Auf den ersten Blick erscheint dieser Gedanke wie ein Widerspruch, Gebet und Warten auf die Erfüllung desselben versus Arbeit und Verändern und Gestalten. Der zweite Teil könnte fast ein politisches Programm sein: Verändern durch Gestalten, Gestalten durch Verändern, klingt aktuell. Es geht Thomas von Aquin jedoch nicht darum, einen Gegensatz herzustellen, sondern beides miteinander zu verbinden, gemäß der Benediktinerregel „Ora et labora!“
Es ist einerseits das Gebet und das Vertrauen, beziehungsweise die Hoffnung auf Erfüllung, andererseits das Arbeiten, das ausschließlich dem Wohl der Allgemeinheit dient und das die Allgemeinheit zum Ziel hat. In Auslegung des Jakobusbriefes erkennt Thomas, dass es nicht reicht, nur zu beten und auf Wunder zu warten, sondern dass dem Beten auch Taten folgen müssen. Der Mensch muss selbst handeln und dieses Handeln, das Arbeiten, geschieht zur Ehre Gottes und zum Wohle der Allgemeinheit. Insofern ist Arbeiten auch eine Form des Gebetes.
Das bedeutet im Umkehrschluss, dass auch die Hilfsbedürftigen ihren Beitrag dazu leisten sollen, aus ihrer Hilfsbedürftigkeit herauszukommen. In der modernen Sozialgesetzgebung heißt dies Hilfe zur Selbsthilfe. Dass eine gerechte Entlohnung und Anerkennung aller Arbeiten erfolgt, wird vorausgesetzt. Aus diesem Subsidiaritätsprinzip ist die katholische Soziallehre entstanden, die dann später mit anderen ethischen Aussagen christlicher Konfessionen, wie zum Beispiel der Ethik des Calvinismus und der protestantischen Ethik als christliche Sozialethik zusammengefasst wird.
Auszug aus: Helga Ranis, Leichter leben mit Philosophie. Quell Verlag, Taschenbuch, 200 Seiten, 14,90 €.