zu schütteln. Ein Anschlag könne ja Terror sein, aber hier verfängt wieder das Spekulierverbot. Man wisse nur, „es war ein Mensch, ein Mann, der das gemacht hat“, aber nicht, „woher er kommt, was er gesagt hat, warum er’s gemacht hat“. Alle Varianten seien denkbar. Reul ist zuversichtlich: „Wir kriegen es schon schnell genug raus.“ Die Arbeit (der Polizei) werde am Ende erfolgreich sein. Die Polizei immerhin wird es schaffen.
Reul zur eigenen Rechtfertigung: „Wir machen in der Polizei, im Verfassungsschutz unendlich viel, um solche Taten zu verhindern.“ Das Wichtigste sei, „frühzeitig mitzubekommen, wenn sich irgendwo was zusammenbraut oder bei einem Menschen sich irgendwas verändert oder irgendeiner auffällig wird oder Taten geplant werden“. Einen Wahrsagedienst besitze er nicht, aber eine Prophezeiung macht er dann merkwürdigerweise doch: „Es wird immer solche Situationen auch weiter geben, befürchte ich.“ Taten, bei denen einer „warum auch immer“, meint, „er müsste sich heute so benehmen“.
In der Tat ist Reuls Innen-Dienst nur das Pflaster, nachdem die Wunde schon geschlagen ist. Auch die NRW-Polizeiarbeit ist nur die Schmerztablette, nachdem der blaue Fleck, die Prellung oder der Bruch schon sitzen. Und hier gilt: Im Zweifel kann so ein Mittel sogar die richtige Diagnose verhindern. Es stellt die Schmerzen ab, die dem Verletzten sagen, wo sein Problem liegt. Der Behandelte wird ein Stück weit orientierungslos und indolent. Er weiß nicht mehr, was ihm wehgetan hat und warum. Das ist das Pflaster nach dem Desaster.